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Europäische Resilienz
Luuk van Middelaar: Krise stärkt die EU

Die Europäische Union wird durch Krisen lebensnah und stark. Diese These belegt der niederländische Philosoph Luuk van Middelaar überzeugend in seinem Buch "Das europäische Pandämonium".

Von Christoph Schäfer | 07.06.2021
Das Buchcover von Luuk van Middelaar “Das europäische Pandämonium" und ein gestaltetes Europaflaggenbild
Europa sei in der Krise unaufhaltsam, findet der niederländische Philosoph Luuk van Middelaar (Cover Suhrkamp Verlag / Hintergrund dpa-Zentralbild)
Lastwagen fahren über die Straße in der norditalienischen Stadt Bergamo. Das italienische Staatsfernsehen Rai berichtet über die Nacht des 18. März 2020, als das Militär die Leichen von Covid-Opfern aus der Stadt abtransportiert. Diese Bilder wurden zum Symbol für den Beginn der Coronakrise in Europa.
"In Europa ereignet sich eine Katastrophe, doch eine gemeinsame Antwort bleibt aus. Europa handelt nicht", erinnert sich der niederländische Philosoph Luuk van Middelaar in seinem Essay "Das europäische Pandämonium".
Italy, Lombardy region, Ponte San Pietro (Bergamo), April 13, 2020 : Coronavirus emergency, Covid-19. In the picture the priest blesses coffins in a deposit, in Ponte San Pietro in the province of Bergamo. They are the deaths caused by the coronavirus pandemic. Photo © Matteo Biatta/Sintesi |
Corona-Hotspot Bergamo "Sag ihnen einfach die Wahrheit"
Covid-19 verbreitete sich in der Lombardei rasant.Die Online-Zeitung "Bergamo News" berichtet seit Monaten über das Geschehen und bekommt weltweit Aufmerksamkeit.

Nachdem die italienische Regierung ihre 26 europäischen Partner offiziell um Beistand bittet, passiert zunächst wenig: Europas Staaten schotten sich ab, versuchen die Pandemie in ihren eigenen Ländern in den Griff zu bekommen. Die Europäische Kommission bleibt die ersten Wochen tatenlos und die knappen medizinischen Hilfsgüter kommen teilweise aus Russland und China - statt aus der eigenen Mitte. Der Zustand der EU: schwer angeschlagen.

Ruf nach Untergang ist zum Reflex geworden

Stimmen aus Regierungen und Gesellschaft sagen ihr das Ende voraus, die EU steckt in der Krise. - so fasst es der Autor zusammen. Luuk van Middelaar erkennt brüllende Dämonen:
"In dieser Pandemie tanzen falsche Propheten um das Feuer der Verwirrung, die Wehklagen bedrohter Seelen vermischen sich mit den Schreien von Kranken und den Seufzern der Toten, während Corona-Teufel nach Luft schnappende Körper gegeneinander aufhetzen, Streit über das Einsperren der Gesunden säen und Groll gegen diejenigen schüren, die diesen Abstieg in die Hölle verschuldet haben."
Ihre Hauptstadt nennt der Autor Pandämonium. Diesen Namen leiht er sich vom englischen Dichter John Milton, der ihn bereits in seinem Gedicht "Das verlorene Paradies" aus dem 17. Jahrhundert verwendet. Wie wütende Dämonen verhalten sich für den Historiker und Philosophen van Middelaar all jene, die das Ende der Europäischen Union in der Pandemie heraufbeschwören. Seit Jahren wiederholt sich diese dramatische Rhetorik in Krisenzeiten. Für den Autor hat sie allerdings diesmal etwas Läuterndes:
"Zum pandemischen Tumult gehören nicht nur Zwiespalt und Streit, sondern auch die Überraschung einer gemeinsamen Erfahrung, die Entdeckung, dass mit dem Verlust des Paradieses ein gemeinsames europäisches Haus in der Zeit zu gewinnen ist."

