
Eine Festrede sei im Allgemeinen leichter anzukündigen, als zu halten, und manchmal falle sie nicht ganz so fröhlich aus, wie es der Anlass verdient hätte, fügt Lammert fast entschuldigend hinzu. Dann nimmt er die jüngsten fremdenfeindlichen und rassistischen Ereignisse in Sachsen in den Blick und wird ganz ernst: "Wenn die Mehrheit zu leise ist, wird die Minderheit zu laut. Wenn die Mehrheit schweigt, dröhnt die Minderheit."
Nach wie vor folgen montags immer noch 3.000 bis 5000 Menschen dem Ruf der selbst ernannten Bürgerbewegung zur "Rettung des Abendlandes" durch die dann fast menschenleere Innenstadt zu ziehen. Der Hype von über 20.000 Teilnehmern liegt zwar weit zurück, dennoch hat sich Bewegung auch nach einer Spaltung ihrer Anhängerschaft nicht aufgelöst - sondern verstetigt. Ihre fremdenfeindlichen und oftmals beleidigenden Parolen, die mit Vorliebe auf die demokratischen Institutionen und Volksvertreter abzielen, schallen weit über die Landesgrenzen hinaus, zum Schaden Sachsens, wie zwei Leipziger Abiturienten meinen.

"Bis hin zu der Tatsache, dass man mir auch mal den Galgen angedroht hat oder, dass ich meine gesamte Mischpoke wieder mitnehmen solle und das Land verlassen möge, ich sei ja nie hier heimisch geworden, und das sei auch nicht weiter zu erwarten und deshalb sei es auch gut, wenn wir alle - und damit ist wohl der Zuzug aus dem Westen gemeint, also die nicht in Sachsen Geborenen - sie mögen doch bitte wieder gehen."
Dass sich das gesellschaftliche Klima verschärft hat, merken neben Politikern, Journalisten und Wissenschaftlern auch diejenigen, die sich aktiv, politisch in der Flüchtlingsfrage engagieren.
"Ein kalter Wind weht durchs Land", betitelt die Sächsische Zeitung an diesem Mittwoch den Meinungsartikel des 24-jährigen Eric Hattke. Hattke ist Student der Philosophie und Geschichte an der TU Dresden. Er ist in der Landeshauptstadt bekannt als Sprecher des Netzwerks "Dresden für Alle" und hat in den letzten Monaten mehrere Projekte mit und für Flüchtlinge organisiert. Hattke schildert eindrücklich, wie sehr sich das Klima in der Stadt verändert hat, durch Pegida. Er schreibt:
"Die Bemerkung, dass nicht alle Opfer von Kriegen sind oder nicht alle, die in unser Land kommen, automatisch unsere Gesetze achten, scheint unnötig. Dennoch ist die mittlerweile unumgänglich geworden, will man in der jetzigen aufgeheizten Debatte nicht automatisch den Stempel des blauäugigen Naivlings tragen oder gar des 'Volksverräters' oder 'Volksschädlings'. Denn diese Stempel verpasst zu bekommen, bedeutet Gefahr, Gefahr für das eigene Leben, für die Familie und Freunde."

