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EU-Wettbewerbskommissarin Vestager
"Steuergelder sollten da landen, wo Unternehmen ihr Geschäft betreiben"

EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager hat sich für neue weltweite Steuerregeln ausgesprochen. Dass die USA jüngst einen Mindeststeuersatz von 15 Prozent vorgeschlagen haben, sei „ein großer Schritt nach vorne, wenn es um Steuergerechtigkeit geht“, sagte sie im Dlf.

Margrethe Vestager im Gespräch mit Christoph Sterz |
EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager im EU-Parlament am 18. Mai 2021
Was in der analogen Welt illegal sei, müsse es auch in der digitalen Welt sein, sagte Margrethe Vestager, Wettbewerbs-Kommissarin und Vizepräsidentin der EU-Kommission, im Dlf (AFP / POOL / Francisco Seco)
Die Marktmacht der großen Tech-Unternehmen Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft muss begrenzt werden, bevor es zu spät ist, davon sind immer mehr Politikerinnen und Politiker überzeugt. Die Dänin Margrethe Vestager, Wettbewerbs-Kommissarin und Vizepräsidentin der EU-Kommission, ist eine der wichtigsten Politikerinnen in diesem Bereich.
Hören Sie hier das Interview im englischen Original
Im Deutschlandfunk begrüßt sie den Vorschlag eines globalen Mindeststeuersatzes von 15 Prozent aus den USA als "echten Fortschritt". Vestager sprach sich dafür aus, beim Thema Steuern innerhalb der OECD und auch innerhalb der EU "Druck zu machen, damit die Steuergelder auch wirklich da landen, wo Unternehmen ihr Geschäft betreiben."
Bürgerinnen und Bürger empfänden es als ungerecht, wenn Unternehmen wie Apple und Amazon kaum Steuern zahlten und "nichts beitragen zur Gesellschaft", sagte sie im Dlf.
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Im Steuerstreit mit dem Versandhändler Amazon kündigte Vestager an, einen Einspruch prüfen zu wollen. Das Gericht der Europäischen Union (EuG) hatte dem Unternehmen vor kurzem rund um eine von der EU-Kommission angeordnete Steuernachzahlung Recht gegeben. Auch wenn EU-Mitglieder wie Irland, Luxemburg oder die Niederlande von niedrigen Steuern profitierten, herrsche Einigkeit darüber, "dass wir in Europa einen Wettlauf um Subventionen vermeiden wollen", so Vestager. Irland und Luxemburg hätten ihre Gesetze bereits entsprechend geändert.

Digitalgesetze möglich "vor Ende nächsten Jahres"

Die stellvertretende EU-Kommissionspräsidentin betonte außerdem die Bedeutung eines digitalen EU-Binnenmarkts. Vestager sprach davon, dass es zum geplanten Digitale-Dienste-Gesetz und zum Digitale-Märkte-Gesetz "im besten Fall" im Rat der Europäischen Union und im EU-Parlamet "bis zum nächsten Frühjahr" eine Einigung geben könne.
Vestager will damit die Monopolstellung der Tech-Giganten beschränken und anderen Unternehmen ebenfalls den Zugang zum Markt ermöglichen. Das sei auch im Interesse der Verbraucherinnen und Verbraucher. "Dann könnten Sie auf Ihrem Handy einen zweiten App-Store haben", so Vestager. Mit einem "einheitlichen Regelwerk fürs Digitale" solle aber auch für Ordnung gesorgt werden. Privaten Unternehmen dürfe die Entscheidung darüber, was legal ist, nicht überlassen werden. Es brauche dafür "unabhängige Gremien".
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An einem Verbot automatischer Upload-Filter hält Vestager in dem Zusammenhang fest. Stattdessen müsse man einen "beschwerlicheren Weg gehen", etwa mit sogenannten Trusted Flaggers – vertrauenswürdigen Organisationen oder Personen, die unangemessene Inhalte melden können", so Vestager. "Wenn wir weiter freie Meinungsäußerung garantieren wollen, dann ist das der richtige Weg."
Die geplanten Gesetze würden "sofort für alle Mitgliedsstaaten gelten" und müssten nicht noch in nationale Gesetze umgesetzt werden.

