
Im Sommer 2016 tritt EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager vor die Medien in Brüssel. Irland hatte der Firma Apple Steuervorteile gewährt. In manchen Jahren musste der Konzern nicht einmal ein Prozent Steuern zahlen.
"Faire Besteuerung ist eine globale Angelegenheit. Sie muss für alle gelten."
Kommissarin Vestager ist in Hochform. Eine gute halbe Stunde lang bietet sie tiefe Einblicke in ein Imperium der Steuervermeidung, beschreibt die verschachtelte Firmenkonstruktion. Sie rechnet vor, dass Apples effektive Steuerrate im Jahr 2012 nur 0,05 Prozent betrug. Und 2014 auf 0,005 Prozent fiel.
"Was bedeutet, dass noch weniger Steuern gezahlt wurden. 50 Euro für eine Million Euro Gewinn."
"Dass die Leute nun aufwachen und begreifen, dass sie Steuern zahlen, während die Reichsten und die großen Konzerne dies nicht tun, setzt die Entscheidungsträger unter enormen Druck. Es ist offensichtlich: Das Steuersystem funktioniert nicht. Wir brauchen ein Neues."
Tove Ryding vom Europäischen Netzwerk für Schulden und Entwicklung in Brüssel untersucht seit Jahren Firmen, die sich nicht an den Kosten der Gesellschaft beteiligen wollen. Und Staaten, deren Geschäftsmodell es ist, solche Konzerne mit Steuerrabatten und laxer Aufsicht anzulocken. Informationen, sagt sie, sind höchst mühsam zu ergattern.
Seit Jahren wird in Brüssel darum gekämpft, welche Informationen Unternehmen wem preisgeben müssen. Ein Instrument ist das sogenannte "Country by country reporting" – also länderspezifische Berichte.
"Das klingt ein bisschen technisch, ist aber sehr einfach. Es geht darum, dass die Konzerne Daten darüber veröffentlichen, wie viele Beschäftigte sie haben, wie viel Gewinn sie machen, und welche Vermögenswerte sie besitzen. All dies weiß die Öffentlichkeit nicht", sagt Nadja Salson, Steuerexpertin von EPSU, der Europäischen Föderation der Gewerkschaften für den öffentlichen Dienst. Mehr Transparenz sei dringend erforderlich in dieser Schattenwelt. Die EU-Kommission wollte einen Teil dieser Länderdaten öffentlich machen. Da sei man, heißt es auch aus der Kommission hinter vorgehaltener Hand, weniger erfolgreich gewesen.

Die zweite Front, sagt Salson, sei die Fairness-Frage.
"Die wichtigste Steuerquelle sind heute Steuern auf Arbeit. Dann folgt die Mehrwertsteuer – also das, was die Konsumenten zahlen. Erst an dritter Stelle kommen die Unternehmenssteuern. In ganz Europa beobachten wir einen Rückgang der Steuern auf Unternehmensgewinne und hohe Einkommen. Während die Mehrwertsteuern steigen. Wir finden, dass dies unfaire Steuern sind, weil hier jeder denselben Satz zahlt, unabhängig von seinem Einkommen."
Ein Grund für die Geheimniskrämerei: Seit Jahren tobt ein globaler Standort-Wettbewerb um immer niedrigere Unternehmenssteuern. Der Unterbietungswettlauf ist in vollem Gange. Irland bietet günstige 12,5 Prozent – mit vielen attraktiven Extras. Ungarn gar neun Prozent.
"Steuergerechtigkeit ist tatsächlich ein Schlüssel zu einer gerechten Gesellschaft."
Die Hauptgewinner: Irland, Luxemburg und Singapur, aber zum Beispiel auch Karibik-Staaten, Hongkong, die Niederlande – und immer noch die Schweiz. Der Begriff "Gewinner" ist relativ. Die Oasen kassieren sehr geringe Steuern auf gewaltige Mengen verschobener Konzerngewinne. Was diese Staaten erhalten, ist nur ein winziger Bruchteil dessen, was die Konzerne anderswo sparen. Das ewige Dilemma: Die Konzerne sind wie Zugvögel. Während die Staaten versuchen internationale Wirtschaftsstrukturen national zu kontrollieren.
"In Irland zum Beispiel – ohne Angestellte, ohne Direktor, an einer Briefkastenadresse. Und wenn Irland die Regeln ändert, Luxemburg aber nicht, schreiben sie auf einen neuen Zettel, die Firma sei jetzt in Luxemburg. Sobald Luxemburg dann die Regeln ändert, ziehen sie vielleicht nach Singapur."
Sagt die Ökonomin Véronica Grondona, die in Brüssel als Expertin für die Linksfraktion im EU-Parlament arbeitet.

"Jedes Land kann derzeit höchstens sehen, was Konzerne in ihrem Land tun. Und vielleicht informiert die Firma die Behörden darüber, dass sie Transaktionen mit einer Tochter in der Schweiz machen. Aber sicher nicht darüber, dass von der Schweiz aus dann Transaktionen mit einer Tochter in Singapur gemacht werden, wo vielleicht der Löwenanteil der Gewinnverlagerung stattfindet. Das heißt: Die Steuerbehörden der Länder haben nur sehr kleine Ferngläser und sehen allenfalls, was in ihrem Umfeld stattfindet."