Diesem Eindruck wird seitens Politik und Wissenschaft noch heftig widersprochen. Stattdessen ist die Rede von einer erneuten Zeit der Verunsicherung nach der vereinigungsbedingten Transformation der ostdeutschen Gesellschaft. Nochmals der Politologe Hans Vorländer aus Dresden:
"Und das bricht jetzt wieder auf, weil jetzt wieder die Umwelt sich verändert und neue, unbekannte Gesichter dorthin kommen, Menschen, die man nicht kennt, die auch religiös sind, die auch andere kulturelle Hintergründe mit sich bringen, und das ist sozusagen ein Klima der Verunsicherung und der Instabilisierung auch der eigenen sozialen und auch politischen Psyche. Und das ist so eine Brutstätte dann eben doch für gelegentliche Grenzüberschreitungen."
"Die AfD ist nun in drei Landesparlamenten in der Pflicht, und damit sie diese Pflicht wahrnimmt, ist Pegida wichtiger und nötiger denn je. Schon oft hat man nämlich in der Geschichte gesehen, wie sich einstige Kämpfer fürs Volk nach Antritt ihrer Pöstchen ganz schnell in Systemlinge verwandelt haben. Und zum Schutz ihrer Saläre und Posten anfingen, mit dem Strom zu schwimmen."
Unter den Anhängern ist die Freude über den Einzug der AfD in die drei Landesparlamente von Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg groß, inhaltlich ist man sich ohnehin sehr nah: "Sie können jeden Pegida-Mann hier fragen, die sind alle für die AfD. In ihrer Politik. Wir haben dieselbe Meinung wie die AfD. Also das steht erst mal klar. Ob die AfD mit Pegida zusammen arbeiten will, ist eine andere Frage. Aber wir haben dieselbe Meinung! Ich bin kein Nazi!"
"Die meisten haben eine grundlegende Kritik daran, wie der Westen unseren Alltag managt, unsere Rahmenbedingungen. Das betrifft nicht nur die Zuwanderung, aber da fällt es am meisten auf! Es wirkt absolut planlos und chaotisch, unbedacht. Und dann ist es die Frage mit der Eurokrise, mit der Währungskrise, die seit Jahren dahin schwelt und keiner hat das Gefühl, dass irgendetwas im Positiven aufgelöst ist. Es gibt eine fundamentale Kritik an der Unfähigkeit der Politik, komplexe Probleme zu bearbeiten. Und da offensichtlich innerhalb der etablierten Parteien das nicht gehört wird und nicht weitergetragen wird, sagen die Leute, Ok, dann geh' ich eben zu Pegida."
Die Frage, wie es weitergehen soll in der Flüchtlingsfrage, spaltet inzwischen Eheleute, Familien, Kirchgemeinden, Freundeskreise und Vereine. Der Spalt geht mitten durch die Gesellschaft, nicht nur, aber augenfällig in Sachsen. Die skeptische bis feindselige Haltung gegenüber den ankommenden Flüchtlingen ist vielfach spürbar, oftmals verbunden mit einer Unwissenheit über Kultur, Gebräuche und Sitten der Neuankömmlinge. Die Reserviertheit durchzieht vielerorts auch die Amtsstuben der Behörden. Daneben gibt es unglaublich vielfältiges Engagement ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer, die sich um die Flüchtlinge kümmern und bemühen.