"Zerschlagen ist etwas, das wir tun können"

Dieses Vorgehen sei zielführender, als beispielsweise Facebook zu zerschlagen. Diese Maßnahme schloss Vestager dennoch nicht aus. "Zerschlagen ist etwas, das wir tun können. Das bewegt sich im Rahmen der europäischen Gesetzgebung", so Vestager. Bei den geplanten Gesetzen ziele die EU darauf ab, gleichzeitig Meinungsfreiheit und Rechtsdurchsetzung zu ermöglichen. "Was im Analogen illegal ist, wird dann auch im Digitalen illegal sein", so Vestager.

Das Interview in voller Länge:
Christoph Sterz: Um das direkt am Anfang zu klären: Was ist Ihr Problem mit Google, Facebook und den anderen Tech-Giganten?
Margrethe Vestager: Ich habe kein Problem mit den Unternehmen an sich. Aber ich habe ein Problem mit ihrem Verhalten. Mit der Tatsache, dass sich der Markt schließt, dass andere Unternehmen möglicherweise keine faire Chance haben, potenzielle Kunden zu erreichen. Und das schränkt Innovationen ein.
Und wenn Sie sich die Skandale ansehen, die wir zum Beispiel bei Facebook Analytica hatten, dann habe ich auch Bedenken hinsichtlich der Entwicklung unserer Demokratie. Wir müssen sicherstellen, dass jede und jeder eine Stimme hat und dass Menschen nicht manipuliert und zu etwas gebracht werden, das sie mit gründlichem Nachdenken nicht gemacht hätten.
Sterz: Aber sind diese Unternehmen nicht ganz einfach so erfolgreich wegen der hohen Qualität ihrer Produkte?
Vestager: Ja, ich denke, das ist einer der wichtigsten Gründe, dass Verbraucher ihre Produkte wirklich gut finden. Es kann aber auch sein, dass wir bisher daran gescheitert sind, einen Markt zu haben, der genauso fruchtbar ist wie zum Beispiel der US-amerikanische Markt. Die US-Amerikaner haben einen digitalen Binnenmarkt geschaffen, mit nur zwei Sprachen, Englisch und Spanisch. Und sie haben einen starken Kapitalmarkt, sodass neue Unternehmen an Geld kommen und wachsen können. Und das kombiniert mit Qualität, mit guten Produkten, hilft dabei, riesige Unternehmen entstehen zu lassen. Wissen Sie: Ich weiß noch genau, wie das früher war, im Internet etwas zu finden, bevor es Suchmaschinen gab. Das war wirklich mühsam.

EU-Gericht hat Steuernachzahlungsforderung kassiert

Sterz: Aber die Sache ist doch, dass ich einzig und allein Google benutze als Suchmaschine, oder dass ich auf Facebook bin und bei Instagram; und ich habe gesehen, dass Sie selbst auch zum Beispiel bei Instagram sind. Das heißt: Ich gehe mal davon aus, dass Sie die jetzt nicht komplett stoppen wollen, oder?
Vestager: Nein, das habe ich nicht vor. Ich denke nicht, dass wir das tun sollten. Diese Unternehmen sind erfolgreich und sie sind mächtig geworden. Aber mit Macht kommt auch Verantwortung. Und wir sollten sicherstellen, dass diese Verantwortung auch gelebt wird. Sonst besteht das Risiko, dass andere Unternehmen keine Chance haben, weil sie ihre Kunden nicht erreichen können – und sie niemand dabei unterstützt, in Innovationen zu investieren. Und das wäre am Ende auch schlecht für uns Kundinnen und Bürger.
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13 Milliarden Euro sollte Apple an die irische Staatskasse überweisen. Doch der Konzern hat sich erfolgreich vor Gericht dagegen gewehrt. Das Urteil ist auch eine harte Niederlage für die EU-Wettbewerbskommissarin Margarete Vestager.
Sterz: Lassen Sie uns konkret über mögliche Maßnahmen sprechen; und beginnen wir mit Steuern. Denn Unternehmen wie Apple oder Amazon zahlen immer noch sehr niedrige Steuern, und zwar auch in europäischen Ländern wie Irland und Luxemburg. Deshalb haben Sie Apple gezwungen, an Irland 13 Milliarden Euro Steuergeld nachzuzahlen, und Amazon, 250 Millionen Euro an Luxemburg zu zahlen. Aber das erstinstanzliche Gericht der EU hat beide Entscheidungen einkassiert. Scheint also so zu sein, dass Sie mit Ihrer Strategie nicht wirklich erfolgreich sind.
Vestager: Vorneweg gesagt war immer klar, dass es nicht allein in meiner Hand liegt, echte Steuergerechtigkeit zu bekommen. Dafür brauchen wir neue Gesetze. Und nun zu den Fällen an sich: Wir haben Einspruch eingelegt im Fall von Apple, und wir überlegen das auch bei Amazon tun. Das Gute ist, dass in allen Fällen das Gericht ganz klar gesagt hat, dass wir so vorgehen können, wie wir vorgehen – auch wenn sie mit anderen Dingen nicht einverstanden waren. Aber bei den grundsätzlichen Punkten haben sie uns Recht gegeben.

