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Europawahl
"Ein sehr schwerer Eingriff in die Chancengleichheit"

Für die Europawahl sei weder eine Fünf- noch eine Dreiprozentklausel zu rechtfertigen, findet der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim im DLF-Interview. Eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europaparlaments sei nicht zu befürchten, wenn weitere Kleinparteien ihre Abgeordneten entsenden.

Hans Herbert von Arnim im Gespräch mit Silvia Engels |
    Silvia Engels: Für Wahlen zum Deutschen Bundestag gilt eine Fünfprozentklausel. FDP und AfD haben das erst im September leidvoll erfahren, als sie deshalb den Sprung ins Parlament verpassten. Doch benötigt man auch bei Wahlen zum Europäischen Parlament eine solche Hürde? Nein, urteilte 2011 das Bundesverfassungsgericht und trug dem Gesetzgeber eine Neuregelung auf. Der schrieb dann prompt eine Dreiprozenthürde fest und kleine Parteien klagten erneut.
    Einer derjenigen, der die Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht vertritt, ist der Staatsrechtler Hans Herbert von Arnim. Er ist nun am Telefon. Guten Morgen, Herr von Arnim!
    Hans Herbert von Arnim: Guten Morgen!
    Engels: Eine Dreiprozenthürde zu überwinden, ist ja deutlich leichter als eine Fünfprozenthürde. Warum sind Sie immer noch nicht zufrieden?
    von Arnim: Weil das Gericht vor zwei Jahren ein Urteil gefällt hat, in dem es die Fünfprozentklausel, formal nur die, für verfassungswidrig erklärt hat. In den tragenden Gründen dieses Urteils hat das Gericht aber jede Sperrklausel für verfassungswidrig erklärt, weil, wie das Gericht damals deutlich machte, es dafür keine rechtfertigenden Gründe gibt, auch nicht für eine geringere Klausel als fünf Prozent.
    Engels: Das heißt, Sie rechnen damit, dass Karlsruhe genau die gleichen Argumente gegen die Dreiprozentklausel ins Feld führt wie 2011 gegen fünf?
    von Arnim: Ja, damit rechne ich, und zwar nicht nur ich, sondern es gab auch einen Appell von 35 Staatsrechtslehrer-Kollegen, die schon vor mehr als einem halben Jahr an den Bundestag und die anderen Verfassungsorgane appelliert haben, die Finger von einer Dreiprozentklausel, von einem solchen Gesetz zu lassen, eben weil das Urteil vom November 2011 auch eine solche bereits verboten hat. Aber, der Gesetzgeber, der Bundestag, hat dem ja offenbar nicht entsprochen.
    An den großen Mehrheiten wird sich nichts Wesentliches ändern
    Engels: Nun haben sich die Zeiten allerdings auch geändert. Darauf verweisen andere Experten. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte damals, 2011, sinngemäß erklärt, das Europäische Parlament brauche keine so stabilen Mehrheiten, weil es ja keine Regierung wählt, und folglich sei eine Zersplitterung, wenn viele kleine Parteien hineinkommen, nicht so erheblich. Nun sagen viele Experten, das Europäische Parlament habe sich gewandelt, an Stärke gewonnen. Kann also die Argumentation von 2011 noch gelten?
    von Arnim: Das Europäische Parlament hat durch den Lissabon-Vertrag an Stärke gewonnen, aber der war lange vor dem Urteil vom November 2011, sodass das Gericht diese zugenommene Stärke des Europäischen Parlaments bereits in Rechnung gestellt hat. Ausdrücklich hat es das gesagt. Es spielt aber keine Rolle, wie stark das Parlament ist, denn je stärker es ist, desto härter ist es auch für die Wähler und die Parteien, die unter die Sperrklausel fallen würden. Sondern es geht um die völlig unterschiedliche Struktur. Das Parlament wählt eben nach wie vor keine Regierung, sondern der Rat, also die Regierungen der Mitgliedsstaaten, schlagen etwas vor, das wählt dann zwar das Europäische Parlament, die Kommission ist dann aber nicht auf die fortdauernde Unterstützung des Parlaments angewiesen. Und vor allen Dingen: Es bestehen schon jetzt über 160 Parteien, die ihre Abgeordneten nach Brüssel schicken. Wenn dann noch die eine oder andere deutsche dazukommt, würde das ja schon zahlenmäßig offenbar keinen großen Unterschied machen. Und was noch gewichtiger ist: Fast alle großen Entscheidungen, nicht nur großen, überhaupt Entscheidungen des Europäischen Parlaments werden gemeinsam von den beiden großen Fraktionen beschlossen, der Unionsfraktion und der sozialdemokratischen Fraktion - die heißt ein bisschen anders, aber ich wollte es jetzt auf Deutsch übersetzen. Die haben zusammen fast zwei Drittel der Sitze und beschließen fast alles gemeinsam, sodass, wenn da auch noch einige weitere deutsche Parteien ihre Abgeordneten reinschicken, sich daran nichts wesentlich ändern würde. Und es ist halt ein sehr schwerer Eingriff in die Gleichheit der Wahl und die Chancengleichheit der Parteien, wenn Parteien - drei Prozent würde bedeuten, man braucht 790.000 Stimmen, um die zu überwinden - nicht reinkommen, die über 700.000 Stimmen haben.