In Staaten, die sich als Gewinner dieser Verschiebungen betrachten, gelten Niedrigsteuern, laxe Regulierung oder auch das Bankgeheimnis als eine Art Staatsräson, werden mit ängstlichem Trotz verteidigt. Das war schon im Schließfachparadies Schweiz zu beobachten, auch in Luxemburg oder auf den britischen Kanalinseln. In Irland ist es nicht anders. Als Margarete Vestager 2016 ihren Apple-Bescheid verkündete, wandten irische Journalisten ein, es hätten sich doch alle an die Regeln gehalten. Die Kommissarin reagierte kühl:
"Wenn meine effektive Steuerrate 0,05 Prozent betragen – und auf 0,005 Prozent fallen würde, käme ich doch wohl auf die Idee, mal einen zweiten Blick auf meine Steuererklärung zu werfen."
"Unsere nationale Entwicklung ist noch nicht über die Pubertät hinaus. Wir stecken immer noch in einer etwas paranoiden Mentalität fest: Erinnert euch an die schlechten Zeiten! Sagt bloß nichts, was die Multis ärgern könnte! Sonst wird alles schiefgehen. Und Weihnachten sitzen wir wieder im Armenhaus!"
Meint Sorley McCaughey, Chef-Campaigner der irischen Organisation Christian Aid, die Steuerflucht früh zum Thema gemacht hat. Es geht hier um Abhängigkeiten, sagen die Kritiker. Irlands Rolle als Steueroase, sagt Richard Boyd Barrett, Abgeordneter im irischen Parlament, sei eine heilige Kuh, sogar für große Teile der Opposition.
"Ich habe beantragt, dass wir Google, Facebook, Apple und all die großen Firmen, die im Zentrum dieses Sturmes stehen, als Zeugen einzuladen. Da gab es Aufruhr im Ausschuss."
Da war Stimmung im Parlament. Der Vorsitzende ließ alle Kameras und Mikrofone abschalten. Selbst die Diskussion darüber sollte nicht öffentlich werden.
Auch viele konservative Abgeordnete, wie hier der Franzose Alain Lamassoure, loben die Europäische Kommission dafür, dass sie die "aggressive Steuerplanung" von Mitgliedstaaten wie Belgien, Zypern, Ungarn, Irland, Luxemburg, Malta und den Niederlanden ins Visier nimmt.
"Google und Facebook haben Millionen Kunden in meinem Land und zahlen keinerlei Steuern."
Schon 2012 gab es einen ersten EU-Aktionsplan gegen Steuerbetrug. 2015 schickte die Kommission ein "Transparenzpaket" auf den Weg.
"Die Politiker behaupten nun, sie würden jede Menge Aktivitäten entfalten. Tatsächlich aber haben wir immer noch genau jenes defekte Steuersystem, das all die Probleme verursacht."
Auch Nichtregierungsorganisationen machen zunehmend Druck für mehr Steuergerechtigkeit, prangern die Methoden von Firmen wie Facebook, Amazon, Google, Uber – oder auch McDonald’s an.
Der Gewerkschaftsdachverband EPSU etwa veröffentlichte mit amerikanischen Kollegen eine Studie unter dem Titel "Unhappy Meal", in dem Details eines Steuermodells von McDonalds analysiert wurden, mit Töchtern in Luxemburg, der Schweiz und den USA. Ein Konstrukt, das die europäischen Staaten zwischen 2009 und 2013, so schätzen die Autoren, etwa eine Milliarde Euro an Steuereinnahmen gekostet haben dürfte.
Die Kommission ermittelte. Vergangene Woche verkündete Margrethe Vestager das Ergebnis: McDonalds habe nicht von illegalen Steuervergünstigungen profitiert und Luxemburg nicht gegen Beihilferegeln verstoßen. Obwohl alle Einnahmen von Franchise-Partnern in Europa, einschließlich Russland und der Ukraine, von Steuern befreit worden waren. Weil sie angeblich in den USA versteuert wurden, was nie geschah.
"Die doppelte Nichtbesteuerung in diesem Fall beruht auf einer Unvereinbarkeit zwischen dem luxemburgischen und dem US-Steuerrecht und nicht auf einer Sonderbehandlung durch Luxemburg."

Auf Nachfragen aber hört man in der EU-Kommission lautes Seufzen. Bei 28 Finanzministern, so heißt es, passiere nicht viel. Zumal in Steuerfragen Einstimmigkeit vonnöten ist. Der Widerstand komme nicht nur von den üblichen Verdächtigen, sondern zum Beispiel auch aus Ungarn, Finnland, Schweden, Österreich und Deutschland.
"Jedes Land in der EU hat leider irgendwelche Schlupflöcher, die dem Big Business nutzen", sagt die Gewerkschaftsexpertin Nadja Salson.
