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EU und der Brexit
"Man muss zu konkreten Betrachtungen kommen, was einem die EU bringt"

Nach dem Votum für den Austritt Großbritanniens aus der EU müssten die verbleibenden Staaten in den nächsten Monaten festlegen, was die EU bringe und wo es wert sei, daran weiter zu arbeiten, sagte Florian Eder, Europa-Experte des Magazins "Politico", im DLF. Es gebe verschiedene Vorstellungen davon, ob es mehr oder weniger EU geben solle.

Florian Eder im Gespräch mit Christiane Kaess | 28.06.2016
    Jean-Claude Juncker (l.) und David Cameron (r.) im Januar 2016 in Brüssel.
    Keine gemeinsame Zukunft? Cameron steht beim EU-Gipfel unter Druck. (dpa/picture alliance/Olivier Hoslet)
    Christiane Kaess: Großbritannien hat sich entschieden, das Land will raus aus der EU. Die verbliebenen 27 Mitgliedsländer müssen damit jetzt umgehen. Wird das in Zukunft mehr oder weniger EU bedeuten und wie soll man auf London reagieren, das es jetzt mit dem Austritt gar nicht mehr so eilig hat? Bundeskanzlerin Angela Merkel hat heute Vormittag eine Regierungserklärung im Bundestag abgegeben.
    Am Telefon ist jetzt Florian Eder. Er ist Journalist, ehemals Brüssel-Korrespondent für die "Welt" und heute Mitglied der Chefredaktion des Magazins "Politico". Guten Tag, Herr Eder.
    Florian Eder: Guten Tag, Frau Kaess.
    Kaess: Herr Eder, haben Sie eine Idee? Wann wird Großbritannien seinen Austritt erklären?
    Eder: Ich glaube, es deutet sich an, dass das tatsächlich nicht jetzt sofort sein wird, sondern irgendwann im Herbst, gegen Ende des Jahres, wenn es in Großbritannien eine neue Regierung gibt und wenn die neue Regierung Zeit gehabt hat, sich mit den Plänen zu beschäftigen und Pläne zu machen für den nächsten Schritt.
    "Man wird warten, bis eine neue Regierung den Austrittsantrag stellt"
    Kaess: Diese Verzögerung durch Großbritannien, die kommt ja in der EU überhaupt nicht gut an, aber die EU kann dagegen letztendlich nichts tun. Oder gibt es irgendwelche Druckmittel?
    Eder: Es gibt keine juristischen Druckmittel. Da ist der EU-Vertrag ganz klar. Dieser Artikel 50, um den es hier dauernd geht, sagt, die Initiative liegt bei dem Land, das austreten will. Wenn dieses Land die EU nicht davon in Kenntnis setzt, dass es austreten will, dann gibt es keine Chance und keine Möglichkeit, es dazu zu zwingen.
    Gleichzeitig kann man natürlich alle möglichen politischen Zwangsmittel anwenden über die Zeit, aber so wie es jetzt aussieht wird man warten, bis eine neue Regierung in Großbritannien diesen Austrittsantrag stellt, und das wird Herbst werden und danach wird erst die große Ungeduld beginnen.
    Kaess: Jetzt sagt Angela Merkel und auch andere, es wird keine informellen Verhandlungen geben, bevor Großbritannien diesen Austritt nicht erklärt hat, wird auch nicht verhandelt. Das hätte ja dann auch tatsächlich Nachteile für Großbritannien. Glauben Sie, die EU wird das einhalten?
    Eder: Jean-Claude Juncker hat heute im Europaparlament im Plenum gesagt, er hat wörtlich einen Mufti-Befehl ausgegeben an Kommissare und Generaldirektoren, der genau das zum Inhalt hat. Es wird keine informellen Gespräche geben, nicht zu 27, nicht zu 28, und auch keine bilateralen Gespräche mit Großbritannien, bevor dieser Antrag nicht da ist. Das ist, wenn Sie so wollen, das Gegenmittel, die kleine Rache der Europäer. Länger Zeit zu haben für die Verhandlungen, würde den Briten entgegenkommen. Die EU will das auf diese zwei Jahre beschränken, die der EU-Vertrag vorsieht für diese Verhandlungen, und nicht vorher anfangen einzusteigen in informelle Gespräche, in informelle Verhandlungen. Da ist die Kommission sich ganz einig mit der Bundeskanzlerin, wie wir gerade gehört haben.