"In Europa einen Wettlauf um Subventionen vermeiden"

Sterz: Aber was ist zum Beispiel mit Luxemburg oder Irland oder den Niederlanden, die niedrige Steuern haben – und davon profitieren. Kann es da nicht passieren, dass Ihr Vorgehen selbst innerhalb der EU nicht wirklich willkommen ist?
Vestager: Aber darum geht es hier gar nicht wirklich. Wir heißen doch alle gut, worauf wir uns alle vor Jahrzehnten geeinigt haben: Nämlich darauf, dass wir in Europa einen Wettlauf um Subventionen vermeiden wollen – damit wir die Kontrolle behalten, damit der Handel keinen Schaden nimmt, damit wir nicht jemandem selektiv Vorteile geben, die anderen nicht zur Verfügung stehen. Und damit sind alle einverstanden – auch Luxemburg, Irland und die Niederlande. Und deshalb wenden wir uns auch gegen ausländische Subventionen, wenn sie in die Europäische Union kommen und den Handel behindern und jemandem einen Vorteil verschaffen, den andere nicht bekommen.
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Staaten unterbieten sich bei der Besteuerung von Unternehmen. Viele Weltkonzerne zahlen deshalb kaum Abgaben. Um das zu ändern, forderte Finanzminister Olaf Scholz einst eine globale Mindeststeuer für Unternehmen. Die US-Regierung greift die Idee nun auf.
Sterz: Aber was, wenn das alles legal ist – wenn also alle Gerichte sagen, dass das wirklich okay so ist: Wie verhalten Sie sich dann?
Vestager: Wir arbeiten daran schon seit einiger Zeit – und wir fokussieren uns dabei aufs Grundsätzliche. Und einige Mitgliedsstaaten haben ihre Gesetze auch schon entsprechend verändert. In Irland zum Beispiel ist ein bestimmter Steuerspar-Trick nicht mehr möglich, der sogenannte "Double Irish". Und in Luxemburg gibt es die Steuervorteile nicht mehr, die zum Beispiel der Autokonzern Fiat genutzt hat. Aber das Wichtigste ist natürlich, einen globalen Konsens hinzubekommen bei diesem Thema. Und dadurch, dass sich die Position der USA dazu gerade verändert hat, könnten wir das tatsächlich schaffen, im Rahmen der OECD. Das wäre ein großer Schritt nach vorne, wenn es um Steuergerechtigkeit geht.

US-Vorschlag für globale Unternehmenssteuer "echter Fortschritt"

Sterz: Sie haben gerade schon die USA erwähnt. Die USA hat gerade 15 Prozent als globalen Mindeststeuersatz vorgeschlagen. Und die Unternehmen sollen außerdem nicht nur Steuern zahlen, wo sie ihren Hauptsitz haben, sondern auch da, wo sie zum Beispiel Produkte verkaufen. Finden Sie diese Vorschläge gut?
Vestager: Ich denke, das ist ein echter Fortschritt. Wir haben ja selbst in Europa Unternehmenssteuern, die zum Teil unter 15 Prozent liegen. Und wir sind uns auch nicht einig darüber, was genau besteuert wird. Das ist genauso wichtig wie die Höhe der Besteuerung. Denn wenn Sie zwar hohe Steuern haben, aber nur sehr wenig besteuern, dann kommt dabei am Ende auch nur relativ wenig Geld zusammen – Geld, das Sie für die ganze Gesellschaft benötigen - um Straßen instand zu halten, um in Bildung investieren zu können, damit Menschen ins Krankenhaus gehen können. Die ganze Infrastruktur, alles, was eine Gesellschaft braucht – und was auch Unternehmen brauchen, um in einem Land überhaupt vernünftig arbeiten zu können.
Die große Mehrheit der Unternehmen zahlt ihre Steuern. Und sie arbeiten sehr hart dafür. Sie arbeiten sehr hart für ihre Gewinne. Aber gleichzeitig müssen sie sich immer noch anschauen, wie manche ihrer Wettbewerber alles tun, um möglichst geringe Steuern zu zahlen. Und deshalb sollten wir hier weiter Druck machen, innerhalb der OECD, bei den Beihilfen der EU, aber natürlich auch in jedem einzelnen Mitgliedsstaat der EU, damit die Steuergelder auch wirklich da landen, wo Unternehmen ihr Geschäft betreiben.

