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Familiennachzug
Wie viele kommen, ist nicht klar

Innenminister Thomas de Maizière hat den Familiennachzug zum Thema in der aktuellen Flüchtlingsdebatte gemacht. Seitdem kursieren jede Menge spekulative Zahlen und Aussagen - unter anderem die, dass die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland durch einen Familiennachzug auf bis zu vier Millionen steigen könnte. Wir haben uns die Fakten angesehen.

Von Conny Crumbach | 11.11.2015
    Vater, Mutter und zwei Kleinkinder auf ihren Armen gehen am Berliner Bahnhof Schönefeld zu einem Bus.
    Wer nicht wie diese Flüchtlinge aus Afghanistan mit der ganzen Familie kommt, kann sie unter Umständen später nachholen. (dpa / Bernd Settnik)
    Der Familiennachzug könne dazu führen, dass "aus einer Million Flüchtlinge bald vier Millionen werden", sagte CSU-Politiker Michael Frieser im DLF. Der ehemalige Staatssekretär im Bundesinnenministerium, August Hanning, rechnet laut Welt am Sonntag mit fünf Millionen. Sieht man sich die aktuellen Zahlen genauer an, entpuppen sich diese Rechnungen als sehr grobe Schätzung mit fragwürdiger Grundlage.
    Jeden Monat veröffentlicht das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Zahlen zu Flüchtlingen und Asylbewerbern. Aufgeschlüsselt wird, wie viele Menschen Asyl erhalten haben - und seit einiger Zeit auch, wie viele Menschen im sogenannten EASY-System (Erstverteilsystem für Asylbegehrende) registriert wurden. Mit Hilfe dieser IT-Anwendung wird die erste Verteilung der Asylsuchenden auf die einzelnen Bundesländer organisiert. Der Status der Asylsuchenden ist zum Zeitpunkt der Registrierung jedoch noch unklar. Außerdem macht das BAMF darauf aufmerksam, dass "Fehl- und Doppelerfassungen nicht ausgeschlossen sind".
    Zahl der registrierten Flüchtlinge
    Im EASY-System wurden in diesem Jahr bis einschließlich Oktober 758.473 Menschen registriert, nur 243.721 kamen aus Syrien. Bei den aktuellen Aussagen zum Familiennachzug bleibt meist unklar, auf welche Zahlen sich die häufig genannte Zahl "eine Million Flüchtlinge" bezieht. Anzunehmen ist, dass sie sich an der Anzahl der bisher registrierten Flüchtlinge im EASY-System orientiert. Deren Status ist bisher aber unklar - eine Entscheidung darüber, ob und wie lange sie in Deutschland bleiben können, wurde oft noch gar nicht getroffen.
    Familiennachzug = vier Millionen Flüchtlinge?
    Angenommen wird außerdem, dass sich die Zahl der Flüchtlinge durch den Familiennachzug um das Vierfache erhöhen wird. Das hieße, dass wirklich jeder registrierte Flüchtling, wenn er denn überhaupt einen Aufenthaltsstatus erhält, drei Angehörige nach Deutschland holen würde. Der Familiennachzug gilt aber ausschließlich für Ehe- und Lebenspartner sowie für minderjährige Kinder. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl teilt mit: "Seit dem 1. August 2015 sind subsidäre Schutzberechtigte hinsichtlich des Familiennachzugs den Flüchtlingen nach den Genfer Flüchtlingskonventionen gleichgestellt. In den ersten drei Monaten nach der Anerkennung ist der Familiennachzug darum ohne Sicherung des Lebensunterhalts und den Nachweis von ausreichendem Wohnraum möglich." Thomas de Maizière wollte diese Regelung aussetzen.
    Drei Angehörige pro Flüchtling?
    Grundsätzlich ist die Annahme, dass jeder Flüchtling im Durchschnitt drei Angehörige hat, die nachgeholt werden sollen, reine Spekulation. Denn: Über die Größe der Familie der Flüchtlinge ist den deutschen Behörden nichts bekannt und auch nicht über die Zahl der Familiennachzüge. Das Bundesamt für Flüchtlinge teilte deutschlandfunk.de mit: "Im Erstverteilsystem für Asylbegehrende (EASY) werden keine personenbezogenen Daten vorgehalten, sondern die Asylbegehrenden rein nummerisch und unter Berücksichtigung des Herkunftslandes [...] erfasst" - und weiter: "Aktuelle Zahlen aus diesem Jahr zum Familiennachzug liegen dem Bundesamt leider nicht vor." Zahlen aus 2014 gebe es lediglich zum Familiennachzug allgemein, bezogen auf die gesamte ausländische Bevölkerung.
    Migrationsforscher: "Eine Korrelation ist nicht festzustellen"
    Die Zahlen zum Familiennachzug aus dem Jahr 2014 hat sich der Politikwissenschaftler und Migrationsforscher Bernd Parusel (Europäisches Migrationsnetzwerk) auf der Plattform fluechtlingsforschung.net genauer angesehen. Seine Einschätzung: "Die Zahl der Personen, deren Asylantrag positiv beschieden wurde, stieg in Deutschland von 7.870 im Jahr 2008 auf 40.560 im Jahr 2014. Die Zahl der Familienangehörigen, die eine Aufenthaltserlaubnis bekamen, um zu einem Nicht-EU-Bürger nachzuziehen, stieg in diesem Zeitraum von 29.215 auf 47.496. Der Anstieg des Familiennachzugs war also deutlich geringer als der Anstieg der Schutzgewährung, und eine Korrelation ist nicht festzustellen."
    Entscheidungen zum Bleiberecht
    Viele Politiker und Experten kritisieren, dass der Familiennachzug kein zentrales Problem der aktuellen Flüchtlingspolitik sei. Problematisch sei zurzeit vielmehr die lange Dauer der Asylverfahren. Das zeigen auch die Zahlen des BAMF: In den Monaten Januar bis Oktober 2015 wurden insgesamt 205.265 Entscheidungen zum Aufenthaltsstatus von asylsuchenden Personen getroffen. Zum Vergleich: Registriert wurden im selben Zeitraum 758.473 Menschen. Von den 205.265 Personen erhielten 81.547 den Status eines Flüchtlings nach den Genfer Flüchtlingskonventionen und nur 1.682 wurden nach deutschem Recht als Asylberechtigte anerkannt, 1.366 erhielten subsidären Schutz (eine Duldung), bei 1.590 Personen wurde ein Abschiebestopp entschieden. 77.782 Anträge wurden abgelehnt, weitere 42.980 Personen nahmen ihren Asylantrag zurück oder wurden nach dem Dublin-Verfahren in das Land zurückgeschickt, in dem sie sich zuerst registriert hatten.
    Zahlen zum Familiennachzug basieren auf Spekulationen
    Die Prognose, dass durch den Familiennachzug aus "einer Million Flüchtlinge bald vier Millionen werden", lässt sich ganz offensichtlich nicht durch aktuelle Zahlen belegen. Sie basieren zum großen Teil auf Spekulationen - vor allem, wenn man sie ausschließlich auf syrische Flüchtlinge bezieht. Was sich aber belegen lässt, ist der Handlungsbedarf bei der Bearbeitung der Asylverfahren.