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Europa. Wir und die anderen

Mit dem Beitritt von zwölf neuen Mitgliedern ist die Grenze der Europäischen Union nahe an die russische Grenze herangerückt. Für viele stellt sich diese Grenze schon jetzt als neuer Eiserner Vorhang dar, der - nicht nur durch eine Visa-Barriere, sondern auch durch eine kulturelle Schranke - Europa von Nicht-Europa und Europäer von Nicht-Europäern trennt1.

Von Michail Ryklin, Philosoph, Moskau |
    Vor diesem Hintergrund werden alte Fragen neu gestellt: Warum werden bestimmte Teile der ehemaligen Sowjetunion und des einst zur sowjetischen Einflusssphäre gehörigen Osteuropas in die Europäische Union aufgenommen (haben also den Europatauglichkeitstest bestanden) und andere - darunter Russland - nicht? Was ist das für eine neue Grenze? Warum lassen bestimmte Unterschiede - und seien es auch gewichtige - trotzdem die Integration in ein einiges Europa zu und andere nicht? Was macht letztere im Gegensatz zu ersteren so fundamental? Gibt es ein spezifisch russisches Schibboleth2, ein Passwort, das Russen nie werden aussprechen können, womit sie sich den Weg nach Europa verstellen? Gibt es ein differenzielles Merkmal, an dem man einen Russen untrüglich als Nicht-Europäer erkennen kann?

    Bevor ich diese Fragen angehe, einige Bemerkungen zur Vorgeschichte der Grenze zwischen Russland und Europa, zu den früheren Metamorphosen dieser Grenze. Liest man Casanovas "Mémoires" oder Karamzins "Briefe eines russischen Reisenden", so merkt man, dass sich die Autoren dieser Texte frei in einem einheitlichen Raum zwischen Paris und Petersburg, zwischen Rom und Moskau bewegt haben, dass sie den Grenzübertritt zwischen Russland und Europa nie als etwas irgendwie Wesentliches oder Grundsätzliches markiert haben. Im 18. Jahrhundert herrschte die Ansicht, dass Europa da sei, wo aufgeklärte Menschen sind, und im frankophon gewordenen Russland gab es davon nicht wenige.

    Der Urheber des Konzepts von einem "Ewigen Russland", das sich vom nicht weniger "Ewigen Europa" unterscheide, ist der Marquis de Custine. Sein monumentales Briefwerk "Russland im Jahre 1839" erschien in Paris 1843. Ihm ist auch der Ausspruch zuzurechnen, dass - welche Ansprüche die Russen nach Peter dem Großen auch immer erhoben hätten - jenseits der Weichsel Sibirien beginne. D.h. Russland, selbst seine westlichsten Regionen seien bereits Asien. In einem anderen Brief markiert dagegen der Moskauer Kreml diese Grenze, in einem dritten das als Strafe vom Himmel herabgesandte "unmenschliche" Klima Russlands u.a.m. Custine vermochte mithin nicht zu sagen, wo genau diese Grenze verläuft. Jede benannte Differenz ist vorläufig und überwindbar; nichts Ewiges kann darauf gründen, auch Russland nicht. Jede der genannten Differenzen lässt sich in den gesamteuropäischen Raum integrieren. Dessen Ausdehnung ist deshalb unklar, zur Grenzziehung kann man darauf nicht abheben. Etwas anderes ist jenes Ungenannte, das sich hinter der Fülle derartiger Differenzen verbirgt und sie erst ermöglicht. Wenn aber die Definition Europas (und/oder Russlands) vom Ungenannten abhängt, von etwas, das jeder der vorgebrachten Differenzen zugrunde liegt, dann ist das Ungenannte prinzipiell nicht integrierbar und kann als Grundlage dienen für etwas Ewiges, sei es Europa oder Russland. Diese Zwillingsbegriffe funktionieren am besten gleichzeitig; der eine bildet den anderen spiegelsymmetrisch ab.