Europa in der Pandemie: eine Schicksalsgemeinschaft

Ihm zufolge keimt eine europäische Öffentlichkeit auf: Europäerinnen und Europäer teilen dieselben Ängste vor dem Virus, rufen Europa zum Handeln auf und beobachten kritisch die Entscheidungen der EU-Institutionen in der Pandemie. Die Union durchlaufe eine Metamorphose – hin zu ersten Zügen einer Schicksalsgemeinschaft.
Der Weg dorthin führe allerdings seit Jahren an Krisen entlang, wie zum Beispiel der Banken- und Eurokrise von 2008 bis 2012. Griechenland war damals eines der Sorgenkinder in der EU. Die Ukrainekrise 2014/2015, im Zuge derer Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektierte. Die Migrationskrise ab 2015, seit der die Union Perspektiven für Geflüchtete auf unserem Kontinent debattiert. Und die atlantische Krise, wie van Middelaar die vierte beschreibt: Brexit und Trump. In jeder Krise erkennt er zwar europäisches Versagen, räumt aber ein:
"Jedes Mal wurde das Ende Europas angekündigt, kam aber nie. […] Hat sich nicht jedes Mal gezeigt, dass Europa Krisen mit überraschend viel Energie meistern kann?"
Er greift damit einen Gedanken auf, mit dem sich die Politikwissenschaft seit Langem auseinandersetzt und der sich im Laufe der Geschichte mehrfach belegen ließ: Die EU wächst an ihren Hürden und Bedrohungen. Das betont auch Luuk van Middelaar als Historiker, Philosoph und Dozent für EU-Recht.
Konkret bescheinigt er der Union: Sie entwickle sich zunehmend von einer Regelinstanz zu einer politischen Akteurin mit eigenen Werkzeugen.

Notwendige Metamorphose schreitet voran

In Abstimmung mit den nationalen Regierungen verantwortet die Europäische Kommission mittlerweile das Wohl der EU-Bürgerinnen und -Bürger, wenn sie zentral Impfdosen einkauft und verteilt. Gesundheitspolitische Kompetenzen gehören laut EU-Verträgen eigentlich nicht zu den Aufgaben der Union. Und indem sich Brüssel erstmals Geld an internationalen Finanzmärkten leiht, ermöglicht es ein Wiederaufbauprogramm. Für den Autor steht fest, dass sich die EU immer mehr von ihrer traditionellen Regelpolitik entfernt:
"Die Coronakrise macht plötzlich eine Kluft zwischen bestehendem Recht und geforderter Verantwortung sichtbar. In einem solchen Moment ist es Aufgabe der Politik, schöpferische Brücken zu bauen, Reformen zustande zu bringen. Ein Ereignis wie dieses zwingt die Union, eine Form anzunehmen, die sie bisher nicht hatte."
Diese Metamorphose sei unabdingbar, findet der Niederländer. Einerseits werde sie von der kritischen Öffentlichkeit in Europa angetrieben. Andererseits sei dieser Wandel notwendig, möchte sich die EU zwischen Weltmächten wie den USA und China unabhängig positionieren.
In seinem Essay "Das europäischen Pandämonium" erfasst Luuk van Middelaar den Geist der EU: Mit jeder Krise lernt sie und wächst – für diese Analyse wartet der Autor nicht auf das Ende der Pandemie.
Van Middelaar ist ein europäischer Denker, der in der EU tief verwurzelt ist. Dies hat er in mehreren seiner Bücher bereits zu erkennen gegeben und es geht auch aus seiner Arbeit für den Europäischen Rat hervor. Dennoch oder gerade deshalb findet er stellenweise auch harte Worte für das vergangene Krisenmanagement aus Brüssel.
"Atemnot wegen eines Mangels an medizinischer Ausrüstung – nie wieder!"
Und wenn die Union ihre so geliebte Rolle der Geberin und Wohltäterin zurückfinde, ist es für ihn:
"Ein Glücksmoment!"
Luuk van Middelaar eint in seinem Essay Analyse und Vision und stellt über den Zustand der Union in der Pandemie vor allem eines heraus: In der Krise ist sie unaufhaltsam.
Luuk van Middelaar: "Das europäische Pandämonium – Was die Pandemie über den Zustand der EU enthüllt"
Suhrkamp Verlag, Übersetzung: Andreas Ecke, 202 Seiten, 16 Euro.