Bürger finden es ungerecht, "wenn Unternehmen keine Steuern zahlen"

Sterz: Aber glauben Sie nicht, dass große Unternehmen wie die großen Tech-Konzerne immer einen Weg finden werden, um zum Beispiel niedrige Steuern zu zahlen?
Vestager: Das hängt sehr von uns ab. Steuervermeidung ist ja nichts Neues. Da gibt es diese berühmte Aussage eines US-Präsidenten, der sagt, dass zwei Dinge unvermeidlich sind: Tod und Steuern. Ich würde da noch Steuervermeidung hinzufügen. Da scheinen wir gar nicht drum herum zu kommen. Ich denke, wir müssen ganz einfach weiter kämpfen für Steuergerechtigkeit. Schritt für Schritt. Für meinen Geschmack etwas zu langsam, aber Schritt für Schritt werden wir das schaffen. Denn unter den Bürgerinnen und Bürger gibt es ein grundlegendes Ungerechtigkeits-Gefühl, wenn Unternehmen, in denen sie selbst arbeiten, ihre Steuern zahlen – und gleichzeitig andere Unternehmen nichts beitragen zur Gesellschaft.
Sterz: Und um die Marktmacht der Tech-Giganten zu beschränken, gibt es neben den Steuern natürlich auch noch andere Methoden. Sie haben im vergangenen Dezember zwei Gesetzesinitiativen vorgelegt; das Digitale-Dienste-Gesetz und das Digitale-Märkte-Gesetz. Beide Vorschläge sind ziemlich komplex. Deshalb: Wenn diese beiden Gesetze schon in Kraft wären – wie würde ich das als ganz normaler User bemerken?
Vestager: Ein Beispiel: Wenn Sie auf Ihrem Smartphone unzufrieden sind mit Ihrem App-Store, weil Sie denken, dass das alles ein bisschen teuer ist und Ihnen die Auswahl der Apps nicht gefällt und Sie sagen: Ich hätte gerne günstigere Apps oder ich hätte gerne Apps mit datenschutzfreundlichen Voreinstellungen, dann könnten Sie auf Ihrem Handy einen zweiten App-Store haben, wie im echten Leben. Wenn ich, beispielsweise hier in Belgien, nicht zufrieden bin mit den Preisen bei den Supermärkten von Delhaize, dann kann ich zu Carrefour gehen. Im Digitalen, bei den App-Stores funktioniert das aktuell aber so nicht.
Ein anderes Beispiel, und das bezieht sich jetzt auf das Digitale-Dienste-Gesetz: Wenn Sie etwas geschrieben haben und Sie wissen, dass sich das möglicherweise an der Grenze bewegt zwischen Legalem und Illegalem – und es dann aus dem Netz genommen wird, dann könnten Sie sich beschweren. Sie könnten sagen: Vielleicht gefällt Ihnen nicht, was ich da schreibe, aber es nicht illegal. Und gleichzeitig hätten Sie einen Raum, in dem sich das volle Meinungsspektrum widerfindet – wo aber tatsächlich illegale Inhalte konsequent gelöscht werden, Gewaltverherrlichung etwa oder sexuelle Gewalt gegen Kinder. Und das ist auch wichtig, dass wir für Ordnung sorgen, um Dinge zu entfernen, die wir alle auch schon in der analogen Welt als illegal betrachten.