    Custine nennt die Russen eine "Gesellschaft von Nachahmern"3; seit Zeiten Peters des Großen hätten sie von den Europäern alles übernommen, was sie nur konnten, ohne ihnen damit wirklich ähnlich zu werden; auf russischem Boden bekämen alle Entlehnungen einen grundlegend anderen Sinn als das Original.

    Die Oktoberrevolution hat die Lage der Dinge radikal verändert: Aus dem Nachahmer wird mit Sowjetrussland selbst zum Gegenstand der Nachahmung, zur "Avantgarde der gesamten progressiven Menschheit". "[D]enn von [...] Moskau aus [...]", schreibt Victor Klemperer, "richtet sich ja jetzt das reinste europäische Denken buchstäblich ‚an alle'"4. Wie viele ähnlich lautende Sätze wurden in Europa zwischen 1917 und 1956 geschrieben! In dieser Hinsicht stellt die postsowjetische Zeit eine Regression zur Petrinischen Epoche dar: Russland büßt seine Vorbildeigenschaft ein, und erneut wird aus Europa entlehnt - Demokratie und Marktwirtschaft.

    Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Grenze nicht nur von europäischer Seite, sondern auch von russischer Seite gezogen. Wollte man Dostojewski glauben, dann hätte sich in Europa das "Prinzip der Brüderlichkeit" verflüchtigt, das dem russischen Volk organisch zu Eigen wäre; an dessen Stelle wäre in Europa der Individualismus getreten, das "Prinzip der Einzelperson" 5.

    Die Themen europäischer Materialismus und mangelnde Geistigkeit und Spiritualität wurden später zu Markenzeichen des Eurasiertums, einer in den 1920er Jahren in russischen Emigrantenkreisen entstandene Bewegung: "Im Westen", so schreibt einer ihrer Vertreter, "hat die Religion keinen Einfluss auf das Leben und berührt die Herzen und Seelen ihrer Anhänger nicht, alldieweil sie mit Haut und Haaren von ihrer materiellen Kultur absorbiert sind."6 Und weiter: "Seit Peter dem Großen war diese asiatische Natur des russischen Volkes von einer dünnen Schicht Europäertum bedeckt, Lenin jedoch, obwohl geistiger Zögling des Westens, kratzte diese oberflächlich europäische Schicht gnadenlos ab" 7. Die Revolution wird damit nicht als Verwirklichung der marxistischen Utopie behandelt, sondern als Rückkehr Russlands zu seinem wahren, asiatischen Wesen nach zwei Jahrhunderten eines "romano-germanischen Jochs". Für Nikolai Trubetzkoy, Roman Jakobson, Pjotr Sawitzki und andere Säulenheilige des ursprünglichen Eurasiertums stellt sich Europa als etwas grundlegend von Eurasien Verschiedenes dar. Der Schweizer Slawist Patrick Sériot bemerkt dazu: "Die Eurasier wollten aus Russland die künftige Führerin unterdrückter Nationen machen, wobei sie daran festhielten, dass Eurasien, so der neue Name des Russischen Reiches, ein unteilbares, natürliches und organisches Ganzes sei."8 Genau aber vermochten auch sie die Grenze jenes ominösen Ganzen nicht zu bestimmen; bei ihnen herrschte eher die Apriori-Überzeugung vor, dass es ein solches Ganzes gäbe und dass diese Ganze jenes andere Ganze, das romano-germanische Europa begrenze. Dabei ist weniger wichtig, wo diese Grenze verläuft, als das in vielem unbewusste Bedürfnis nach einer Grenze, die intellektuelle Unfähigkeit, ohne diese auszukommen. Jegliche von den Eurasiern benannte Grenze wäre wie bei Custine zufällig im Vergleich zu dem unbändigen Wunsch nach Befreiung vom "romano-germanischen Joch", dem Bedürfnis nach einer Grenze.

