
In Großbritannien sei die öffentliche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg noch sehr stark, auch an den Ersten Weltkrieg. Es sei diese Idee, dass Großbritannien alleine stehe, dieser Mythos, England stehe gegen Europa, der die Europaskeptik der Briten nähre. Die Stimmen für die UKIP seien sehr viele Proteststimmen, ergänzte Richard Evans.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Bei uns in Deutschland hat sich durch die Wahlen zum Europäischen Parlament am Sonntag nur wenig geändert, abgesehen davon, dass es einige kleine und Kleinstparteien ins Europäische Parlament geschafft haben. In anderen Ländern waren die Ergebnisse dagegen deutlich gravierender, zum Beispiel in Großbritannien. Dort hat sich die europakritische UK Independence Party zu einer treibenden Kraft entwickelt. Sie schickt die meisten britischen Abgeordneten nach Brüssel und sie könnte Premierminister David Cameron in den kommenden Jahren das Leben sehr, sehr schwer machen, denn sie will – das steckt schon in ihrem Namen drin – das Land aus der EU herausführen. Viele fragen sich jetzt, was ist los auf der Insel, dass so eine Partei eine solche Wahl gewinnt. Wir können das jetzt einen der bekanntesten britischen Historiker fragen, Richard Evans, Professor für moderne Geschichte in Cambridge. Schönen guten Morgen!
Richard Evans: Guten Morgen.
Armbrüster: Herr Evans, sind die Briten wirklich so EU-feindlich?
Evans: Nein, das ist in etwa eine Täuschung. Erstens sind die Stimmen für die UK Independence Party sehr viele Proteststimmen. Wir haben eine ungewöhnliche Lage in der britischen Politik. Das heißt, wir haben eine Koalitionsregierung zwischen den Liberalen und den Konservativen. Früher haben die Konservativen, die mit ihrer konservativen Regierung nicht zufrieden sind, für die Liberalen gestimmt, wenn die Liberalen in der Opposition sind. Nun gibt es wieder eine konservative Regierung, aber mit den Liberalen. Also die Möglichkeit für die konservativen Wähler, gegen die Regierung eine Proteststimme zu machen, ist weg. Sie protestieren, indem sie für die UKIP stimmen.
Armbrüster: Aber, Herr Evans, wenn nun eine Partei bei so einer Wahl die stärkste Kraft wird, dann muss dahinter doch etwas mehr stecken als ein reiner Protest.
Evans: Genau. Laut Meinungsumfragen wollen etwa die Hälfte der Wähler, die für die UKIP stimmen, schon wieder bei den Generalwahlen, bei den Parlamentswahlen im nächsten Jahr, für die UKIP stimmen. Vielleicht nur die Hälfte davon sind Protestwähler. Das ist natürlich die allgemeine Unzufriedenheit, die überall in Europa sich bemerkbar macht, über die wirtschaftliche Lage, über den Sozialabbau, über die Wirtschaftspolitik der Regierung. Das ist eine Unzufriedenheit, die nicht nur in Großbritannien sich bemerkbar macht.
Die jüngeren Briten haben nicht so stark für die UK Independece Party
Armbrüster: Sie macht sich natürlich auch hier bei uns in Deutschland bemerkbar, allerdings mit einer Partei, mit der AfD, die wesentlich, sagen wir mal, vorsichtiger auftritt als die UKIP und die vor allem bei Weitem nicht so viele Stimmen bekommt. Woher kommt denn diese, sagen wir mal, nicht unbedingt Europafeindlichkeit, aber diese europaskeptische Haltung der Briten?
Evans: Ja, da kann man historische Gründe anführen. Großbritannien war im Gegensatz zu den meisten Ländern der EU nicht von den nationalsozialistischen Truppen besetzt, hat diese Erfahrung nicht gehabt. Die treibende Kraft der europäischen Einigungsbewegung ist vielleicht der Wunsch diese Konflikte, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Europa heimgesucht haben, nicht wieder zu erfahren, und das spürt man in Großbritannien eigentlich nicht.
Armbrüster: Das heißt, diese Nachwehen des Zweiten Weltkrieges, die wirken auch in so einem Wahlergebnis noch nach?
Evans: Ja! Ich glaube, ja. Die Erinnerung, die öffentliche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist sehr stark in Großbritannien, sogar die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird hierzulande in Großbritannien sehr heiß diskutiert und debattiert. Das ist so die Idee, Großbritannien oder England steht allein in einer Welt der Feinde. England gegen Europa, das ist sozusagen der Mythos, der historische Mythos, der die Europafeindlichkeit nährt.
Armbrüster: Und das gibt es auch noch bei jüngeren Briten, die möglicherweise nur durch ihre Urgroßeltern noch mit diesen geschichtlichen Ereignissen verbunden sind?
Evans: Nein, nicht unbedingt. Die jüngeren Briten haben nicht so stark für die UK Independence Party gestimmt. Das sind vor allen Dingen ältere Leute, ältere Männer, die in der Provinz wohnen. Das sind die Stammwähler sozusagen der Konservativen. Die jüngeren Briten stimmen für die Labour Party vor allem. Das sieht man zum Beispiel in London. London bietet ein ganz anderes Bild als Großbritannien im Allgemeinen. London hat überwiegend für die Labour Party gestimmt, die UKIP ist nicht so erfolgreich gewesen. London ist vorwiegend multikulturell, jung, also ganz anders als die Provinz. Und im Übrigen kann man nicht aus dieser Wahl schließen, dass die Briten absolut oder in der Mehrheit europafeindlich sind. Selbst die Wähler, die für die UK Independence Party stimmen, haben Europa nicht als erstes auf der Liste der Prioritäten. Das ist Einwanderung, wirtschaftliche Lage und so weiter. Die Meinungsumfragen ergeben, dass die Idee des Austrittes aus der EU nicht so stark unterstützt wird als die Politik, dabei zu bleiben.
Armbrüster: Richard Evans war das, Professor für moderne Geschichte an der Universität Cambridge. Besten Dank für dieses Gespräch heute Morgen, Herr Evans.
Evans: Auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.