Wie kann es sein, dass sich die Fremdenfeindlichkeit so drastisch Bahn bricht, von jetzt auf gleich, wie es scheint? Der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer schaut in seiner Analyse zunächst zurück: "Ein Grund ist, dass Sachsen immer schon ein ungeklärtes Verhältnis zu rechten, rechtsextremen Gruppierungen gehabt hat, lange Zeit ist das ignoriert worden. Das heißt, wir haben einen Untergrund, ein Netzwerk von gewaltbereiten Gruppierungen aus diesem Milieu, NPD-nah, Kameradschaften, Hooligans, die schon immer eine gewisse Gewaltbereitschaft hatten, und das äußert sich jetzt und ist nie wirksam, wirklich bekämpft worden."
Nach der friedlichen Revolution und der Neugründung des Freistaates Sachsen habe dann lange die Meinung vorgeherrscht, Sachsen sei "immun" und wehrhaft gegen rechtsextremes Gedankengut, sagt Hermenau und fügt hinzu: "Da gibt es ein berühmtes Zitat von einem ehemaligen Ministerpräsidenten, die Sachsen seien gegen Rechtsradikalismus immun, das trifft nicht zu."
Die Opposition im sächsischen Landtag wirft dem Regierungschef, der zugleich Landesvorsitzender der seit 1990 regierenden Christdemokraten ist, vor, doppelzüngig zu arbeiten. Auf der einen Seite biete er das Bild des weltoffenen, toleranten und willkommensfreudigen Politikers, auf der anderen Seite lasse er seine Fraktion "Feuer an die Lunte" legen, wie Rico Gebhardt, der Landes- und Fraktionschef der Linken, im Landtag kritisiert: "Es war der CDU-Fraktionsvorsitzende Kupfer, also Sie, Herr Kupfer der in der vorletzten Woche in der 'Freien Presse' den Satz gesagt hat, Zitat: ' Die Bevölkerung braucht ein Zeichen in der Flüchtlingskrise, dass jetzt Schluss ist. Einige Bürger haben das daraufhin in Clausnitz in die Tat umgesetzt und ein Zeichen gesetzt. (Tumult) Ich nenne das politisches Zündeln und andere zünden dann tatsächlich in Bautzen."
Inzwischen hat die schwarz-rote Landesregierung erste Zeichen gesetzt. In einer Sondersitzung des Kabinetts wurde ein Millionen Euro-Paket geschnürt, welches die Integration von Flüchtlingen fördern und den weiteren Personalabbau bei Polizei und Justiz stoppen soll. SPD-Chef Martin Dulig: "Wir sind an einem Wendepunkt angekommen, wo wir Entscheidungen treffen müssen für mehr Sicherheit und für mehr Bildung und mehr Demokratie in Sachsen. Und das sind genau die Punkte, die wir in unsere Pakete geschnürt haben."

In Summe bedeutet das, dass die Stellen bei der Sächsischen Polizei bis 2020 um rund 1.700 aufgestockt werden. Die Justizbehörden erhalten 370 neue Stellen zusätzlich. Investieren will die Landespolitik nun auch intensiv in den Bereich der Politischen Bildung. Das sei längst überfällig, sagt der frühere Leipziger Thomaskirchenpfarrer Christian Wolff. Und gerät bei diesem Thema richtig in Fahrt: "Das Thema Politische Bildung ist in allen wesentlichen Institutionen vernachlässigt worden, Gewerkschaften, Kirchen, natürlich die Bildungseinrichtungen, Universitäten! Wo wird denn noch eine politische Debatte geführt? Wer mischt sich denn ein in die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung?"
Der streitbare Kirchenmann im Ruhestand hat jüngst einen Debattier-Jugend-Workshop ins Leben gerufen, damit interessierte Jugendliche sich üben können in der Kunst der politischen Debatte. Fast übereinstimmend schildern die jungen Leute, dass die Diskussion politischer Aktualität in ihren prall gefüllten Lehrplänen keinen Platz finde und die Lehrer zudem Angst hätten, sich politisch zu positionieren.
Ohne die Kirchen und die Kraft der Gemeinschaft im geschützten Raum wäre die friedliche Revolution von 1989 im Osten Deutschlands wohl anders verlaufen, das ist bekannt. Ihre Prägekraft von einst kann sie allerdings heute nicht mehr entfalten. Dennoch wirkt Ihre Botschaft von der Kraft des Wortes und des Argumentes fort, wenn beispielsweise der Bundespräsident – ebenfalls ursprünglich ein Mann der Kirche – nach Bautzen reist, um mit Bürgern ins Gespräch zu kommen. Sein Aufruf zum kritischen Dialog beinhaltet auch eine Betonung der grundlegenden Koordinaten im freiheitlich-demokratischen System.

Inzwischen ist unübersehbar, dass es viel Zeit und Gespräche brauchen wird, um die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden. Einige der Zuhörer Gaucks in Bautzen haben klare Vorstellungen wie es weitergehen soll und warnen vor einer Stigmatisierung des Landes:
"Ja ansonsten einfach Dialog, Dialog, Dialog. Mehr bleibt da, glaube ich, nicht zu sagen."