    Die Russen erzeugen und kultivieren ihr Schibboleth selbst, indem sie sich als Gegengewicht zu Europa definieren, als Träger einer grundsätzlich anderen Identität. Doch in der Bezeichnung "Eurasien" ist verschämt nicht nur Asien, sondern auch Europa kodiert; bei aller scheinbaren Radikalität leistet diese Bezeichnung lediglich die Feststellung einer geographischen Tatsache.

    Ich bin selbst mehrfach über den Ural gefahren und kann bezeugen, dass zwischen Perm und Nowosibirsk in kultureller Hinsicht nichts dergleichen geschieht, was dazu berechtigen würde, die eine Seite Europa und die andere Asien zuzurechnen. Und auch bis Waldiwostok ändert sich das nicht.

    Für Custine diente Petersburg das Symbol dessen, was Russland von Europa trennt - eine Stadt, die aus der Laune eines einzelnen Menschen heraus erbaut wurde, deren Architektur nach Custine nicht nur der Zarenmacht, sondern auch dem rauen russischen Klima nicht angemessen. Die Versuche eines despotischen Regimes, europäische Interieurs zu schaffen, seien zum Scheitern verurteilt, da sie den lokalen Bedingungen nicht gerecht würden. Worin dann aber die irreduzible Originalität Russlands besteht, was denn dann den lokalen Bedingungen entspräche, erfahren die Leser beim Marquis nicht.

    Alexander Dugin, ein gegenwärtiger Vertreter des Eurasiertums, meint, dass die "zivilisatorischen Codes" Russlands und Europas einander vom Ursprung her feindlich gegenüberstünden, dass sie nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden könnten. "Von Seiten des Westens beobachten wir seit dem neunten Jahrhundert - gegenüber Byzanz - bis zum 21. Jahrhundert - gegenüber dem "demokratischen" Russland - in etwa ein und dieselbe konstant negative Einstellung - abhängig von den jeweiligen weltanschaulichen Ausrichtungen, wie sie jede Epoche kennzeichnen."9 Bei einer derartigen Herangehensweise ist jeglicher Versuch von russischer Seite, Europa nachzuahmen, dazu verdammt, als Absage an das eigene Wesen gewertet zu werden. Über dieses Wesen selbst erfahren wir von Dugin nicht mehr als von Custine; das ominöse Wesen wird nicht an sich definiert, sondern durch die spiegelsymmetrische Gegenüberstellung mit Europa, d.h. durch eine geläufige Denkfigur der Identität. Der als irreduzibel erklärten Differenz liegt mithin eine verborgene, nicht thematisierte Identität zugrunde, welche die Differenz gerade irreduzibel macht. Die gesamte Petersburger Epoche der russischen Geschichte wird von Dugin als "romano-germanisches Joch" 10 etikettiert und Petersburg zu Europas Trojanischem Pferd in Russland erhoben (im Gegensatz zu Moskau als "eurasischer Hauptstadt"). Im Zuge dessen verschwindet die Custinesche Problematik eines spezifisch russischen Zugs an dieser Nachahmung, welche die Imitatoren dem Original nicht näher bringt, ja sie vielmehr von diesem entfernt und die Differenz auf dem Hintergrund einer deklarierten Identität durchstreicht. Custine zufolge ist das romano-germanische Prinzip an sich noch kein Joch, sondern wird erst unter den Bedingungen der zaristischen Despotie dazu, indem es auf ein ihm fremdes Terrain versetzt wird.

    Wenn man, wie Dugin, im russischen Imperium schlicht die "Version der Nationalen Idee für die Führungsschicht"11 erblickt, vereinfacht man gleich zwei Jahrhunderte russischer Geschichte bis zur Unkenntlichkeit.

