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Europa in der Krise
Appell an eine rationale Moral

Demokratiedefizit, Schuldenproblematik, Rechtspopulismus: Der Soziologe Claus Offe widmet sich in seinem Buch "Europa in der Falle" der ganzen Bandbreite der europäischen Krise. Die auferzwungene Einheitswährung für ungleiche Ökonomien ist für ihn einer der Hauptfehler der europäischen Währungsunion.

Von Hubert Martin | 06.06.2016
    Eine spanische Euromünze liegt auf der Seite eines Atlasses auf Spanien.
    Die Krise der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ist für den Soziologen Claus Offe im Kern die Krise eines neoliberalen Projekts. (imago/nordpool/Martin Ziemer)
    Hat sich Claus Offe da selbst eine Falle gestellt? Denn eigentlich ist er ja nicht als Europagegner bekannt. Kann er aber in einem Buch mit diesem Titel etwas anderes bewirken, als die Resignation über das "Projekt Europa" voranzutreiben? Soviel vorneweg: Eine Europautopie offeriert das Buch tatsächlich nicht, aber die Lektüre macht keineswegs depressiv. Auch wenn der 76-jährige Soziologe den Leser rasch mit einer ernüchternden Definition einer "Falle" konfrontiert.
    "Eine Falle lässt sich als eine Situation definieren, die für jene, die darin gefangen sind, unerträglich ist, während gleichzeitig jeder Rück- und Ausweg blockiert ist, weil es an den erforderlichen Kräften und Akteuren fehlt."
    "Die Argumente für eine gemeinsame Währung basierten auf der Erwartung, dass die Währungsunion das Wirtschaftswachstum stärken werde. Eine gemeinsame Währung werde den grenzüberschreitenden Handel in der Europazone kalkulierbarer machen und damit den Wettbewerb sowie die Arbeitsteilung zwischen den Mitgliedstaaten fördern. Zudem würde sie die Mitgliedstaaten dazu zwingen, die Staatsausgaben und Arbeitskosten im eigenen Land in dem Fall abzusenken, dass ein Land mangels ausreichender internationaler Wettbewerbsfähigkeit zu Korrekturen greifen muss."
    Krise eines neoliberalen Projekts
    Die europäische Wirtschafts-und Währungsunion war für Offe nicht nur ein "Konstruktionsfehler". Sie war auch das Produkt einer Strategie, wirtschaftliche Ungleichheit durch reine Wettbewerbs-und Austeritätspolitik beheben zu wollen. Brisant ist das für Offe deshalb, weil es mit einem krisenhaften ökonomischen Wandel einherging: weg von der Realwirtschaft hin zur Dominanz der Finanzmärkte, die auf lockerer Geldpolitik basierte. Die Krise der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ist für Offe daher im Kern die Krise eines neoliberalen Projekts. Als voll auf den Markt gesetzt wurde, fiel er als Problemlöser aus.
    "Nur fanatische Marktideologen glauben noch an einen "automatischen" Ausgleich sozioökonomischer Ungleichheiten zwischen den Regionen und Staaten in Europa und an spontane Konvergenz, sei es durch Lohn-und Preissenkungen in den ärmeren Teilen der Währungszone, sei es durch Arbeitsemigration in die prosperierenden Länder und Regionen."
    Offe spielt die Lösungsansätze durch, die nun seit einigen Jahren kursieren. Der um sich greifenden Idee, den Euroraum aufzugeben, können seiner Meinung nur Hasardeure anhängen. Denn die reicheren Länder würden dann die Exportvorteile des Euro verlieren. Und ärmere Länder mit ihren schwächeren Währungen würden noch stärker als bisher in die Schuldenfalle geraten, weshalb Griechenland den Austritt auch nicht vollzieht. Für Offe bleibt nur ein Ausweg: die radikale Transferunion.
    "Anstatt die Kosten in den Ländern wie Griechenland weiter zu drücken, wären sie in Ländern wie Deutschland zu steigern! Anstatt die Handelsdefizite anderer Staaten zu finanzieren und sie zu einer kontraproduktiven inneren Abwertung zu zwingen, sollte Deutschland daran interessiert sein, seine Arbeitskosten und seinen öffentlichen Sektor aufzuwerten. Das würde bedeuten, mehr in öffentliche Dienste zu investieren und zusätzliche staatliche Investitionen zu tätigen, die Nachfrage durch Lohnsteigerungen zu stärken und den Mindestlohn ebenso wie die Steuern auf Vermögen, Erbschaften und Spitzeneinkommen anzuheben."
    Apell an rationale Moral
    Offe würde seinem Buchtitel untreu werden, wenn ihm die Umsetzungsprobleme seines Vorschlags entgingen. Nicht nur müssten die Regierungen reicher Länder fürchten, abgewählt zu werden, wenn sie die Vorteile des Euro für die eigene Wirtschaft preisgeben. Sie müssten sich zudem noch entschließen, weitere nationale Befugnisse aufzugeben. Nötig sind für Offe eine Banken-und Fiskalunion, um die Finanz- und Einkommensströme zu regulieren, Eurobonds zur Schuldenharmonisierung und einheitlichere soziale Schutzmaßnahmen. Das aber geht nur, wenn die Union zu einem supranationalen Gebilde ausgebaut wird, wofür momentan kaum jemand zu haben ist. So bleibt Offe gegenüber den reicheren Ländern nur der Appell an eine rationale Moral.
    Je weniger ein Akteur unter den Folgen gemeinsam begangener Fehler zu leiden gehabt hat, desto größer ist der Umfang seiner Kompensationspflichten für diejenigen, die von diesen gemeinsam begangenen Fehlern die schwersten Schäden davongetragen haben. Dieses moralische Kalkül kann sogar ökonomisch sinnvoll sein. Der Spieler, der von der Krise am wenigstens negativ oder sogar positiv betroffen ist, hat rationalerweise ein langfristiges Interesse daran, in die Aufrechterhaltung eines Spieles zu investieren, das sich für ihn per Saldo als relativ vorteilhaft erwiesen hat.
    Ist das schon wieder eine Falle, da illusionär? Offe setzt sich leider nicht mit wichtigen Gegenargumenten auseinander, etwa mit der Frage, ob das europäische Projekt nicht einfach zu groß geworden ist, um supranational demokratisch regierbar zu sein. Das schwächt seine Argumentation. Trotzdem seziert sein Buch die europäischen Probleme so gründlich, dass es empfehlenswert ist. Auch Leser, die Offes linkem Lösungskonzept nicht zustimmen werden, können von seiner klaren Analyse profitieren.
    Claus Offe: "Europa in der Falle"
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2016
    160 Seiten, 16,00 Euro, ISBN: 978-3-518-12691-2