    Engels: Nehmen Sie also in Kauf, dass das Europäische Parlament zwischen Kleinstparteien möglicherweise zersplittert wird, denn diese Einigkeit, die Sie gerade beschrieben haben, zwischen den großen Fraktionen muss ja nicht so bleiben? Das heißt, wenn das Europäische Parlament stärker werden will, stehen die Kleinstparteien doch irgendwann im Weg, oder?
    von Arnim: Ja irgendwann könnten sie im Weg stehen. Das war auch eine Befürchtung, die früher mal bestand, dass wenn die deutsche Sperrklausel fällt, vielleicht auch andere Mitgliedsstaaten Barrieren wegen kleineren Parteien wegräumen. Die Entwicklung seit November 2011 hat aber gezeigt, dass kein einziges anderes Parlament auf den Wegfall der Fünfprozentklausel durch Wegräumen von Barrieren reagiert hat, sodass die Gefahr, dass, wie sie früher mal an die Wand gemalt wurde, 40 oder 80 zusätzliche Kleinparteien ihre Abgeordneten nach Brüssel schicken, einfach jeder Grundlage entbehrt. Nein, es bleibt dabei: An diesen großen Mehrheiten der beiden Großen werden einige zusätzliche deutschen Parteien nichts Wesentliches ändern, sodass keine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Parlaments zu befürchten ist. Aber Genaueres wissen wir erst nachher, nach der Verhandlung, und vor allen Dingen nach dem Urteil, von dem ich hoffe, dass es recht bald im neuen Jahr kommt.
    Die Sperrklausel ist wie ein Damokles-Schwert
    Engels: Das Europäische Parlament hat selbst im November 2012 eine Entschließung verabschiedet, und darin fordert es explizit die Mitgliedsstaaten auf, in ihrem nationalen Europawahlrecht Mindestschwellen für die Sitzzuteilung festzulegen, also Klauseln zu vergeben. Ist Ihnen das egal, dass das Parlament hier eine andere Meinung vertritt?
    von Arnim: Diese Entschließung des Parlaments ist nicht verbindlich und sie ist initiiert von genau den Kräften, vor allen Dingen von deutschen Europa- und Bundestagsabgeordneten, die auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Urteil von vor zwei Jahren die Sperrklausel halten wollten. Da hat das Gericht aber gesagt, nein, die sind befangen, die entscheiden in eigener Sache, und deswegen können wir das, was die gerne möchten, nicht für verbindlich halten, und genauso ist es jetzt wieder. Ich meine, dass diese Entschließung des Europäischen Parlaments nichts wirklich ändert.
    Engels: Sie haben gesagt, Sie rechnen mit einem Urteil möglichst bald im kommenden Jahr. Auf jeden Fall also noch rechtzeitig für die Europawahlen?
    von Arnim: Ja, auf alle Fälle! Die kleinen Parteien, die, falls eine Sperrklausel Bestand hat, darunter leiden würden, sind ja schon jetzt durch die lange Unsicherheit - da schwebt ja die Sperrklausel wie ein Damokles-Schwert über ihnen - in ihren Wahlvorbereitungen erheblich beeinträchtigt. Das weiß auch das Gericht. Deswegen hat es bereits zwei Monate nach Einlegung der Klagen gegen die Dreiprozentklausel heute eine mündliche Verhandlung anberaumt. Das ist für Gerichtsverhältnisse unerhört rasch. Und daraus glaube ich schließen zu können, dass es auch rasch eine Entscheidung fällen wird, also hoffentlich sehr bald im neuen Jahr.
    Engels: Vor dem Bundesverfassungsgericht wird heute über die Dreiprozentklausel für die Europawahl verhandelt. Ein Vertreter der Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht, juristisch gesprochen, ist Hans Herbert von Arnim. Vielen Dank für das Gespräch.
    von Arnim: Ich bedanke mich!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.