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Evangelische Gottesdienste
Um neue Predigtordnung wurde gerungen

Seit diesem Advent hat die evangelische Kirche eine neue Lese- und Predigtordnung. Das Alte Testament bekommt mehr Raum, biblische Frauengestalten werden wichtiger. Um manche Änderungsvorschläge gab es leidenschaftliche Auseinandersetzungen.

Von Carsten Dippel | 04.12.2018
    Evangelischer Konfirmationsgottesdienst in der Lutherkirche von Griesheim (Kreis Darmstadt-Dieburg)
    Am 1. Advent wurde eine neue Perikopenordnung eingeführt. Sie legt fest, was künftig in allen der EKD angehörigen Kirchen gepredigt und gelesen wird (picture alliance / dpa / Roland Holschneider)
    Das neue Lektionar ist großformatig, grau, mit einem Kreuz in Prägedruck. Wer es aufschlägt, wird überrascht sein über manch neuen Text, der bislang im evangelischen Gottesdienst nicht zu finden war.
    "Wenn nun der Geist Gottes über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So erquickte sich Saul, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm."
    Der Harfe spielende David vor König Saul - am Sonntag Kantate wird zu diesem Vers aus dem ersten Buch Samuel künftig gepredigt. Vieles wurde bewahrt. Doch manches hat sich grundlegend verändert.
    Reaktion auf neue theologische Entwicklungen
    Mit der revidierten Ordnung ihrer Predigten, Lesungen und Lieder an den Sonn- und Feiertagen will die evangelische Kirche den Klangraum des Gottesdienstes, wie Deeg sagt, behutsam verändern. Damit wird auf theologische Entwicklungen reagiert, die neue Fragen aufgeworfen haben: Kommen Frauen, die in der Bibel und im Glauben eine tragende Rolle spielen, angemessen vor? Erscheint die Bibel gleichwertig in ihren beiden Teilen, dem Alten und dem Neuen Testament, hat das Alte Testament überhaupt eine eigene Stimme?
    Eine Veränderung der Lese- und Predigtordnung, selbst eine moderate, birgt dabei auch Risiken. "Perikope" kommt von "auslassen". Schon Luther stand vor der schwierigen Frage, was man für die Gottesdienstordnung aussuchen solle.
    Alexander Deeg ist Praktischer Theologe an der Universität Leipzig. Er hat die Arbeitsgruppe zur Revision der Perikopen geleitet. "Jede Ordnung von Lese- und Predigttexten hat ein grundlegendes Problem: Sie kann nicht die Bibel im Ganzen abbilden", sagt Deeg. "Das heißt, die Bibel ist immer reicher als jede Ordnung von Texten, die man dann vorsieht. Das heißt, jede Entscheidung für bestimmte Texte ist auch eine Entscheidung gegen andere Texte, die auch in der Bibel stehen. Dieses Problem ist uralt."
    Das Alte Testament steckt voller Geschichten
    In der neuen Perikopenordnung gibt es deutlich mehr Anteile von Texten aus der hebräischen Bibel. So treffen wir nun auf Jakobs Kampf mit den Engeln am Fluss Jabbok, auf Hagar und Ismael oder auf Hiob, der bisher nur am Rande vorkam. Erstmals wird nun auch zu Psalmen gepredigt.
    "Das Alte Testament ist ja ein riesiges, ein wunderbares Buch, eine große Bibliothek", sagt Deeg. "Wir wollen das Alte Testament gern weiter und breiter repräsentieren, vor allem seine Erzählüberlieferungen wahrnehmen. Das Alte Testament steckt voller Geschichten, die viele aus dem Kindergottesdienst noch kennen oder aus den Kinderbibeln, aber die bisher in unseren Gottesdiensten nicht vorkamen, weil sie nicht gepredigt wurden."
    Die Aufnahme dieser Texte, die jetzt ein gutes Drittel statt bisher ein Fünftel ausmachen, resultiert aus den Erfahrungen des christlich-jüdischen Dialogs, in dem sich Deeg seit vielen Jahren engagiert.
    "Die Auswahl des Alten Testaments in der bisherigen Ordnung ist so selektiv, ist so stark auf ein Christusereignis hin fokussiert, geht häufig nach dem Paradigma von Verheißung im Alten Testament, Erfüllung im Neuen Testament, dass es jetzt wirklich Zeit wird, das Alten Testament breiter wahrzunehmen. Ich glaube schon, dass sie die evangelische Predigt insgesamt verändern werden. Wir kriegen mehr jüdische Kontur in den Klängen des Gottesdienstes."
    Alexander Deeg bei einem Vortrag
    Alexander Deeg, evangelischer Theologe und Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig (imago stock&people/ epd-bild/ Norbert Neetz)
    Die elfköpfige Arbeitsgruppe bildete die ganze Bandbreite theologischer Positionen in den verschiedenen Landeskirchen ab. Nach einer einjährigen Erprobungsphase gingen Voten aus den Gemeinden ein. Zusätzlich gab es für jeden Interessierten online die Möglichkeit, Kritik, Anregungen, Wünsche zu äußern.
