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Experte begrüßt geplante EU-Verfassung

Dirk Müller: Am Telefon sind wir nun verbunden mit Thomas Fischer, Europaexperte der Bertelsmann-Stiftung. Guten Tag.

Moderation: Dirk Müller |
    Thomas Fischer: Guten Tag, Herr Müller.

    Müller: Herr Fischer, wenn wir jetzt einmal davon ausgehen, das funktioniert diesmal in Brüssel mit der neuen EU-Verfassung. Gibt es dann ein besser funktionierendes Europa?

    Fischer: Ja, davon können wir ausgehen, die neue EU-Verfassung bedeutet Verbesserungen in dreierlei Hinsicht, wir werden eine höhere Handlungsfähigkeit und eine bessere politische Fühlbarkeit der Europäischen Union haben. Das ist besonders wichtig, weil wir ja zum ersten Mai eine Erweiterung von 15 auf 25 Mitgliedsstaaten hatten, zum Zweiten werden sie ein demokratischeres und stärker rechtsstaatlich fundiertes Europa haben, das hängt vor allen Dingen damit zusammen, dass das Europäische Parlament gestärkt wird und die Grundrechtecharta, die rein proklamatorischen Charakter bisher hatte, fester Bestandteil dieser EU-Verfassung sein wird und zum Dritten werden sie ein Stück weit auch ein Europa haben, das leichter verständlich ist für den Bürger, das liegt zum einen daran, dass es mit der neuen Verfassung doch erhebliche Vereinfachungen des Vertragswerkes gegenüber der bestehenden Vertragslage gibt und zum anderen haben sie das erste Mal so etwas wie eine durchschaubare Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und ihren Mitgliedsstaaten, das war bislang ein relativ großes Durcheinander in den bisherigen Verträgen.

    Müller: Herr Fischer, gehen wir doch noch einmal auf den ersten Punkt ein, den Sie angeführt haben, nämlich die Handlungsfähigkeit. Die soll verbessert werden, die soll effektiver werden, auf der anderen Seite gibt es dort ja so neue Regelungen, wie beispielsweise ein neuer EU-Ratspräsident, dann gibt es einen EU-Kommissionspräsidenten, dann gibt es einen europäischen Außenminister, den soll es jedenfalls geben, der aber natürlich auch die nationalen Außenpolitiken der Mitgliedsstaaten nicht konterkarieren kann. Das hört sich alles sehr kompliziert an. Warum wird Europa effektiver?

    Fischer: Nun, Herr Müller, man muss sagen, Europa wird auf absehbare Zeit sicher keines der am leichtesten verständlichen politischen Systeme, wie wir sie eben im nationalen Rahmen kennen. Aber es gibt graduelle Verbesserungen, nehmen wir mal das von Ihnen zuerst genannte Stichwort, Europäische Ratspräsidentschaft. Bisher haben wir eine Regelung, die vorsieht, dass alles halbe Jahr ein anderer Mitgliedsstaat im Rotationsverfahren dieses Amt ausführt, derzeit sind es eben die Iren. Sie haben künftig vorgesehen, dass sie einen gewählten EU-Ratspräsidenten haben, der auf zweieinhalb Jahre im Amt sein wird und dessen Amtszeit noch mal verlängert werden kann, damit haben sie immerhin mit zweieinhalb Jahren eine Amtszeit, mit der sie strategische Ausrichtung der europäischen Politik doch stark mitprägen können in diesem Amt, das ist bei einem halbjährigen Turnus im Grunde genommen nicht machbar. Sie haben eine Kommissionszusammensetzung, das sieht jetzt immerhin der letzte Kompromissvorschlag der Iren vor, dass die Kommission zunächst auf ein Mitglied pro Mitgliedstaat verringert wird und dann haben sie aber ab 2014 eine verkleinerte Kommission, das erhöht natürlich die politische Führbarkeit und sie haben im Rat zukünftig Abstimmungsverfahren mit dieser doppelten Mehrheitsregel, die die Bildung von Gestaltungsmehrheiten gegenüber Verhinderungsmacht deutlich erleichtern wird, wenn man jetzt den irischen Kompromissvorschlag vergleicht mit der bestehenden Rechtslage des Nizza-Vertrages.

    Müller: Herr Fischer, Sie sehen also nicht die Gefahr, dass ein gestärkter EU-Ratspräsident, zweieinhalb Jahre im Amt, der wird entsprechend auch Kompetenzen und Autorität entwickeln, dann plötzlich Probleme bekommen wird mit seinem Gegenüber, dem Kommissionspräsidenten?