    Kaess: Sie sprechen von einer kleinen Rache. Aber die Frage ist ja, wie hoch kann die EU denn den Preis treiben? Denn man will ja gleichzeitig auch gute Beziehungen weiter zu Großbritannien haben.
    Eder: Darum glaube ich, dass im Herbst die Ungeduld erst steigen wird. Bis dahin hat man sich geeinigt, wenn die Briten nicht wollen, dann lassen wir es bleiben. Es gibt aber auch keine Gespräche. Irgendwann wird man sich Gedanken machen müssen, ob die Finanzmärkte diese Instabilität so lange ertragen, ohne zu wissen, was jetzt hier Sache ist und in welcher Form man sich einigen wird und ob es weiter gute Beziehungen geben wird. Insofern ist das tatsächlich eine schwierige Frage.
    Keine richtige Idee für neues Großbritannien-Modell
    Kaess: Und welchen Preis, glauben Sie, wird die EU dann in den Verhandlungen letztendlich verlangen? Da kann man ja einiges an Blockaden auch einbauen.
    Eder: Ich weiß gar nicht, ob es um den Preis geht, den die EU verlangen wird. Keiner hat eine richtige Idee, wie dieses Modell aussehen könnte, das Großbritannien sich vorstellt, am wenigsten die Briten nach allem, was wir hören. Es gibt ein paar Modelle von assoziierten Staaten wie Norwegen. Das ist sehr teuer, sie haben eine Menge Verpflichtungen, zahlen sehr viele Beiträge, können dafür am Binnenmarkt teilnehmen, aber haben kein Stimmrecht im Rat. Es gibt ein Modell wie die Schweiz, das ist den Europäern zu kompliziert, weil es 100, 120 einzelne Verträge sind, die man mit den Schweizern ausgehandelt hat. Das hält man auch nicht für praktikabel. Also was soll es sein? Soll es eine EU-Mitgliedschaft light sein? Die gibt es nicht. Soll es ein Handelsabkommen sein, ein reines Handelsabkommen? Da ist die Lust nicht besonders groß hier. Oder soll es eine Art Assoziierung sein wie Norwegen? Das scheint sehr unattraktiv für die Briten.
    Kaess: Aber, Herr Eder, muss die EU nicht klar machen, dass der Brexit tatsächlich auch unattraktiv bleibt, damit es keine Nachahmer geben wird?
    Eder: Das hat sie vor. Das sagt Juncker, das sagt auch der Ratspräsident Donald Tusk. Sie wird darauf wert legen, dass es nicht so einfach ist, wie Boris Johnson am Wochenende und auch am Montag gesagt hat, der sich anschickt, Premierminister zu werden und der sich eine Lösung vorstellt, die im Grunde alle Rechte, aber keine Pflichten umfasst. Da kann ich mir nicht vorstellen, dass die EU besonders erpicht darauf ist, darauf einzugehen.
    Kaess: Sie haben das Beispiel von der Schweiz genannt. Ist es vorstellbar oder ist es möglich, dass es letztendlich dazu kommen wird, dass Großbritannien alle Vorteile, aber keine Verpflichtungen bekommt und dann doch im Endergebnis wirtschaftlich ganz gut ohne die EU leben kann, wie das ja zum Beispiel bei der Schweiz auch der Fall ist?
    Eder: Bei der Schweiz ist es auch so, dass die Geld dafür zahlt, dass sie einige der Vorteile hat. Man wird einen Preis dafür verlangen und der Preis wird sich in Geld bemessen lassen. Ich kann mir wie gesagt nicht vorstellen, dass es jemand gibt, der Großbritannien alles geben will oder alles lassen will, was es heute hat, ohne dass es bei den Verpflichtungen eine entsprechende Balance gibt.