    Auf Custines unbeantwortet gebliebene Frage versuchte Dostojewski auf seine Art eine Antwort zu geben: Die Originalität des russischen Volkes bestünde darin, dass es alles - unter anderem auch die Maßlosigkeit von Körperstrafen und weiteren Arten von Gewalt - zum "Prinzip der Brüderlichkeit" verwandle.12 Custine hätte eine solche Antwort natürlich nicht akzeptiert; der von Gewalt hervorgebrachte Kollektivismus war ja genau das, was ihn in Russland so sehr empörte. Eben diesem Kollektivismus sprach er jede Originalität ab, indem er ihn für ein Überbleibsel von Barbarei hielt. Dostojewski hingegen schockierten in Paris im Gegenteil vor allem die feinen, äußerlich unmerklichen Formen von Kontrolle (mit seinem Ausdruck: "Herumspionieren"). Besonders erregte ihn die Gründlichkeit, mit der ihn ein liebes altes Ehepaar musterte - die Inhaber eines Gasthofes, in dem er abstieg. All diese Daten sollten der Polizei übermittelt werden.

    Kontrolle galt den Europäern als Kernfaktor von Freiheit, wie sie sich in Räumen herausbildet, die Michel Foucault viel später "disziplinarisch" nennen sollte. Das Maximum an Rechten wird Körpern zugestanden, die in diesen Räumen geschult wurden; die Vorhersagbarkeit ihres Verhaltens macht Brutalität obsolet. Die russischen "brüderlichen" Körper hingegen sind noch ungezügelt und bedürfen von daher der Befriedung und unmittelbaren Bestrafung.

    Wenn die Eurasier von heute über die "Moskauer Idee" räsonieren, vermeiden sie dieses unangenehme Thema der Gewalt. So verschwindet das Drama der besonderen Zugehörigkeit Russlands zu Europa, welches die klassische russische Literatur des 19. Jahrhunderts speiste. Europa spielt in den Texten die Rolle eines von Urzeiten an feindlichen Prinzips, und Russland wird einmal als Nicht-Europa, ein andermal als Anti-Europa konzeptualisiert. So wird der Eindruck erzeugt, als könne auf russischem Boden spontan, organisch und aus innerem Antrieb heraus nichts Europäisches gedeihen, das nicht Europas fünfte Kolonne wäre. Die Vorstellungen dieser Gruppe über Russland als einer Art eurasischer Insel sind höchst unrealistisch; anders als zu Zeiten der Sowjetunion ist die Abhängigkeit Russlands heute von der Außenwelt um keinen Deut geringer als bei vielen anderen europäischen Ländern auch. Und die russische Kultur besitzt Originalität allein im europäischen Kontext.

    Seit mehreren Jahren stehen die Eurasier um Alexander Dugin in engem Kontakt zu den Polittechnologen des Kremls und prägen das Selbstbild der russischen Führungsklasse mit. Neuerdings wird Russland mit einem Ausdruck des Chefideologen des offiziellen Russlands, Wjatscheslaw Surkow, als "souveräne Demokratie" bezeichnet (die Wortverbindung "gelenkte Demokratie" wurde im Verlauf des vergangenen Jahres aus dem politischen Vokabular verbannt). An dieser neuen Bezeichnung ist genauso wenig auszusetzen wie an dem Modell der multipolaren Welt, das Präsident Putin vertritt. Die Probleme beginnen, wenn die Verfechter der so genannten souveränen Demokratie bei ihrer Auslegung dieses Begriffs verkünden, dass Souveränität Vorrang vor Demokratie habe. Nachdem die Machtvertikale des Präsidenten die Medien unter ihre Kontrolle gebracht, die Legislative und die Judikative der Exekutiven untergeordnet und die Mehrheit bei praktisch alternativlosen Wahlen errungen hat, stellt sie die Ergebnisse dieser Wahlen als die einzig mögliche Form demokratischer Willensbekundung des Volkes hin. Wenn westeuropäische Staaten oder die USA ihre Zweifel vorbringen, ob solche Praktiken mit demokratischen Grundsätzen zu vereinbaren sind, werden diese sogleich der Absicht bezichtigt, eine monopolare Weltordnung zu installieren, und der Einmischung in die inneren Angelegenheiten einer souveränen Demokratie geziehen, d.h. des Eingreifens in das Recht dieser "souveränen Demokratie", Demokratie nach eigenem Gutdünken zu definieren. Solange Gewaltenteilung, Pressefreiheit und politische Parteien in Russland lediglich formal existieren, wird jeder Versuch, diese Begriffe mit Leben zu füllen, von den russischen Machthabern als Bedrohung der Souveränität gewertet. Die Frage lautet nicht, ob Russland souverän ist (im 20. Jahrhundert wurde die Souveränität vieler nicht demokratischer, ja totalitärer Staaten von der internationalen Staatengemeinschaft nicht in Frage gestellt), sondern ob es eine Demokratie ist. Wenn ein Staat wirklich demokratisch ist, braucht er kein Schutzschild von Souveränität, um sich vor seinen Nachbarn abzuschotten; seine Souveränität ist gesetzlich verankert. Staaten, deren Führungseliten das Gesetz ihrem Willen unterwerfen, werden niemals demokratisch sein, auch wenn ihre Souveränität von niemandem bezweifelt wird.