    Um manche Änderungsvorschläge wurde leidenschaftlich gerungen. Soll etwa die Geschichte der Königin von Saaba Eingang in die Predigt finden? Die Idee greift eine mittelalterliche Typologie auf: die Gegenüberstellung zur Geschichte der drei Weisen aus dem Morgenland. Man entschied sich nach langer Diskussion, an diese altkirchliche Tradition anzuknüpfen. Martin Evang ist theologischer Referent im Kirchenamt der EKD:
    "Ich verhehle nicht, ich freue mich, dass die Königin von Saaba jetzt an Epiphanias alle sechs Jahre gepredigt wird. Mein Argument dafür war, dass wir einen vielfältigen Zugang, auch hermeneutische Begründungen bei der Auswahl alttestamentlicher Texte auch zulassen können."
    Um den Stellenwert des Alten Testamentes hat es vor zwei Jahren eine lebhafte Debatte gegeben. Der Berliner Neutestamentler Notger Slenczka ging so weit zu sagen, das Alte Testament sei als Predigttext für den evangelischen Gottesdienst nicht mehr relevant. Die Wertschätzung, die dem älteren Teil der Bibel künftig entgegenkommt, geht in eine andere Richtung.
    Evang: "Die Perikopenordnung, wenn man das mal in einem größeren theologiegeschichtlichen Rahmen sieht, macht damit ernst, dass die Bibel der christlichen Kirche von allem Anfang an die Heilige Schrift Alten und Neuen Testamentes gewesen ist", sagt Martin Evang.
    Nicht nur die hebräische Bibel erfährt in der neuen Perikopenordnung eine deutliche Aufwertung. Auch die biblischen Frauengestalten rücken stärker in den Blick. Hagar, Ruth oder etwa die Prostituierte Rahab aus dem Buch Josua.
    Martin Evang: "Es kommt weniger darauf an, ob Frauen in einem Text vorkommen, sondern es kommt darauf an, welche Texte spiegeln die Lebenswirklichkeit, die Beziehungswirklichkeit von Männern und Frauen. Wichtig ist, wie wird mit diesen Texten umgegangen, wie werden sie reflektiert, wie werden die Probleme, die darin stecken, thematisiert", sagt Evang.
    Emotionaler Streit um Wochenlieder
    Besonders emotional wurde es bei der Frage der Revision der Wochenlieder, sagt Evang. Aus vielen Gemeinden kam der Wunsch nach einer spürbaren Veränderung im Vergleich zur alten Ordnung.
    "Dort waren sehr viele Lieder aus dem Reformationszeitalter, die dort vielleicht nie vertraut waren Lieder und es war ein erklärtes Ziel von allen, zu einer deutlichen Modernisierung zu kommen und neueste Lieder, soweit sie sich bewährt haben, in diese Ordnung aufzunehmen."
    Für all die Texte, die neu in die Perikopenordnung aufgenommen wurden, sind andere weggefallen. Das betrifft vor allem Episteltexte. Den Vorwurf, dass damit zentrale Paulustexte fehlen, lässt Evang nicht gelten. Paulus sei schließlich noch immer stark vertreten.
    Manche Revisionsvorschläge wurden jedoch auch zurückgewiesen. Ein Beispiel dafür ist die Geschichte der "bösen Weingärtner" aus dem Markusevangelium, ein klassisches Sonntagsevangelium, das in der christlichen Deutung jedoch immer als Gleichnis für die Zurückweisung des Gottessohnes durch das Volk Israel stand. Die Kommission schlug vor, dies aufgrund seiner antijüdischen Tendenz zu entfernen. Auf diesen Text aber gänzlich verzichten, da wollten viele nicht mitgehen. Der Kompromiss: Er steht nun nicht als Evangelienlesung, sondern als einer der Predigttexte in der neuen Ordnung.
    "Es ist ja gar nicht schlecht, dass in der gottesdienstlichen Wirklichkeit darüber gepredigt wird, welche problematischen Züge in unserer Tradition enthalten sind", sagt Martin Evan. "Wenn man sie eliminiert, sind sie nicht Thema. Indem man sie aber zu Predigttexten macht, kann über sie reflektiert und ein besonnener Umgang eingeübt werden."
    Nikolaus- und Martinstag neu im Kalender
    Beibehalten wird der sechsjährige Jahreszyklus. An jedem Sonn- und Feiertag gibt es weiterhin jeweils drei Predigt- und Lesetexte. Insgesamt fällt die Revision der Perikopen bei allen sichtbaren Veränderungen dennoch moderat aus.
    Eine kleine Sensation hält das neu justierte Kirchenjahr bereit: Künftig wird im evangelischen Kalender der Nikolaus- und Martinstag verankert sein, obwohl sie keine biblischen Heiligen darstellen. Kirchliche Gedenktage wird es zudem am 9. November und am 27. Januar geben. Neu ist nun auch, dass die Weihnachtszeit in der evangelischen Kirche offiziell bis Lichtmess am 2. Februar reicht.
    "Die neue Perikopenordnung wird nicht den Trend umkehren, dass die Kirchen kleiner werden", sagt MArtin Evang. "Aber die neue Perikopenordnung ist im Wissen darum ein Dokument dafür, dass die Kirche mit ihrer Traditionsbindung mit der Zeit geht."