"Einen zweiten App-Store auf dem Handy"

Sterz: Wie wollen Sie das genau kontrollieren, dass zum Beispiel Google in seinem Smartphone-Betriebssystem Android nicht nur Google Maps anbietet, sondern auch Dienste, die nicht aus dem eigenen Haus sind? Wie wollen Sie sicherstellen, dass sich Google auch wirklich an die potentiellen neuen Regeln hält?
Vestager: Erstmal achten wir natürlich auch jetzt schon auf die Einhaltung der Wettbewerbsgesetze. Aber an dieser Stelle ist es auch wichtig, dass wir hier zum Beispiel auch mit nationalen Wettbewerbsbehörden zusammenarbeiten, etwa dem deutschen Bundeskartellamt, das auf dem Gebiet jetzt schon sehr aktiv ist. Es wird einiges an Durchsetzungskraft brauchen – und ich habe schon vor Jahren gelernt, dass Gesetze nur gut sind, wenn sie im echten Leben auch angewandt und durchgesetzt werden können.
Sterz: Lassen Sie uns mal über Desinformation und Propaganda reden. So etwas gibt es in Deutschland und in anderen Ländern auch häufig in Chats bei Messengern wie Telegram oder WhatsApp. Werden diese Dienste auch reguliert durch die neuen Gesetze?
Vestager: Solche Plattformen werden auch reguliert, aber das muss natürlich im Einklang sein mit dem Briefgeheimnis, mit dem Recht auf vertrauliche Kommunikation. Hier müssen wir besonders vorsichtig sein, nicht zu weit zu gehen. Denn ein Wesensmerkmal von Demokratien ist natürlich die Rede- und Meinungsfreiheit. Denn auch wenn wir über lange, lange Diskussionen in der Offline-Welt gemeinsam vereinbart haben, was illegal ist – so gibt es auch Dinge, die vielleicht verletzend sind, aber trotzdem noch nicht illegal sind. Und dieses Gleichgewicht müssen wir beibehalten.

Private Unternehmen können nicht entscheiden, was legal ist

Sterz: Und wer wird im Digitalen entscheiden, was legal und was illegal ist? Werden das die Plattformen selber machen, so wie im Moment?
Vestager: Nein. In Zukunft sollte es dafür unabhängige Gremien geben. Natürlich legen die großen Plattformen eigene Regeln und Bedingungen fest. Aber es kann nicht sein, dass es allein private Unternehmen sind, die entscheiden, ob sich etwas noch im legalen Rahmen bewegt. Das ist auch zum Teil wirklich sehr schwer zu entscheiden. In vielen europäischen Staaten ist zum Beispiel Hassrede illegal – aber manchmal braucht es dafür auch erst eine Beurteilung, um genau sagen zu können, ob ein ganz spezifischer Inhalt wirklich illegal ist oder nur schmerzhaft.
Eine Pappfigur von Bernie Sanders auf der Ladefläche eines Trucks im Januar 2021 in Chicago
Kabinettsbeschluss zu Upload-Filtern
Memes, Parodien, Karaoke – das geplante Urheberrechts-Gesetz regelt den Umgang mit geschützten Inhalten im Netz neu. Wir erklären, was sich für die Nutzerinnen und Nutzer sozialer Netzwerke ändern soll.
Sterz: Und wie wollen Sie Overblocking vermeiden, dass die Plattformen also mehr Posts, mehr Videos entfernen als unbedingt nötig?
Vestager: Wir werden vor allem am Verbot automatischer Filter festhalten – und einen beschwerlicheren Weg gehen, zum Beispiel mit Trusted Flaggers, also vertrauenswürdigen Organisationen oder Personen, die unangemessene Inhalte melden können – oder mit der Möglichkeit, sich beschweren zu können. Uns ist klar, dass das viel mehr Ressourcen bindet und Zeit kostet als automatische Filter. Aber wenn wir weiter freie Meinungsäußerung garantieren wollen, dann ist das der richtige Weg. Wir denken, dass es das wert ist, mehr Ressourcen und mehr Zeit zu investieren, um eine Demokratie zu haben, von der wir sagen können, dass Meinungsfreiheit in jedem Fall geschützt wird.

