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Exil-Haitianer Anthony Phelps
"Duvalier war wie das Krebsgeschwür Haitis"

Die Literatengruppe "Haiti Littéraire" war ein Zentrum des intellektuellen Widerstands gegen den Diktator François Duvalier. Ihr Mitbegründer Anthony Phelps floh 1964 wie viele seiner Mitstreiter nach Kanada. Mit "Der Zwang des Unvollendeten" hat er nun einen Roman über den Verlust der eigenen Heimat geschrieben.

Von Cornelius Wüllenkemper | 01.06.2015
    Zwei Kinder vor einer ärmlichen Baracke, Armenviertel Fort National, Port-au-Prince, Haiti.
    In seinem bereits 2006 auf Französisch und jetzt auf deutsch erschienenen Roman "Der Zwang des Unvollendeten" beschreibt Phelps seine Rückkehr in die einstige Heimat nach Ende der Duvalier-Ära. (imago/imagebroker)
    "Man kann die intime Verbindung zur eigenen Heimat auf Dauer nicht aufrechterhalten. Dafür gibt es zu viele Dinge, die passieren, und von denen man nichts weiß. Es gibt Menschen, die ziehen sich plötzlich aus der Politik zurück, oder sie hören auf zu schreiben, und man weiß nicht weshalb. Wenn man dann nach Jahrzehnten aus dem Exil nach Hause zurückkehrt und Abends mit den früheren Freunden am Tisch sitzt und sich austauscht, fallen Andeutungen und Kommentare über bestimmte Menschen oder Entwicklungen, die man nicht versteht. Das ist einfach nur peinlich."
    Verlust der eigenen Heimat
    Der heute 86-jährige haitianisch-stämmige Autor Anthony Phelps hat mit "Der Zwang des Unvollendeten" einen Roman über den Verlust der eigenen Heimat geschrieben. Der "Zwang des Unvollendeten", das ist für Phelps Romanheld Simon eine Frau, mit der er als junger Mann eine Liebschaft begann, bevor er vor den Mordkommandos des Diktators Fançois Duvalier ins Exil fliehen musste. Um sie endlich ganz zu erobern, kehrt Simon nach dem Sturz des Diktators zurück. Phelps selber hat sein Land 1964 nach einem Aufenthalt in Duvaliers Verhörkellern verlassen. Seine Gedichte und das Umfeld der Literatengruppe "Haiti Littéraire" hatte den Unwillen Duvaliers auf sich gezogen.
    "Es ging nicht nur um unsere Literatur, sondern auch um unsere politischen Standpunkte. Die Freunde von "Haiti Littéraire", das waren Kommunisten, Christen oder was auch immer, sie waren alle gegen Francois Duvalier. Duvalier war wie das Krebsgeschwür Haitis. Man durfte allerdings nicht offen gegen ihn sein, jedenfalls, wenn einem etwas am Leben lag. Diese Zeit war schrecklich, aber zugleich auch bereichernd. Denn die Stärke der Literatur, das sind die Wörter. Wir mussten Wörter finden, die zwar den Kern trafen, die uns aber nicht ins Gefängnis bringen würden. Sie mussten "Weg mit Duvalier!" bedeuten, auch wenn wir das natürlich mit keinem Wort so sagten."
    Dreißig Jahre Diktatur und Gewalt
    Phelps Alter Ego Simon, der Bildhauer und "Schriftsteller im Ruhestand", will nach der Rückkehr in seine frühere Heimat endlich den Roman schreiben, in dem er mit seiner Vergangenheit aufräumt. An der Seite exemplarischer Figuren durchstreift Simon das Land auf der Suche nach den Überresten seiner Erinnerung. Was er findet, ist eine durch dreißig Jahre Diktatur und Gewalt zerrüttete, äußerst widersprüchliche Gesellschaft. Das Figurenarsenal von ausländischen Journalisten, hoffnungsvollen Exil-Rückkehrern, desillusionierten haitianischen Bildungsbürgern und obskuren Voodoo-Beschwörern inszeniert Phelps wie eine Spiegelung seiner eigenen Rückkehr nach dem Sturz des Diktators Duvalier im Jahre 1986.
    "Wir haben damals einen Film über meine Jugend in Haiti gedreht. Nach der Duvalier-Ära brach erst einmal alles zusammen. Ich habe dann ein paar Projekte für das Kulturministerium übernommen. Wir erlebten einen Regierungssturz nach dem anderen. Alle waren damals für den zukünftigen Präsidenten Aristide. Nach ein paar Monaten im Amt habe ich ihn getroffen, und er sagte mir, dass das Militär ihn soeben gestürzt habe. Die alten Seilschaften existieren bis heute. Bald wird in Haiti wieder gewählt - es gibt 110 verschiedene Parteien! Und wieso? Weil jeder Parteichef einen Anspruch auf Wahlkampfmittel hat, nur deswegen. Ich sehe keine Zukunft für dieses Land. Und doch schreibe ich darüber, weil es der einzige Stoff ist, über den ich schreiben kann."
    Erinnerungsüberreste seiner glücklichen Jugend
    Phelps Romanheld Simon fühlt sich im "Psychodrama, das im ganzen Land gespielt wurde" und angesichts der Lynchmorde an den früheren Duvalier-Schergen wie ein Fremder in der eigenen Heimat. Und doch gibt es sie noch, die Erinnerungsüberreste seiner glücklichen Jugend. Laue Karibiknächte, in denen man mit einem Glas Barbancourt-Rum in der Hand auf der Pergola alter Kolonialhäuser über das subversive Potenzial von Theater, Lyrik und naiver Malerei diskutierte. Als man eine befreite, gleichberechtigte Erotik lebte und den Voodoo-Kult vor allem als spirituellen Weg zur Lösung emotionaler Konflikte oder Streitigkeiten mit dem Nachbarn verstand. Oder war es doch anders?
    Phelps lässt in seinem vielschichtigen Roman vieles in der Schwebe, allem voran die Verlässlichkeit seines Erzählers. Ist die junge Künstlerin Clara, mit der Simon die Insel durchstreift, die Wiedergängerin seiner einstigen unvollendeten Liebe, oder ist sie doch nur eine fantasierte Figur aus Simons Romanfragmenten? Das zweigespaltene Verhältnis zu seiner Heimat bildet Phelps literarisch äußerst raffiniert durch ein kunstvolles Spiel mit Perspektiven, Handlungsebenen und Erinnerungsversatzstücken ab. Am Ende bleibt Simons Roman-Projekt über seine Vergangenheit unvollendet. Es gehört zu den faszinierenden Widersprüchen dieses großartigen Romans, dass Anthony Phelps über die Geschichte eines literarischen Scheiterns seine Heimat als Autor wiederfindet.
    Anthony Phelps: "Der Zwang des Unvollendeten." Aus dem Französischen von Peter Trier. Litradukt-Verlag 2015, Trier, 169 Seiten.