    Ich bin nicht geneigt zu glauben, dass Demokratie in Russland über längere Zeit ein Derivat von Souveränität sein wird. Gleich den Zaren und den Sowjets legt die heutige Staatsmacht in Russland zu viel Wert auf ihre Legitimität nach außen und auf mögliche Kritik von dort, während sie sich wenig um das Wohl der eigenen Bürger kümmert. Dabei ist weniger entscheidend, wie die russische Staatsmacht von Außen bewertet wird, sondern vielmehr, welche Rechte die Menschen im Land genießen, ob sie Staatsbürger oder Untertanen sind.

    Sowie in Russland demokratische Institutionen erstarken, die ohne Zusätze wie "gelenkt" oder "souverän" auskommen, wird die Notwendigkeit einer Trennlinie zwischen Russland und Europa zusehends schwinden. Der Souveränität des russischen Staates wird dies keinen Abbruch tun, sie wird lediglich kein Schibboleth mehr sein, kein unaussprechliches Wort, das unser Land daran hindert, ein vollwertiges Mitglied im Kreis der europäischen Familie zu werden. Die russische Bevölkerung ist seit je her daran gewöhnt, in einem zentralisierten Großreich zu leben, weshalb die Führungsklasse glaubt, dass Dezentralisierung und die Delegierung bestimmter Kompetenzen an die Regionen unweigerlich in Anarchie, Chaos und Zerfall des Staates münden würden. Die Machthaber unterschätzen dabei die Fähigkeit der russischen Bürger zur Selbstorganisation und glauben, dass Ordnung in Russland stets von oben oktroyiert und nie von der Basis aus gestaltet werde. Die Staatsmacht in Russland geht davon aus, dass alles im Land mit ihrem blinden Aktionismus steht und fällt, während der Kern der europäischen Idee doch darin besteht, dass der Staat nur so weit tätig werden darf, wie seine Befugnisse reichen; der Staat ist keine Vaterinstanz, sondern ein Gefüge von Institutionen, die von den Bürgern finanziert werden und diesen Rechenschaft schuldig sind. Russland wird sich Europa nicht mehr entgegenzusetzen brauchen, wenn russische Gesetze tatsächlich zu funktionieren beginnen und Russlands Machthaber sich im Rahmen von klar definierten und für alle Bürger transparenten Befugnissen bewegen. Solange dies aber nicht der Fall ist, wird die Grenze zwischen Russland und Europa weiter virulent sein.

    Im Grunde ist es nicht Russland, das sich von Europa abgrenzen will, sondern ein konkretes intellektuelles Milieu, das Gesinnungsgenossen in unterschiedlichen Ländern hat. Nicht Russland, die eurasischen Ideen brauchen eine klare Grenze. Die Grenze verläuft in den Köpfen derer, die sie ziehen; jenseits ihres Willens zur Grenze gibt es keine Grenze.

    Gibt es aber etwas, das - über die Vielzahl der Europa charakterisierenden Sprachen und Kulturen hinaus - Europa zu Europa macht? Wenn es so etwas auch gäbe, so könnte es doch nicht benannt werden.