"Am Verbot automatischer Filter festhalten"

Sterz: Aber es gibt so viel Inhalt, so viele Videos zum Beispiel bei YouTube, die in jeder einzelnen Sekunde hochgeladen werden. Ist es da wirklich eine Option, keine automatischen Filter zu verwenden?
Vestager: Ich denke, wir brauchen technische Hilfsmittel, so wie das ja jetzt auch schon passiert. Aber dabei geht es nicht um Upload-Filter. Und das Wichtigste hier ist natürlich, dass Sie benachrichtigt werden. Dass, wenn ein Post von Ihnen entfernt wurde, Sie bestimmte Rechte haben. Denn etwas, über das sich die Leute wirklich oft beschwert haben und beunruhigt sind, ist, dass Sie nicht wissen, an wen Sie sich wenden sollen. Es gibt keine E-Mail-Adresse, da ist niemand, den Sie anrufen können, niemand, dem Sie eine Nachricht senden können, wenn Sie mit einer Entscheidung der Plattformen nicht einverstanden sind. Und das ist natürlich eine wirklich wichtige Sache für die Bürger, aber auch für die Behörden, um sagen zu können: Das war richtig, und das begrüße ich – oder das war falsch und ich möchte mich darüber beschweren.
Sterz: Aber was ist der Unterschied zwischen Upload-Filtern und den Filtern, die Sie erwähnt haben? Ist das nicht dasselbe?
Vestager: Tatsächlich nicht. Bestimmte Algorithmen, bestimmte Technologien sind hilfreich und nötig. Aber das ist eine andere Methode als zu sagen, dass Sie etwas nicht hochladen können, weil ein Filter dies als illegal ansieht. Sondern der Inhalt wird hochgeladen und erst dann mit verschiedenen Verfahren beurteilt, ob er im Netz bleiben darf oder nicht. Ich denke, dass das eine Frage des Prinzips ist, das grundsätzlich einen großen Unterschied macht.

"Weiterhin Wettbewerbsrecht durchsetzen"

Sterz: Lassen Sie uns noch etwas mehr über das Digitale-Märkte Gesetz sprechen. Das ist nur für große Unternehmen gedacht, für Gatekeeper wie Facebook oder Google. Was werden da die wichtigsten Regeln für die großen Tech-Firmen sein?
Vestager: Ich denke, das Wichtigste ist, dass sie eine ganze Reihe von Kriterien erfüllen müssen, die sich gegenseitig verstärken. Zum Beispiel, dass sie Daten teilen müssen mit anderen Unternehmen, oder dass Sie auf dem Smartphone andere App-Stores zulassen müssen. Oder das Verbot, sich auf andere Märkte auszudehnen, auf denen sie nur Fuß fassen können wegen ihrer Größe oder weil sie auf einem großen Datenberg sitzen. Die Kombination aus Verboten und Verpflichtungen kann dafür sorgen, dass sich die Märkte öffnen für die vielen Unternehmen, die es da draußen gibt – und die uns Verbraucherinnen liebend gerne ihre Produkte anbieten würden.
Sterz: Das Problem mit Facebook, Google und so weiter ist doch immer – zumindest habe ich das Gefühl - dass es auch jetzt schon viele Regeln gibt, dass sie aber trotzdem mehr oder weniger machen, was sie wollen. Wie wollen Sie sicherstellen, dass das diesmal anders ist?
Vestager: Ich denke, es gibt ein grundlegendes Problem, das auch nicht neu ist und dass es nicht erst seit der Digitalisierung gibt. Es ist einfach so, dass bei manchen ein Teil der Kreativität darin fließt, Schlupflöcher zu finden. Deswegen glaube ich nicht, dass wir mit dem Digitale-Märkte-Gesetz und dem Digitale-Dienste-Gesetz die Diskussion darüber beenden werden, wie sich große Unternehmen verhalten gegenüber anderen Unternehmen oder ihren Kunden. Aber ich denke, dass wir wirklich wichtige Schritte unternommen haben. Denn was im Analogen illegal ist, wird dann auch im Digitalen illegal sein. Und dazu wird es klare Regeln geben und klare Verfahren. Davon unabhängig wird es darauf ankommen, dass wir weiterhin Wettbewerbsrecht durchsetzen. Weil ich nicht denke, dass Ungerechtigkeit mit diesen beiden Gesetzen endet. Aber ich denke, dass wir viel erreicht haben mit einem einheitlichen Regelwerk fürs Digitale.