    Fischer: Nein, das Problem sehen ich im Grunde genommen nicht. Wir haben ja heute schon relativ undurchschaubare Verhältnisse zwischen der Rolle der Ratspräsidentschaft oder des Europäischen Rates an sich und eben dem Kommissionspräsidenten. Ich denke aber, dass gerade dadurch, dass eben längere Amtszeiten vorgesehen sind und der Kommissionspräsident an der Spitze der künftigen Europäischen Kommission auch eine stärkere Richtlinienkompetenz wahrnehmen wird, einfach die Abstimmungsmodalitäten zwischen beiden Ämtern eher vereinfacht als erschwert werden.

    Müller: Stimmengewichtung ist ein anderes Stichwort. Wir haben gerade von dieser neuen Formel gehört, die die Iren ins Spiel gebracht haben, 55 zu 65, auch das ist ein kompliziertes Verfahren. Braucht die Europäische Union demnächst Mathematiker, um Politik machen zu könne?

    Fischer: Nun, Mathematiker braucht sie eigentlich schon bei der derzeitigen Rechtslage von Nizza. Sie haben derzeit nämlich ein dreifaches Mehrheitserfordernis, sie benötigen zum einen eine bestimmte Mehrheit an gewichteten Stimmen, sie benötigen eine Mehrzahl der Mitgliedsstaaten, um eben Mehrheitsbeschlüsse treffen zu können und dann sieht der Nizzavertrag auch noch vor, dass einzelnen Mitgliedsstaaten fordern können, dass 62 Prozent der EU-Bevölkerung erforderlich sind, sie haben dann also eine dreifache Mehrheit. Was an der Kompromissformel der Iren problematisch ist gegenüber dem ursprünglichen Konventsvorschlag der doppelten Mehrheit, ist jetzt weniger, dass man die Schwellen auf Staatenmehrheitsseite und Bevölkerungsmehrheitsseite erhöht hat, nämlich jeweils von 50 auf 55 Prozent bei den Staaten und von 60 auf 65 Prozent bei der Bevölkerung, es ist eher dieses Erfordernis, dass man künftig mindestens vier Staaten braucht, also jenseits der 35 Prozent der Bevölkerung, die man eben allein nach der Mehrheitsregel zur Entscheidungsverhinderung benötigen würde, um eben Entscheidungen nicht durchsetzen zu können. Damit ergibt sich ein kleines Paradoxon, weil sie natürlich, wenn sie die doppelte Mehrheit nach dieser doppelten Mehrheit nicht erreichen, sie nicht mehr sagen würden, ja, damit ist der Beschluss vom Tisch. Jetzt brauchen sie aber zusätzlich eben noch die vier Staaten, um eben die Entscheidung nicht zustande kommen zu lassen. Das wird sicher in den Ratssitzungen interessant, in den ersten Ratssitzungen, die eben nach der neuen Mehrheitsregel dann entscheiden.

    Müller: Herr Fischer, um die Sache jetzt nicht zu einfach werden zu lassen, da gibt es auch noch ein Vetorecht oder verschiedene Vetorechte, beispielsweise Steuer- und Finanzpolitik, die Briten haben darauf gedrängt. Ist das eine Behinderung der Politik?

    Fischer: Ja, da muss man sagen, im Grunde genommen schadet die Entscheidung der Blair-Regierung, innerstaatlich eben ein Referendum über die EU-Verfassung durchzuführen, der Handlungsfähigkeit Europas doch relativ stark. Die Briten sind damit in der Lage, in die Verfassungsberatungen reinzugehen, mit dem Hinweis, wir haben einfach vor dem Hintergrund dieses anstehenden Referendums wenig Verhandlungsspielraum und können dann gut argumentieren, dass eben Einstimmigkeit oder der Beibehalt von Einstimmigkeit in kritischen Bereichen wie Steuer- und Haushaltspolitik, wie Sozialpolitik, wie Außen- und Sicherheitspolitik zum Teil auch in der Innen- und Justizpolitik, dort sind in Britannien einfach Mehrheitsentscheidungen einfach nicht durchsetzbar und die Briten werden eben reingehen und einfach gegenüber den anderen Staats- und Regierungschefs erklären, wir haben dort unsere Redlines, wir können uns nicht bewegen und man sieht ja, es sieht jetzt tatsächlich so aus, als ob gerade in diesen Bereichen, wo Europa künftig größere Handlungsfähigkeit benötigt, an der Einstimmigkeit festgehalten wird. Das ist hochgradig bedauerlich.

    Müller: Über ein komplexes Europa war das Thomas Fischer, Experte der Bertelsmann-Stiftung. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Fischer und auf Wiederhören.

    Fischer: Vielen Dank, Herr Müller, auf Wiederhören.