    Kaess: Dann schauen wir auf den Rest der EU. Wie soll die restliche EU weitermachen ohne Großbritannien? Es ist ja jetzt die Frage, ob es ein Mehr an EU oder ein Weniger an EU geben soll. Was, glauben Sie, wird sich durchsetzen?
    Eder: Das ist eine große Frage. Mehr oder weniger EU trifft es wahrscheinlich nicht richtig, auch wenn die Schlagworte genauso gebracht werden aus verschiedenen Mitgliedsstaaten. Wir sehen schon, dass sich einige zusammentun wie Deutschland, Frankreich, Italien, dieses Treffen gestern in Berlin, dass sich am Wochenende gleich die Gründungsstaaten getroffen haben und dass sich gestern aber auch ganz Osteuropa in Polen getroffen hat, die verschiedene Ideen und verschiedene Vorstellungen davon haben, ob es mehr oder weniger EU geben soll. Am Ende wird man sich hinsetzen müssen und gucken, ist das ein besseres Europa oder ein schlechteres. Juncker hat heute Früh im Parlament gesagt, was wollen Sie denn mit weniger EU. Wir haben hier eine Energieunion angestoßen, um die Abhängigkeit von ganz Europa von russischem Gas und Erdöl zu verringern. Sollen wir das aufhören und rausgehen? Es gibt noch weitere dieser Beispiele. Ich glaube, dass man in den nächsten Monaten zu einer sehr konkreten Betrachtung kommen muss, was einem die EU bringt, was die EU allen bringt und wo es wert ist, daran weiter zu arbeiten und wo nicht. Dass das dann am Ende irgendwo zwischen mehr und weniger Europa sein wird, glaube ich auch.
    "Die Kommission hat ja schon angefangen, sozusagen weniger EU zu machen"
    Kaess: Das würde dann bedeuten ein Mehr an Europa in einigen Kernbereichen und ein Weniger an der EU in vielen anderen Dingen.
    Eder: So, glaube ich, kann man es sehr gut auf einen Punkt bringen. Die Kommission hat ja schon angefangen, sozusagen weniger EU zu machen und weniger EU zu fordern in den Bereichen, die den Leuten so aufgestoßen sind. Ich glaube, dass sich das noch mit größerer Dynamik fortsetzen wird, dass es aber einige Kernbereiche geben wird, wo es auch durchaus noch mehr EU geben wird. Das hören wir aus einzelnen Mitgliedsstaaten und aus einem Verbund von Mitgliedsstaaten, aus dem Papier des deutschen und des französischen Außenministers, die stärkeren Zusammenhalt in der Außen- und Sicherheitspolitik fordern, die eine Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion fordern und vieles mehr. Das sind Modelle, über die man in den kommenden Monaten diskutieren wird und wahrscheinlich hart und mit Lust an der Auseinandersetzung diskutieren wird.
    Kaess: Da sind jetzt einige Ideen tatsächlich auf dem Tisch. Sie haben ein paar angesprochen. Aber sind das tatsächlich zündende Ideen, die auch die Menschen mitreißen können?
    Eder: Da bin ich überfragt, ob es zündende Ideen sind, die Menschen mitreißen können. Ich bin nicht ganz sicher, ob nicht viele Menschen sich fragen, ob wir eine Debatte über die EU wollen, wie sie in Großbritannien stattgefunden hat, die eine sehr emotionale Debatte war, um nicht zu sagen eine, die sich sehr weit von den Fakten entfernt hat über die ganze Zeit. Wenn es den Leuten gelingt, die mehr EU wollen, oder die die EU bewahren wollen, zu sagen, ihr müsst mal auf die Fakten gucken, was bringt uns das, das bringt uns nichts, dann wäre schon einiges gewonnen in der Debattenkultur, würde ich sagen.
    Kaess: … sagt Florian Eder. Er ist Europaexperte des Magazins "Politico". Danke schön!
    Eder: Aber gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.