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Familienpolitik in Israel
Bangen um die jüdische Mehrheit

Das Land ist voll, sagt der israelische Autor Alon Tal, und kritisiert kinderreiche orthodoxe Familien. Nein, die jüdische Mehrheit in Israel ist in Gefahr, behauptet der Demograf Sergio Dellapergola. Beim Streit über die Geburtenraten geht es vor allem um das Selbstverständnis als Judenstaat.

Von Igal Avidan | 12.09.2018
    Eine orthodoxe Familie überquert in Jerusalem eine Straße.
    Eine orthodoxe Familie überquert in Jerusalem eine Straße. (imago stock&people)
    Als der israelische Professor Alon Tal, Leiter des Instituts für Gesellschaftspolitik an der Universität Tel Aviv, vor Jahrzehnten heiratete, besprach er mit seiner Frau die Familienplanung. "Ich sagte, 'Selbstverständlich will ich sechs Kinder: eins für jede Million'. Ich meinte das todernst, denn so wurde ich erzogen." Nämlich in dem Bewusstsein, dass in der Shoah ein Drittel des Volkes ermordet wurde. Alon Tals Schwiegervater hat das KZ Bergen Belsen überlebt.
    Drei Gründe nennt er dafür, dass die jüdischen Israelis durchschnittlich drei Kinder pro Familie haben. Er zählt dazu: die Erinnerung an die Shoah, die religiösen Gebote sowie der kriegerische Alltag in Israel:
    "Das erste Gebot in der Bibel ist 'Seid fruchtbar und mehret euch und reget euch auf Erden, dass euer viel darauf werden'. Frauen, die keine Kinder haben wollen oder können, werden in Israel noch heute bemitleidet, wo man kinderreiche Familien 'mit Kindern gesegnete Familien' nennt.
    Aufgrund des permanenten Kriegszustands sehen Familien, deren Söhne in Kampfeinheiten dienen sollen, einen zusätzlichen Sohn als eine Art Sicherheitsgarantie für den Fall, dass ein Sohn im Militär fallen sollte. Inzwischen dienen auch viele Frauen in Kampfeinheiten, auch meine Tochter, so dass man sich nicht nur um die Söhne Sorgen macht."
    Der Platz wird knapp
    Mittlerweile sieht Alon Tal seinen früheren Wunsch, viele Kinder zu haben, kritisch. Und auch die israelische Familienpolitik, die zu Nachwuchs ermutigt, lehnt er ab. Sie gefährde Israels Zukunft schreibt er in seinem (auf Hebräisch erschienenen) neuen Buch "Das Land ist voll: Wie man mit der Bevölkerungsexplosion in Israel umgeht."
    Der Aufruf zu einer strengeren Familienpolitik ist mutig in Israel, wo man stets um die jüdische Mehrheit im Lande bangt und die Frage, welche Bevölkerungsgruppe wie viele Kinder bekommt, wird breit diskutiert wird. Alon Tal erklärt, dass die Zahl der Juden weltweit fast so hoch ist wie kurz vor der Shoah. Er betont, dass sein Buch keinesfalls anti-zionistisch sei oder ein Pauschalangriff auf die kinderreichen orthodoxen Juden. Ihn ärgert vor allem, dass die Orthodoxen mehrheitlich von staatlichen Subventionen leben, auf Kosten der berufstätigen und steuerzahlenden säkularen Juden.
    Zugleich warnt Tal: Israel ist einer der am dichtesten bevölkerten westlichen Staaten. Die Folgen sind verstopfte Straßen, überfüllte Schulklassen und Krankenhäuser und immer weniger Natur, so der Umweltexperte. Er befürchtet, dass bald junge Israelis, denen es zu eng wird, auswandern würden. Denn in 30 Jahren wird sich die israelische Bevölkerung von knapp neun Millionen verdoppeln.
    "In den 1950er und 60er Jahren hatten die orthodoxen Juden durchschnittlich 2,6 Kinder pro Familie, ungefähr so viele wie die Säkularen. Ab 1977 begann die Regierung große Familien großzügig zu subventionieren, weil das demographische Wachstum zu einem nationalen Ziel wurde. Die Folge war eine Bevölkerungsexplosion mit durchschnittlich 7,5 Kindern pro Familie. Das rentierte sich ökonomisch, obwohl die meisten Männer nicht arbeiten gingen, sondern die Religionsschule besuchten. Dann kürzte Finanzminister Netanjahu das Kindergeld um die Hälfte. Sofort sank die Kinderzahl der Orthodoxen auf 6,5."
    Alarmiert über die Zukunft des jüdischen Staates
    Säkulare Juden sehen die zunehmende Ausbreitung der Orthodoxen als eine Bedrohung für ihren westlichen Lebensstil; Tausende verlassen deswegen Jerusalem, die Mehrheitsverhältnisse innerhalb der jüdischen Community verschieben sich.
    Einig sind sich orthodoxe und säkulare Juden in ihrer Konkurrenz mit den einheimischen Arabern, die überwiegend Muslime sind. Eine Familienpolitik, wie Tal sie fordert, könnte theoretisch jedoch die Juden zur Minderehrheit in Israel machen.