Neue Digital-Gesetze würden für alle Mitglieder gelten

Sterz: Lassen Sie uns zum Ende des Interviews noch einen kurzen Ausblick wagen: Wann werden alle diese Regeln in Kraft sein? In zwei Jahren? In fünf? Oder in zehn?
Vestager: Das bin ich vor kurzem auch von einem Mitglied des Europäischen Parlaments gefragt worden – weil ich gesagt habe, dass wir schnelle Ergebnisse brauchen. Er sagte, dass es aber doch auch wichtig sei, eine wirklich gute, gründliche Gesetzgebung zu bekommen. Da habe ich geantwortet: Na klar, aber können wir nicht beides gleichzeitig machen? Das wäre wirklich großartig: Denn es geht ja um Vorschriften, die sofort für alle Mitgliedsstaaten gelten werden, die also nicht noch extra in nationale Gesetze umgesetzt werden müssen. Und im besten Fall könnten wir im Rat der Europäischen Union und im Parlament bis zum nächsten Frühjahr eine Einigung hinbekommen. Dann würden diese Vorschriften schon vor Ende nächsten Jahres in Kraft treten. Da würde die Demokratie mal wirklich Zähne zeigen, um sicherzustellen, dass Technologie uns Menschen dient und dass der Markt uns Verbraucherinnen nützt. Wir sollten hier wirklich Stärke zeigen, weil wir gegen etwas Großes antreten.
Sterz: Aber glauben Sie wirklich, dass das so schnell passiert? Wenn es ums Parlament geht und um die Mitgliedsstaaten – dann braucht das doch immer Zeit.
Vestager: Ja, das stimmt. Aber für die portugiesische Ratspräsidentschaft hat das Thema schon Priorität – und bei der nächsten Ratspräsidentschaft wird das auch so sein. Ich glaube, dass viele Menschen genau wie ich das Gefühl haben, dass es schnell gehen muss, dass unsere europäische Demokratie etwas liefern muss, sodass die Menschen sagen: Okay, super, ich habe immer noch denselben Zugang zu Qualität, aber mir werden auch neue Sachen angeboten von anderen Unternehmen. Produkte, die mir die großen Player nicht angezeigt hätten – und bei denen ich mich gleichzeitig darauf verlassen kann, dass sie sicher sind. Ich denke, viele Leute wollen, dass das passiert. Und das ist doch sehr ermutigend für unsere Demokratie und ein Ansporn, nicht nur schnell zu arbeiten, sondern auch gründlich.
Menlo Park, 25. April 2017 - Facebook Inc. Firmensitz in Menlo Park, Kalifornien
So will Facebook sich selbst regulieren
Die Sperrung der Auftritte Donald Trumps bei Facebook und Instagram kam für viele reichlich spät. Es gab aber auch Zweifel an der Entscheidung. Mit seinem neuen Kontrollgremium "Oversight Board" will Facebook den Fall noch einmal prüfen. Was ist davon zu erwarten?

Facebook: "Zerschlagen ist etwas, was wir tun können"

Sterz: Wenn es diese neuen Regeln dann also tatsächlich geben wird innerhalb von ein oder zwei Jahren: Könnte es dann auch passieren, dass Sie zum Beispiel Facebook zerschlagen in den nächsten Jahren?
Vestager: Zerschlagen ist etwas, was wir tun können. Das bewegt sich im Rahmen der europäischen Gesetzgebung, setzt aber voraus, dass sie etwas getan haben, das ausreichend schlecht, ausreichend illegal ist. Weil das ja wirklich sehr weitreichend ist, ein Unternehmen zu zerschlagen. Etwas, das bisher noch nicht passiert ist. Das Zweite, was man im Hinterkopf haben sollte, ist die Frage, was wir erreichen wollen. Und wir haben uns jetzt entschieden, zu sagen: Wir werden den großen Unternehmen Verpflichtungen auferlegen und ihnen auch bestimmte Dinge verbieten. Und wir wollen, dass diese Regeln in Kraft treten, wie Sie sagen, in ein oder zwei Jahren, anstatt eine Auseinandersetzung zu suchen, die uns vor Gericht führen würde, wahrscheinlich für eine sehr, sehr lange Zeit; ohne wirklich zu wissen, was dabei herauskommt. Während wir gleichzeitig nicht die Möglichkeit haben, den digitalen Markt zu öffnen und dafür zu sorgen, dass unsere Diskussionen im Digitalen sich genauso im Rahmen des Erlaubten bewegen wie in der analogen Welt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.