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Europas Ringen um Reformen
Blackbox Brüssel

Die Frage, wie die EU zukunftsfähig werden kann, wird seit 2016 debattiert. Ein großes Problem in Brüssel ist die fehlende Transparenz. Die Kommission organisiert zwar Bürgerdialoge, doch Kontrollinstanzen für EU-Institutionen - wie zum Beispiel europäische Medien - gibt es kaum.

Von Mirjam Stöckel | 25.05.2019
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker spricht vor dem EU-Parlament. Ein Zuhörer ist der Chef der euroskeptischen UKIP-Partei, Nigel Farage.
Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor dem EU-Parlament. Ein Zuhörer ist der Chef der euroskeptischen UKIP-Partei, Nigel Farage. (AFP / Patrick Hertzog)
Das EU-Parlament in Brüssel, August 2018. Der Ausschuss für Umwelt, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit diskutiert über mehr Transparenz bei der EU-Lebensmittelbehörde EFSA. Zuständig für das Transparenz-Thema ist die CDU-Abgeordnete Renate Sommer. Sie ist zu diesem Zeitpunkt sogenannte Berichterstatterin – und entwirft eine Beschlussvorlage für ihre Amtskollegen.
"Über fünf Jahre haben wir darauf gewartet, ob die Kommission eine Überarbeitung der Lebensmittelbasisverordnung für notwendig hält oder nicht."
Nun also läuft diese Überarbeitung. Ihr Ziel: Die wissenschaftlichen Gutachten der EU-Lebensmittelbehörde nachvollziehbarer und unabhängig überprüfbar zu machen. Diese Gutachten entscheiden nämlich darüber, ob ein Pestizid, eine gentechnisch veränderte Pflanze oder ein neuartiges Lebensmittel erlaubt wird.
Offenlegung von Gutachten nur per Gerichtszwang
Bislang – und das ist der Kritikpunkt – werden die Studien, die den EFSA-Gutachten zugrunde liegen, quasi immer unter Verschluss gehalten. Beim Unkrautvernichter Glyphosat, dessen umstrittene EU-Zulassung Ende 2017 erneuert wurde, musste die völlige Offenlegung der Rohdaten vor dem EU-Gericht erzwungen werden.
Beim Gesetzgebungsverfahren in Sachen Glyphosat geht es im Kern um mangelnde Transparenz – ein Vorwurf, den die EU-Institutionen im Allgemeinen immer wieder bekommen. Weitere Kritikpunkte: zu wenig Bürgernähe, zu viel Streit und Blockade unter den EU-Staaten, zu wenig Mitsprache für das Parlament – also für die von der Bevölkerung gewählten Abgeordneten. Seit geraumer Zeit läuft in Brüssel eine breite Reformdebatte, die auch diese Punkte aufgreift.
Für Martin Pigeon ist Transparenz das Thema.
"Für mich ist Transparenz absolut nötig, damit die Bürger verstehen können, was diejenigen, die in ihrem Namen Entscheidungen treffen, überhaupt tun."
Brüssel - unter dem Radar der Öffentlichkeit
Mitglieder von Transparency International tragen Masken der früheren EU-Kommissare Viviane Reding und Karel De Gucht sowie von Ex-Kommissionspräsident José Manuel Barroso.
Transparency International protestiert gegen die Wechsel von EU-Kommissaren in die Wirtschaft (afp/THYS)
Pigeon arbeitet für die Nichtregierungsorganisation Corporate Europe Observatory. Sie will den verdeckten Einfluss von Lobbyisten aufzeigen und fordert seit Jahren größtmögliche Offenheit in den EU-Institutionen.
"Denn anders als etwa bei nationalen Regierungen gibt es hier keine europäischen Medien, kein europäisches Publikum und somit viel weniger öffentliche Überprüfung dessen, was sie tun. Deshalb müssen sie auch transparenter sein."
Den größten Nachholbedarf habe der EU-Ministerrat. Dort treffen sich Beamte oder Fachminister aller EU-Staaten, um gemeinsam an neuen EU-Vorschriften zu arbeiten. Der Ministerrat – eine Blackbox, sagt Pigeon.
"Zuerst müssten sie ihre Diskussionen öffentlich führen. Das tun sie noch nicht. Dann braucht es in Gesetzgebungsverfahren Transparenz darüber, was sie tun. Und wenn sie sich mit Lobbyisten treffen, müssen wir das nachvollziehen können."