    Die Statistik widerlegt jedoch diese Befürchtung. Laut staatlichem Amt für Statistik waren im Jahr 1996 69 Prozent der neugeborenen Israelis jüdisch und über 25 Prozent muslimisch. Heute sind es 74 Prozent und 20,5 Prozent, die Kluft hat sich also zugunsten des jüdischen Bevölkerungsanteils vergrößert. Die Geburtenrate bei Jüdinnen in Israel blieb seit 40 Jahren bei drei Kindern konstant, bei muslimischen Frauen sank sie im gleichen Zeitraum von über acht Kindern auf drei, bei christlich-arabischen Frauen von 3,6 Kindern auf zwei.
    2016 lag die Geburtenrate bei jüdischen Frauen zum ersten Mal höher als bei arabischen Frauen - wenn man das Kernland Israel ohne das Westjordanland betrachtet. Denn die offiziellen Zahlen sprechen bewusst von neugeborenen Israelis und nicht von Neugeborenen in Israel. Somit zählt das Statistikamt die jüdischen Siedler in den besetzten Gebieten dazu, nicht jedoch das Territorium, das besetzte Westjordanland, wo sie leben. Die Bevölkerungsdichte im Westjordanland ist fast doppelt so hoch wie in Israel und im Gazastreifen zehn Mal höher. In beiden Palästinensergebieten leben überwiegend Muslime.
    Kommt es nicht zu einer Zwei-Staaten-Lösung, hat das demografische Folgen, die an die Existenz Israels als jüdischer Staat rühren. Diese Entwicklung thematisiert Sergio Dellapergola, Israels wohl renommiertester Demograf. Denn in den letzten Jahren fordern immer mehr Koalitionspolitiker, das Westjordanland oder Teile davon zu annektieren.
    Dellapergola rechnet vor: "Zwischen Jordan und Mittelm eer haben wir nach großzügiger Definition eine jüdische Mehrheit von knapp 52 Prozent. Wenn wir den Gazastreifen ausklammern, denn die wenigsten Israelis wollen dorthin zurück, kommen wir in Israel und dem Westjordanland zusammen auf eine jüdische Mehrheit von rund 60 Prozent. Aber in keinem Land auf der Welt leben zwei fast gleich große Völker, die sich im Konflikt befinden, in einem demokratischen Staat. Die Tschechoslowakei wurde zivilisiert in zwei Staaten geteilt; Jugoslawien wurde unzivilisiert nach einer Millionen Toten und einen gewaltsamen Transfer in sieben Staaten aufgeteilt."
    Dellapergola fordert die Anerkennung derjenigen Israelis als Juden, die als Ehepartner, Kinder oder sonstige Verwandte von Juden sind, die vor allem aus den GUS-Staaten einwanderten. Das Oberrabbinat erkennt sie nicht als Juden an.
    Die "Anderen" werden sozial degradiert
    Dellapergola sagt: "Das nationale Interesse ist, die jüdische Mehrheit zu maximieren, indem man die nichtjüdischen Verwandten als unsere Verbündete behandelt, was in der jüdischen Geschichte schon öfter passierte. Denn sie alle dienen im Militär und zahlen Steuern. Diese 400.000 'Anderen' sind soziologisch gesehen Teil der jüdischen Bevölkerung, nicht jedoch nach der jüdischen Gesetzgebung oder Halacha. Jährlich werden hier 5.000 'Andere' geboren, deren Mutter nichtjüdisch ist, sondern 'anders'. Das ärgert sie und manche von ihnen verlassen daher Israel. Mehr als das Juden tun."
    Diese Einwanderer und ihre über 80.000 in Israel geborenen Kinder werden benachteiligt. Sie dürfen in Israel keine Ehe mit einem jüdischen Israeli eingehen und auch auf keinem jüdischen Friedhof begraben werden. In Israel darf nur innerhalb der religiösen Gemeinde geheiratet werden. D und diese Menschen, die sich jüdisch fühlen, gelten als "religionslos" und heißen offiziell "die Anderen". Sie dürfen seit 2010 lediglich eine eingetragene Partnerschaft mit einem anderen "Anderen" eingehen.
    Sergio Dellapergola kritisiert, dass die staatlichen Behörden es nicht schaffen, diese Gruppe gegen den Widerstand der jüdisch-orthodoxen Behörden gleichzustellen. "Das nationale Interesse Israels als jüdischer Staat steht im krassen Widerspruch zu dem des Oberrabbinats, das für die jüdische Gesetzgebung im Lande zuständig ist. Das ist ein Dauerkonflikt und zur Zeit hat das Oberrabbinat die Oberhand."
    Seit Staatsgründung 1948 wanderten 3,2 Millionen Juden nach Israel ein. Alon Tal kam aus den USA, Sergio Dellapergola aus Italien. Beide Experten erwarten jedoch keine Masseneinwanderung durch Kriege, Revolutionen oder massive antisemitische Verfolgungen.
    Ihr Fazit: Israel muss seine demographischen Probleme allein lösen. Professor Alon Tal sieht seinen Beitrag darin, dass er und seine Frau den Plan mit den sechs Kindern nicht verwirklicht haben. Das Paar hat drei Töchter.