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Extremismus in Sachsen
Anti-demokratisch und anti-staatlich

Für viele steht das Bundesland Sachsen inzwischen gleichbedeutend mit "Heimat von Pegida" und gilt als Brennpunkt ausländerfeindlicher Ausschreitungen. Wie ist es dazu gekommen? Und vor allem: Warum passiert das alles so häufig in Sachsen? Soziologen und Psychologen haben jetzt eine kritische Bestandsaufnahme vorgelegt.

Von Bastian Brandau | 07.11.2016
    Teilnehmer der islamkritischen Pegida-Demonstration in Dresden.
    Teilnehmer der islamkritischen Pegida-Demonstration in Dresden. (picture alliance / dpa / Peter Endig)
    Wer in Sachsen über Extremismus spricht, kommt an der Extremismustheorie nicht vorbei, sitzen an den Technischen Universitäten in Dresden und Chemnitz doch prominente Vertreter dieser These. Die Extremismustheorie besagt, dass sich die Gegner einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung links und rechts an den Rändern der Gesellschaft sammeln. Die sogenannte "Hufeisentheorie" spitzt sogar noch zu: Sie will erkannt haben, dass sich die linken und rechten Extreme sogar annähern - eben wie die Enden eines Hufeisens. Links- und Rechtextremismus gleichzusetzen, gehört auch zur Gewissheit vieler Politiker der seit 1990 in Sachsen regierenden CDU. Kritiker der Extremismustheorie bemängeln, sie setze sich nicht ausreichend mit den unterschiedlichen Ausprägungen der rechts- und linksextremen Szenen und Formen auseinander. Sie sprechen lieber vom "Autoritarismus" oder dem "Extremismus der Mitte", den der US-amerikanische Soziologe Lipset zuerst auf den Nationalsozialismus angewendet hatte.
    Überdurchschnittlich hohe rechte Gewalt
    In "Extremismus in Sachsen" lassen Gert Pickel und Oliver Decker beide Theorien nebeneinander stehen, dies sei vor allem den Besonderheiten eines Sammelbandes geschuldet, erläutert der Religionssoziologe Pickel:
    "Man könnte sich immer auf eine Seite schlagen. Das wäre erstens den Autoren, die auch ganz unterschiedliche Positionen haben, gegenüber nicht fair. Und zweitens ist es vielleicht auch dem Begriff selber gegenüber nicht fair. Man sollte schon anerkennen, dass es so etwas wie Links- und Rechtsextremismus gibt. Ob es ein Hufeisen ist oder ob es anders aufgeteilt ist, da kann man sich drüber streiten. Nur ein paar Feststellungen kann man machen, bei ein paar muss man auch etwas offen sein, welche Möglichkeiten bestehen. Wir haben da versucht, über die empirischen Ergebnisse das ein wenig zu sortieren aber so eindeutig ist es dann halt nicht. Dass einzige, was man sagen kann, ist, das Extremismus was ist, was jenseits von einer bestimmten Demokratieform stehen möchte und sozusagen antidemokratisch und antistaatlich aufgestellt ist."
    Eine Gewichtung zwischen Links und Rechts nimmt der Band dann rein zahlenmäßig vor: Die ganz überwiegende Mehrheit der fünfzehn Beiträge befasst sich mit den Stichworten "Rechtsextremismus" und "Islamfeindlichkeit". Als hilfreiche Erkenntnis nimmt der Leser mit: In Sachsen gab es 2015 nach offizieller Statistik des Bundesinnenministeriums fast dreimal so viel rechte Gewalttaten pro 100.000 Einwohner wie im Bundesdurchschnitt. Und die Zufriedenheit mit der Demokratie im Alltag in Deutschland fällt geringer aus.