"Die Geheimhaltung im Rat unterwandert die EU als solche"
"Die Geheimhaltung im Rat unterwandert die EU als solche. Wir wissen doch, was passiert, wenn es nicht viel Transparenz gibt! Die Menschen verstehen nicht, was passiert, und haben kein Vertrauen. Und mangelnde Transparenz ermöglicht den Regierungen, zu lügen und zu sagen: Diese oder jene Entscheidung, die wurde in Brüssel gefällt. Ganz so, als ob sie selbst nicht daran beteiligt gewesen wären. Dabei waren sie das doch!"
Vor der halbverglasten Frontfassade wehen drei Flaggen mit den europäischen Sternen.
Brüssel: Sitzungsort des EU-Ministerrats (dpa / Daniel Kalker)
Auch Parlamentarier und Politikwissenschaftler mahnen mehr Offenheit vom EU-Ministerrat an; die Europäische Bürgerbeauftragte ebenfalls. Allerdings: Zu mehr Transparenz zwingen kann niemand die Mitgliedsstaaten. Sie müssten es aus eigenem Antrieb beschließen. "Dazu sind sie aber offenbar nicht bereit. Also machen wir weiter Druck." Zurück zum EU-Parlament. Hier lassen viele Beobachter den Vorwurf der Intransparenz nicht gelten, im Gegenteil: Seine Arbeit ist besser nachvollziehbar als die vieler nationaler Parlamente. Viele Dokumente und alle Debatten sind online abrufbar. Oft werden Mitschnitte aus der Mediathek in journalistischen Beiträgen – wie diesem – genutzt.
"Allerhöchste Zeit für eine Reform"
Das EU-Abgeordnetenhaus ist inzwischen in vielen Politikfeldern Co-Gesetzgeber, gemeinsam mit den 28 Staaten im Ministerrat: etwa bei Verbraucherschutz, Asyl, Energie, Zivilschutz, Forschungspolitik, beim EU-Haushalt, Landwirtschaft und Umwelt – Stichwort mehr Transparenz bei der EFSA.
Knapp 400 solcher Mitentscheidungsverfahren gab es in der zu Ende gehenden Legislaturperiode. Ihr Ablauf kurz zusammengefasst: Europaparlamentarier und Minister einigen sich jeweils unter sich auf eine gemeinsame Position. Dann handeln sie institutionenübergreifend einen Kompromiss aus.
"Und wenn beide sich einig sind, dann kommt ein europäisches Gesetz zustande", sagt der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen. Über Fraktionsgrenzen hinweg fordern die Parlamentarier mehr Einfluss für sich: Bisher darf das Parlament keine neuen EU-Regelungen vorschlagen. Das ist Sache der Europäischen Kommission, jener Exekutiv-Behörde, in die jeder EU-Staat einen Kommissar entsendet. Die Parlamentarier dürfen lediglich über die Kommissionsvorschläge mitentscheiden.
"Ich glaube, in der nächsten Legislaturperiode ist es allerhöchste Zeit, hier eine Reform durchzuführen. Dem Parlament ein eigenes Initiativrecht zu geben so wie es der Bundestag hat und wie es andere Parlamente auch haben. Das wäre ein wichtiger Schritt nach vorn."
Kostenintensive Pendelei zwischen Brüssel und Straßburg
Europaparlament in Brüssel (Brüssel), Belgien. Die EU-Parlamentarier tagen im Wechsel in Brüssel und in Strassburg(Straßburg). Foto:Winfried Rothermel *** European Parliament in Brussels Brussels Belgium EU parliamentarians meet alternately in Brussels and Strasbourg Strasbourg Photo Winfried Rothermel
Die EU Parlamentarier tagen schon seit 1992 im Wechsel in Brüssel und Straßburg, was für diese und ihre Mitarbeiter zu erheblichen Reisekosten führt (www.imago-images.de)
Diese Forderung zeigt: Der politische Gestaltungswille der direkt gewählten Volksvertreter auf EU-Ebene ist groß. Obwohl sie bei vielen Krisen der jüngeren Vergangenheit oft eher am Rande des Geschehens standen: Wesentliche Entscheidungen fällten nämlich die Staats- und Regierungschefs oder die Fachminister. Etwa bei wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen zur Rettung der Eurozone oder beim Streit um die Umverteilung von Flüchtlingen auf die Mitgliedsstaaten.
Vor gut zwei Jahren machten die Abgeordneten noch weitere Vorschläge zur Reform der Europäischen Union: EU-weite Volksabstimmungen etwa, eine Verkleinerung der 28-köpfigen EU-Kommission und ein Ende der zeit- und kostenintensiven Hin- und Her-Pendelei des Parlaments zwischen Brüssel und Straßburg.