    Auch Russland ist eine um nichts weniger im Fluss befindliche und arbiträre Struktur. Auch Russland ähnelt seinen Ebenbildern in der Vergangenheit nicht. Sowie ein ehemaliger Teil des Russischen Imperiums - sei dies Finnland, Polen, Litauen, Lettland oder Estland - Teil Europas wird, erfindet man dafür im Nachhinein eine Fülle verschiedener Erklärungen. Irgendwann, und das zudem recht bald, kann auch mit Russland Vergleichbares geschehen.

    Die Beschränktheit der Vorstellungskraft der heutigen Politiker kann nicht für eine "natürliche" Grenze Europas herhalten - schließlich wäre ohne Änderung überkommener Grenzvorstellungen auch die aktuelle Erweiterungsstufe ausgeschlossen. Und wenn wir auch noch nicht gelernt haben, in einer Welt ohne Grenzen zu leben, so können wir doch nicht umhin festzustellen, dass sich Grenzen unablässig verschieben; wobei Veränderungen, die für die vorhergehende Generation noch undenkbar gewesen waren, auf der Stelle für "natürlich" erklärt werden, während künftige Verschiebungen unwahrscheinlich, wenn nicht überhaupt unmöglich erscheinen.

    In letzter Zeit nahmen die USA weit stärker als Russland Einfluss auf die Herausbildung des Europabegriffs; galten die USA noch in jüngster Vergangenheit als bloßer Ableger einer allgemein-europäischen Kultur, so protegieren sie jetzt das "neue" gegenüber dem "alten" Europa. Wir erleben eine unerhört rasante Neubestimmung der Grenzen zwischen der sich erweiternden Ersten und der verschwundenen Zweiten Welt. Das erweiterte Europa steht vor der Aufgabe, die jüngste sozialistische Vergangenheit ihrer neuen Mitglieder zu integrieren - und das unter Umständen, in denen die USA als Global Player auf der politischen Bühne präsent bleiben und ihrerseits Europa (zumindest einen beträchtlichen Teil davon) in ihre weltumspannenden politischen Pläne einbauen.

    In diesem neuen Umfeld stellen sich die traditionellen Differenzen zwischen Russland und Europa als nicht mehr dergestalt irreduzibel dar, wie es diejenigen Ideologen gerne hätten, die aus der fiktiven "Ewigkeit" dieser Differenzen intellektuelles Kapital zu schlagen versuchen. Jener vermeintlich grundlegende und unüberwindliche Unterschied zwischen Russland und Europa wurde im Verlauf mehrerer Jahrhunderte nie auf eine Formel gebracht; er wird von beiden Seiten als Unbenanntes kultiviert, während das, was an seiner Stelle angeführt wird, dekonstruierbar ist und schon hundertfach dekonstruiert wurde. Weder von der einen noch von der anderen Seite gibt es ein russisches Schibboleth; diejenigen Differenzen, die benannt werden, entstehen aus Umkehrschlüssen und sind längst vorhersagbar geworden. Wenn Europa sich als Insel sieht, was ist dann mit seiner wichtigsten Landgrenze? Und warum verläuft diese Grenze im Ural - und nicht im Fernen Osten? Sicher ist es für viele in Europa jetzt schwer, sich vorzustellen, dass dieser unlängst noch so exklusive westliche Klub an Japan, China und die USA grenzen könnte - doch ist nicht auch der Begriff des Geeinten Europas selbst ein relativ junger? Und wäre die Integration der muslimischen Türkei etwa kein mutiger Schritt? Ich denke, dass der wichtigsten innereuropäischen Grenze ein ähnliches Schicksal bevorsteht: Auch sie wird ihr Existenzrecht früher einbüßen, als wir denken.