    "Sachsen sind mobilisierbarer"
    Hervorstechend sei in Sachsen außerdem eine massive Parteien- und Politikverdrossenheit. Alles schlüssige Erklärungsansätze für die Kernfrage: Warum Sachsen? Der Vergleich unter den ostdeutschen Bundesländern jedoch zeige: In vielen Statistiken rage Sachsen keineswegs heraus. Mit den Menschen in Thüringen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern - so die These - teilten die Sachsen die Erfahrung des Umbruchs, das anhaltend verbreitete Gefühl, benachteiligt, zu kurz gekommen zu sein. Die Freiheiten, die nach 1990 der rechten Szene vor allem in den ländlichen Gebieten eingeräumt wurden, gehören ebenso dazu. Aber, so Herausgeber Gert Pickel, es gebe in Sachsen auch so etwas wie eine spezifische politische Kultur:
    "Und dann kommt noch ein stärkeres Muster autoritärer Orientierung hinzu, zweitens aber auch ein anderer Aspekt, den ich wichtig finde, der ursprünglich mal positiv gedacht war. Eine besonders starke Neigung, auf die Straße zu gehen. Das ist in Sachsen deutlich stärker als woanders, als in Brandenburg ausgeprägt. Man ist sich eigentlich da sehr nahe, aber ich kenne meine Brandenburger ein wenig und bei denen ist man auch nicht wesentlich freundlicher eingestellt gegenüber Muslimen, ist man vielleicht auch nicht wesentlich freundlicher eingestellt gegenüber Politikern. Aber die Erfahrung in Sachsen ist – und Erfahrung ist natürlich ein wichtiger Aspekt - dass man es an einer Stelle schon mal bewirkt hat und da kann man es nochmal probieren, nur dass man dieses Mal nicht bei allen auf Zustimmung trifft."
    Polizeischutz bei Buch-Vorstellung
    Das gilt natürlich vor allem für Pegida-Anhänger, die seit knapp zwei Jahren in Dresden regelmäßig auf die Straße gehen. Beispielhaft hier für den positiven Erkenntnisgewinn, den der Sammelband insgesamt für all jene liefert, die sich dem Thema Extremismus in Sachsen aber auch generell annähern möchten, ist der Aufsatz der Forschungsgruppe um Hans Vorländer mit ihrer These vom sächsischen Chauvinismus. Dazu gehören ebenso Aussteigerberichte aus der rechten Szene. Sie verschaffen einen Einblick in diese Szene und in den Kreis derer, die sie in einer sächsischen Kleinstadt bekämpfen. Ein anderer Beitrag verdeutlicht die regionalen Unterschiede bezüglich des Rechtsextremismus in Sachsen. Die Untersuchung zur Islamfeindlichkeit dort, wo es kaum Muslime gibt, ist bezeichnenderweise bei einer Buchvorstellung an der TU Dresden durch einige Besucherinnen praktisch untermauert worden. Sie argumentierten offen rassistisch, um dann zuzugeben, dass sie noch nie mit einem Muslim gesprochen hätten.
    Sächsischer Alltag - ebenso wie die zwei Polizeibeamten, die bei dieser Veranstaltung präsent waren. Eine Buchvorstellung, die von der Polizei abgesichert werden muss: Über Extremismus zu forschen sei eben etwas anderes als über den Länderfinanzausgleich, darauf zielt auch ein im Buch abgedrucktes Gespräch der Herausgeber mit dem Extremismusforscher Steffen Kailitz von der TU Dresden. Es macht die Bedrohungen und Gefahren deutlich, denen sich Extremismusforscher bei ihrer Arbeit ausgesetzt sehen. Wohl mit ein Grund, warum dieses Feld nicht besonders beliebt ist - trotz seiner Aktualität und gesellschaftspolitischen Dynamik.
    Extremismus in Sachsen: Diese kritische Bestandsaufnahme liefert gute Einblicke, um sachlich fundiert über den gegenwärtigen Extremismus in Sachsen und anderswo mitdiskutieren zu können. Man würde sich wünschen, dass insbesondere in Sachsen dieses Buch eine weite Verbreitung finden möge.
    Gert Pickel, Oliver Decker (Hg.): "Extremismus in Sachsen. Eine kritische Bestandsaufnahme"
    Edition Leipzig, 2016. 160 Seiten, 12,95 Euro.