Gerade die beiden letzten Forderungen wurden jetzt im Wahlkampf wieder Thema. Allerdings bräuchte es für eine kleinere Kommission die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten – und für ein Ende der Straßburg-Sitzungen gar eine Änderung [*] des Grundlagenvertrags der EU. Damit sind diese Reformen höchst unwahrscheinlich.
Die EU "muss mehr mit den Menschen reden"
Wieder im Parlament. Ende 2018 diskutiert die Vollversammlung über neue Offenlegungspflichten für die Lebensmittelbehörde EFSA.
Ackerfläche in Nordrhein-Westfalen nach dem Einsatz des Herbizids Glyphosat
Ackerfläche in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2017 nach dem Einsatz des Herbizids Glyphosat (imago/Marius Schwarz)
"Als letztes möchte ich der 'Bürgerinitiative Glyphosat' danken, denn die hat mit ihrer einer Million Unterschriften diesen Prozess erst möglich gemacht. Vielen Dank!"
Die Europäische Bürgerinitiative, die der Grünen-Abgeordnete Martin Häusling anspricht, brachte die EU-Kommission nämlich dazu, neue Transparenzregeln für die EFSA vorzuschlagen.
Das Instrument der Bürgerinitiative gibt es seit 2009. Sie steht für partizipative Demokratie und Bürgernähe. Doch auch hier sehen Beobachter Nachholbedarf.
"Die Bürgerinitiative macht Sinn, sie wird genutzt. Es ist nicht einfach, sie zu nutzen, aber sie wird genutzt. Aber sie ist nicht der letzte Schluss, wie man Europa demokratischer gestalten kann."
Sagt Janis Emmanouilidis. Deutsche Mutter, griechischer Vater, seit 25 Jahren Analyst und Berater zu EU-Themen, inzwischen für die Brüsseler Denkfabrik "European Policy Centre". Die EU müsse mehr mit den Menschen reden, die begonnenen Bürgerkonsultationen langfristig intensivieren, findet er – und deren Ergebnisse auch bei politischen Entscheidungen berücksichtigen.
Krisen schürten Angst vor dem EU-Zerfall
Reformdebatten sind in der EU durchaus üblich, schließlich erfindet sich die Staatengemeinschaft selbst. Anfang 2017 aber intensivierte sich die Debatte deutlich - etwa mit den Vorschlägen des Parlaments und einem Strategiepapier der EU-Kommission zur Zukunft der EU. Woher kam dieser neue Schwung?
Die Fahne Griechenlands weht in Athen neben der Fahne EU. 
Finanz- und Wirtschaftskrise, Eurokrise, Migration und viele weitere Brandherde haben Reformgedanken zwingend notwendig gemacht - die Umsetzung lässt noch auf sich warten (imago stock&people)
Das habe, sagt Politikberater Janis Emmanouilidis, mit den vielen Krisen in den Jahren davor zu tun: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Eurokrise, Klimakrise, Migrationskrise, Ukrainekrise – 2016 die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten und dann auch noch das Brexit-Referendum.
"Ich glaube, das war der Kulminationspunkt, wo man auch Angst hatte, dass es eventuell zu einem Dominoeffekt käme, dass auch andere Mitgliedsstaaten sich dazu entscheiden würden, eventuell auszusteigen aus der Europäischen Union. Ich glaube, die Angst war damals zu spüren. Ich glaube, man hat versucht, dem entgegenzuwirken und zu sagen: Europa hat eine Zukunft."
Macrons Reformideen und Merkels Schweigen
Die Reformideen mit der größten Öffentlichkeitswirkung, sie kamen in den folgenden Monaten jedoch nicht aus Brüssel, sondern aus Paris: Emmanuel Macron, neu gewählter Staatspräsident, präsentierte mehrfach umfassende Vorschläge für Europas Zukunft. Im Herbst 2017 vor Studenten an der Sorbonne etwa – und zuletzt am Montag vor der Europawahl, als er in französischen Regionalzeitungsinterviews eine 5-Jahres-Strategie für die EU forderte, gemeinsam entwickelt von Politik und Bürgern.
Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Macron äußern sich bei einer Pressekonferenz im Humboldt-Forum im Berliner Schloss.
Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Macron bei einer Veranstaltung im Humboldt-Forum (dpa / picture alliance / Kay Nietfeld)
Die Vorschläge aus Paris waren eine Einladung an Berlin, als deutsch-französischer Impulsgeber die EU gemeinsam weiterzuentwickeln. Die Gelegenheit für Reformen war Ende 2017 günstig wie selten: Ideen lagen auf dem Tisch, innere und äußere Krisen hatten Reformdruck aufgebaut – und die Bundeskanzlerin? Sie schwieg. Viel zu lange – da sind sich die Beobachter einig.
"Seit Macrons Sorbonne-Rede spielt die Frau Merkel eher eine Bremsrolle, würde ich mal sagen."
Kommentiert beispielsweise Julien Thorel, Direktor von cep France, dem französischen Ableger des Freiburger Centrums für Europäische Politik.
"Ich habe ehrlich gesagt mehr erwartet von der Bundeskanzlerin, nachdem sie eben ihren Abgang 2021 angekündigt hat. Ich dachte, dass sie eben, sich mehr engagieren würde und wahrscheinlich europapolitische Projekte und die EU-Reformdebatte eben voranbringen würde."
Das Risiko intergouvernementaler Sicherheitspolitik
Tatsächlich gab es gemeinsame Reformvorschläge von Macron und Merkel erst ein dreiviertel Jahr nach der Sorbonne-Rede – in der Meseberger Erklärung. Darin heißt es unter anderem – Zitat:
"Ferner sollten wir Möglichkeiten der Nutzung von Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik prüfen."
Hier gilt nämlich bislang das Prinzip der Einstimmigkeit. Und das sorgt bei wichtigen Entscheidungen immer wieder für Blockaden. Dabei müssen sich die EU-Staaten in diesem Politikfeld nicht einmal mit den Europaabgeordneten auf eine gemeinsame Position einigen, sondern nur untereinander – im erwähnten Ministerrat.
"Die Entscheidungen werden im Rat getroffen."
Bringt es die EU-Abgeordnete Sabine Lösing von der Partei "Die Linke" auf den Punkt. Die Abgeordneten haben lediglich eine Beobachterrolle.
"Wir werden dann im Nachgang nur von diesen Entscheidungen informiert, wenn es um Interventionen geht – wir werden nicht vorher angehört wie es zum Beispiel im Parlamentsvorbehalt des deutschen Bundestags geregelt ist. Wir werden weder angehört noch können wir sagen, dass wir damit nicht einverstanden sind."
Denn Außenangelegenheiten, Sicherheit und Verteidigung gehören zu den wenigen Fragen in der EU, die die Nationalstaaten intergouvernemental ausmachen, also nur unter sich. [*]
Einstimmigkeit unter 28 Regierungen oft spät oder gar nicht
Doch Einstimmigkeit unter den noch 28 Regierungen gibt es oft spät – oder gar nicht. Zu verschieden sind ihre außenpolitischen Interessen. Eine gemeinsame Strategie und Kultur – weitgehend Fehlanzeige. Schon zwischen Deutschland und Frankreich seien die Unterschiede groß, sagt Julien Thorel von CEPFrance:
"Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Deutschland in Zukunft zur Einsatzmacht im französischen Sinne wird."
Zugleich sei es für Frankreich undenkbar, sagt Thorel, dass Armeeeinsätze – wie in Deutschland – von der Zustimmung des Parlaments abhängig gemacht werden könnten.
"Das ist tief verankert in der Verfassung der Fünften Republik, dass eben der französische Staatspräsident Heeresoberhaupt ist. Und das ist auch ein Symbol der Stärke des Staatspräsidenten, dass er eben die Möglichkeit hat, also das Militär ins Ausland zu entsenden, ohne dass das Parlament im Entscheidungsprozess eingebunden wird."
Mehrheitsentscheid als ein Ausweg aus der Blockade
Verschiedene Traditionen, keine gemeinsame Strategie, späte Entscheidungen – oder gar keine: Die EU hat als außen- und sicherheitspolitischer Akteur auf der Weltbühne nicht den besten Ruf. Das müsse sich ändern, sagte etwa EU-Kommissionpräsident Jean Claude Juncker bei einer Rede vor den Europaabgeordneten.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf einer Pressekonferenz über das Referendum in Griechenland über das EU-Reformpaket.
EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bestimmt seit 2014 wesentlich die EU-Politik mit. (picture alliance / EPA / Olivier Hoslet)
"Wir müssen in der Außenpolitik mehr als bisher mit einer Stimme sprechen. Es kann nicht sein, dass Europa im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf nicht die Stimme erhoben hat, als es darum ging, die Menschenrechtsverletzungen in China zu verurteilen. Nur weil ein einzelner Mitgliedsstaat jede Entscheidung in dieser Frage blockieren konnte. Das ist ein Beispiel – und ich könnte noch andere aufzählen."