    In den 1930er Jahren stellte sich auch Paul Valéry die Frage, was Europa sei: "ein kleines Kap des asiatischen Kontinents" oder "der wertvollste Teil der Erde, die Krone des Planeten, das Gehirn eines umfassenden Körpers?"13 Valéry sprach Europa dieselbe Sonderstellung zu, welche die Eurasier Eurasien attestierten: In seinem Verständnis war Europa das Gehirn des riesigen, nicht selbständig denkenden Körpers Asiens, während Europa für die Eurasier eine geistarme materialistische Zivilisation im Kontrast zur eurasischen Geistigkeit und Spiritualität darstellte.

    Ist es nicht an der Zeit, sich von dieser pathetischen Opposition zu verabschieden? Ist Europa nicht sowohl ein kleines Kap Eurasiens als auch die Wiege einer großen Kultur (genauer gesagt: eines ganzen Spektrums von Kulturen), die aber nicht über alle anderen zu stellen ist? Und wird Eurasien dann nicht schlicht eine originelle Fortsetzung dieses Kulturenspektrums sein?

    Vergessen wir auch nicht, dass keine Kultur sich über Identität definiert, sondern über einen Gegensatz zu sich selbst. Die Identität jeder Kultur ist binnendifferenziert und nicht selbstidentisch. Zum Beleg dafür mag ein Verweis auf die Deutschtürken in Berlin-Kreuzberg, die Maghrebiner in Paris, die Afro-Portugiesen in Lissabon genügen.

    Und im Vergleich mit dieser notwendigen Binnendifferenz wird jegliches Schibboleth, jegliche noch so schwierige Aufnahmeprüfung, die einer Kultur von außen auferlegt wird, in Zukunft zu meistern sein.

    Fußnoten:

    1(A.d.Ü.) Das russische Wort Evropa bezeichnet in der überwiegenden Mehrheit der Verwendungen ‚Westeuropa', womit die Ideologie des russischen Selbstausschlusses aus Europa semantisch zementiert wird; Ryklins Text dekonstruiert den scheinbar dualen Gegensatz von Westeuropa als Gesamteuropa einerseits und Russland andererseits, wozu er diese Ideologie zitieren muss; deshalb wird Evropa hier durchgehend mit Europa übersetzt.

    2 Schibboleth - althebräisches Wort, das "Koloss" bedeutet. Im Alten Testament [A.d.Ü.: Ri 12,6] wird berichtet, dass die Ephraimiten dieses Wort nicht richtig aussprechen konnten und damit ihre Herkunft verrieten. Eine weitere Bedeutung lautet ‚entscheidende Prüfung, die es erlaubt, über die Fähigkeiten eines Menschen zu urteilen' (Le Petit Robert, Paris 1979, S. 1776).

    3 Astolphe de Custine: La Russie en 1839. Dt. zit. n. der gekürzten Ausgabe: Russische Schatten. Prophetische Briefe aus dem Jahre 1839, Nördlingen: Greno 1985, S. 442.

    4 Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eine Philologen. Leipzig: Reclam 1990, S. 176.

    5Fjodor M. Dostojewski, Simnije sametki o letnich wpetschatlenijach. Dt. zit. n.: Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke, in: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus und drei Erzählungen. Übers. v. E.K. Rahsin, München-Zürich 111999, S. 735-836, hier: S. 797.

    6Erenschen Chara-Dawan, Tschingis-chan kak polkowodez i jego nasledije. Elista: Kalmykskoje knischnoje isdatelstwo 1991, S. 195.

    7 Ebd., S. 203.

    8Patrick Sériot, Structure et totalité. Les origines intellectuelles du structuralisme en Europe centrale et orientale. Paris: Presses Univ. de France 1999, S. 149.

    9Alexander Dugin, Ewoljucija nazionalnoj idei Rusi (Rossii), in: Otetschestwennyje sapiski 3 (2003), S. 125.

    10Ebd., S. 134.

    11Ebd., S. 135

    12Dostojewski, a.a.O., S. 797-802.

    13Paul Valéry, zit. n.: Jacques Derrida, L'autre cap. Dt.: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. A.d. Französ. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt a.M. 1992: Suhrkamp, S. 21.