"Alle Regierungen haben die Macht verloren, die Unternehmenssteuern zu regulieren. Das ist der Kern des Problems."
Die Ökonomin sitzt in einem Gremium, das für die Kommission eine effizientere Steuerverwaltung entwerfen soll. Zusammen mit Experten, die eng verknüpft sind mit der "Steuervermeidungsindustrie", wie sie sagt. Die "großen Vier" sind überall dabei, agieren zugleich als Steuerflucht-Experten für Unternehmen und als Helfer der Politik.
In der "Financial Times" spottete Karthik Ramanna, Professor an der Universität Oxford: "Die Kommission sollte es besser wissen als die Füchse einzuladen, um sie zu den Sicherheitsmaßnahmen für den Hühnerstall zu beraten."
Schöne Worte, wenig Taten, findet auch die Ökonomin Grondona.
"Ich sage nicht, dass die Kommission nicht arbeitet. Aber jede neue Initiative endet damit, dass genug Schlupflöcher bleiben und sich das System nicht wirklich ändert."
Die Offenlegung der Konzernzahlen nach Ländern etwa ist eine zentrale Forderung auch der Sozialdemokraten. Der deutsche SPD-Finanzminister Olaf Scholz aber ruderte im Juli im EU-Parlament mit aller Kraft zurück.
"Deshalb plädiere ich für ein sehr vorsichtiges Vorgehen, das am Ende ein effizientes Instrument herstellt, das aber von den Unternehmen und den verschiedenen Ländern, die wir brauchen, damit das international stattfindet, auch akzeptiert wird. Und bekenne ich mich ausdrücklich zu einem so vorsichtigen Weg."
Was auf ein Vetorecht der Unternehmen hinausläuft. Kurz darauf wurde ein Papier aus seinem Ministerium bekannt, das vor einer "Dämonisierung" der großen Digitalunternehmen warnte.
"Das ist ein wichtiger Schritt im Kampf gegen internationale Steuerhinterziehung."
"Wir sehen doch, wer Jobs in Europa schafft: Kleine und mittlere Unternehmen. Genau die aber haben es schwer mit den großen Konzernen zu konkurrieren, die keine Steuern zahlen. Das schadet der Wirtschaft, das schafft keine Arbeit. Und es untergräbt die Gesellschaften in aller Welt, denn die brauchen Steuergeld, um Schulen, das Gesundheitswesen, Sicherheit, Straßen und andere Infrastruktur zu finanzieren."
Offiziell ziehen alle an einem Strang. Selbst Irland kämpft gegen Steuervermeidung.
"Irland spielte und spielt eine wichtige Rolle beim Projekt der OECD, das sich mit der Besteuerung multinationaler Konzerne beschäftigt", sagt Mark Redmond, CEO der amerikanischen Handelskammer in Dublin.
"Die OECD hat 50 Jahre lang die internationalen Steuerregeln für multinationale Konzerne gemacht", kontert Tove Ryding. Genau die Regeln, die dieses Chaos produziert haben. Und die Konzerne haben sogar Recht, wenn sie sagen: Wir brechen keine Regeln. Das Problem ist: Die Regeln taugen schlicht nicht dazu, Steuern bei ihnen einzutreiben."
"Ein gibt hier Konsens. Jede akademische Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass Irland eine Steueroase ist. Und dass die irische Regierung sich wie eine Krücke auf die OECD stützt, um behaupten zu können: Es gibt kein Problem. Da ist nichts", amüsiert sich Emma Clancy, irische Expertin im Europaparlament. In Dublin, sagt sie, bestimmen die Firmen die Politik.

"Freue mich auf ein Dinner heute Abend mit Tim Cook von Apple. Er investiert jede Menge Dollars in die USA."
Apple kündigt im Gegenzug ein paar Investitionen an.
"Apple saying it will create 20.000 new jobs and build a new corporate campus in an American city still unnamed."
Und auch für den "Double Irish", hat die Firma längst Ersatz gefunden – Apples viel geschmähtes Steuermodell, das drei Tochterfirmen in ein staatenloses – und steuerfreies – Niemandsland verlagerte.
"Wir haben in etlichen Doppelbesteuerungsabkommen Irlands einen Mechanismus gefunden, den Double Irish fortzusetzen", berichtet Emma Clancy. Andy Storey, Dozent für politische Ökonomie am University College Dublin, erklärt die neue Methode.
"Jetzt wird es ein bisschen kompliziert: Apples Töchter auf Jersey – die Insel ist ja selbst eine Steueroase – haben Apple Irland für den Kauf dieser Lizenzen, Copyrights und Patente das Geld geliehen. Die Lizenzen wiederum kann man steuerlich abschreiben. Und auch das Geld, das Apple Irland an Apple Jersey zur Rückzahlung der Schulden zahlt, ist steuerlich absetzbar. Was Steuervermeidung betrifft, öffnet sich jedes Mal, wenn sich irgendwo eine Tür schließt, anderswo eine neue."