Ein Ausweg aus der Blockade wäre, mit Mehrheit zu entscheiden – statt einstimmig. So soll die EU außenpolitisch schneller und kohärenter handeln können, sagen Befürworter, etwa Konservative, Sozialdemokraten und Liberale im EU-Parlament. Kritiker – wie Grüne und Linke – entgegnen, kleinere Staaten würden durch Mehrheitsentscheide marginalisiert.
Einstimmiger Beschluss notwendig für Veränderung
Diesen Bedenken zum Trotz hat die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten im September 2018 vorgeschlagen, künftig in drei Bereichen auf Einstimmigkeit zu verzichten: Bei zivilen Sicherheits- und Verteidigungsmissionen und bei der Verhängung von Sanktionen – Waffenembargos, Ein- und Ausfuhrbeschränkungen und dem Einfrieren von Vermögenswerten beispielsweise. Ferner bei gemeinsamen Reaktionen auf Verletzungen der Menschenrechte – wie in China zum Beispiel. Dazu Janis Emmanouilidis vom European Policy Centre.
"Das Prinzip ist richtig, dass man versucht, kleinste Schritte zu machen, um voranzukommen. Das ist der sinnvolle Ansatz. Ich frage mich aber aus realistischer Perspektive, ob die Mitgliedsstaaten dieses Spiel werden mitspielen."
Wohl kaum. Denn eine Vetoandrohung war in der Vergangenheit für Staaten wie Griechenland oder Ungarn ein wichtiges Druckmittel, um ihre Interessen durchzusetzen. Solange aber nur ein einziger Staats- oder Regierungschef nicht bereit ist, auf diesen Hebel zu verzichten, sind Mehrheitsentscheide nicht machbar. Denn sie müssten – da beißt sich die Katze in den Schwanz – einstimmig beschlossen werden.
Gegenwind von EU-kritischen Mitgliedsstaaten
Visegrad
Die Vertreter der Visegrád-Staaten (hier mit Österreichs Kanzler Kurz) haben unter anderem in der Migrationsfrage ganz eigene Vorstellungen von EU-Politik (twitter V4 PRESIDENCY)
Zurück zum Reiz-Thema Glyphosat und dem EU-Parlament. Anfang Februar 2019 twittert die jetzt neue Berichterstatterin für die Transparenzregeln bei der Lebensmittelbehörde: "Gestern Nacht haben wir uns geeinigt."
Wir – damit meint die Berichterstatterin die Unterhändler von Parlament und Ministerrat. Deren Kompromiss besagt: Von 2020 an muss die EFSA die Sicherheits-Studien zu Pestiziden wie Glyphosat frühzeitig veröffentlichen. Ausnahmen von dieser Offenlegungspflicht müssen die Hersteller begründen und beantragen. In Sachen Transparenz ein kleiner Fortschritt, immerhin.
Andere Gesetzesvorhaben für mehr Durchsichtigkeit in Kommission, Rat und Parlament hingegen stecken fest. Auch in weiteren wichtigen Bereichen – Stichworte Asyl, Wirtschafts- und Währungsunion – sind viele Reformideen, die seit 2017 debattiert wurden, im Mai 2019 nicht verwirklicht.
Warum nicht? Das habe am mangelnden Konsens zwischen Berlin und Paris gelegen, sagt Politikberater Janis Emmanouilidis – aber nicht nur.
"Es gab auf Seiten anderer Mitgliedsstaaten die Angst, dass Deutschland und Frankreich sich eventuell einigen könnten und dann die Zukunft Europas diktieren könnten, die Reformdebatte diktieren. Da gab es also auch negative Koalitionen, die sich gebildet haben, um Reformen zu verhindern. Und dann gab es und gibt es auf nationaler Ebene Akteure – Regierungen in Polen, Ungarn, in anderen Mitgliedsstaaten – die kritischer sind, was die EU angeht und künftige Reformen, die dann auch versucht haben, Reformen zu verhindern, weil sie der Ansicht waren, dass das in die falsche Richtung gehen würde."
Die Überlegungen zur Neuausrichtung der EU – sie müssen und werden nach der Europawahl weitergehen.
[*] An dieser Stelle wurde auf den falschen Vertragstext Bezug genommen, der Fehler in dem Beitrag wurde korrigiert.