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Figaro mit VR-Brille
Moderne Technik für alte Kunst

Oper durch die VR-Brille - dieses Experiment haben Regisseur Jan Schmidt-Garre und die Oper Leipzig unternommen. Eine neue Technik, die einem die Gefühle der Figuren von Mozart "Le Nozze di Figaro" ungewöhnlich unmittelbar nah bringt.

Von Manuel Rademacher |
    Eine große Kamera hängt von der Decke. Man sieht auch zwei Wände mit einer gemusterten Tapete.
    Die OmniCam im Set im Studio Halle, mit der der 360°-Figaro produziert wurde. (Gross)
    Musik: Mozart, Szene 14, 2. Akt aus "Le Nozze di Figaro"
    Graf Almaviva ist aufgebracht. Er ist sich ganz sicher: Hinter der verschlossenen Tür versteckt sich ein Liebhaber seiner Frau. Und die wird immer nervöser, hat der Graf doch nicht ganz unrecht: eben noch hat sie, gemeinsam mit Kammerzofe Susanna, den zur Frau verkleideten Pagen Cherubino versteckt.
    Unter anderem dieses delikate Versteckspiel im zweiten Akt von Le Nozze di Figaro hat Regisseur Jan Schmidt-Garre für seinen VR-Musikfilm ausgewählt. Dabei hatte er für dieses bisher einzigartige Projekt zunächst ein ganz anderes Stück von Wolfgang Amadeus Mozart im Kopf.
    Jan Schmidt-Garre: "Also ursprünglich wollte ich die ganze Zauberflöte machen. So habe ich eigentlich angefangen und hab ein Konzept geschrieben für die ganze Zauberflöte und dann haben viele Leute, die sich mit der Technik schon besser auskannten, gesagt: bist Du denn wahnsinnig? Der längste VR-Film ist 15 Minuten und Du willst jetzt hier die ganze Zauberflöte machen? Die dauert 3 Stunden mit Pause, das geht nicht! Und das wäre auch unglaublich teuer gewesen."
    Eine neue, herausfordernde Opernerfahrung
    Nicht nur aus Kostengründen entschied sich Jan Schmidt-Garre schließlich für die Szenen aus dem Figaro. Auch aus dem Zusammenhang der gesamten Oper gerissen, bilden sie eine gut verständliche Abfolge – und sind mit rund 25 Minuten Länge nicht zu lang. Ausreichend für ein Experiment, das schon auch anstrengen kann: Denn die Möglichkeit dank der 3D-Brille in jeden erdenklichen Winkel vor, hinter, über und unter sich schauen zu können, fordert heraus.
    Zugleich musste der Regisseur gemeinsam mit der Produktionsfirma PARS Media und dem Label Arthaus Musik Neuland betreten: Technisch, beim Einsatz einer 360-Grad-Kamera, aber ganz besonders auch in Hinblick auf die Inszenierung und die Arbeit mit den Sängerinnen und Sängern, erzählt Schmidt-Garre.
    Schmidt-Garre: "Für die Sänger war am ungewohntesten, dass es kein Vorne gibt. Denn Sänger lernen ja vom ersten Tag an der Musikhochschule an, immer nach vorne zu singen. Das macht mich als Regisseur und viele andere, glaube ich auch, total verrückt, dass die immer nur nach vorne singen wollen. Und wenn ich dann sage, 'mein Gott, Du kannst doch auch mal kurz mit dem Rücken zu uns zeigen', dann sagen die: 'Nein, dann hört man mich nicht'. Dann sag ich: 'doch, man hört Dich schon, nur etwas leiser'. Aber das wollen die nicht, die wollen immer nur nach vorne singen."
    Näher dran am Geschehen
    Schmidt-Garres 360-Grad-Figaro kehrt die gewohnten Verhältnisse um: hier gibt es kein Vorne. Alles richtet sich nach Innen. Während der Proben saß der Regisseur in der Mitte des 5x10 Quadratmeter großen Bühnenbildes, schließlich wurde er durch die festinstallierte 360-Grad-Kamera ersetzt. In dem Musikfilm verleihen die unzähligen Augen der Kamera den Zuschauenden das Gefühl, mitten im Geschehen zu sein, ja sogar im Zentrum der Sängerinnen und Sänger zu stehen. Dieses Erlebnis, quasi als Mäuschen alle Ecken der Bühne erfassen zu können und den Protagonisten ganz ungewohnt nahezukommen, ist für sich schon beeindruckend - obwohl Schmidt-Garre in seinem Film nicht gleich alle VR-Register zieht:
    Schmidt-Garre: "Natürlich kann man auch eine 360-Grad-Kamera auf einen Schienenwagen bauen und damit Fahrten machen, natürlich kann die sich bewegen. Das muss man sehr vorsichtig machen, weil sonst wird den Leuten schlecht beim Gucken, aber das geht natürlich. Aber ich wollte es so ganz pur einsetzen und die Kamera unbeweglich lassen. Und da war mit dann von Anfang an klar, wenn die Kamera gar nichts kann, also wenn die sich nicht bewegt und nicht zoomen kann und keine Schärfenverlagerungen machen kann und nicht schwenken kann, dann muss diese Armut der erzählerischen Mittel kompensiert werden durch andere, nämlich durch Theatermittel."
    Ein Mann schmiegt sich an eine Frau. Eine andere Frau sieht man in einem Spiegel, sie sitzt auf einem Stuhl und wirkt deprimiert.
    Olena Tokar, Jacquelyn Wagner und Mathias Hausmann in der 360-Figaro Produktion der Oper Leipzig. (Thomas Bresinsky)
    Der 360-Grad-Figaro verpflanzt die Oper in das neue Medium – und bleibt zugleich Theater mit live-Musik. Schmidt-Garre arbeitet wie auf der Bühne mit Licht, bringt das Bühnenbild durch fahrende Wände in Bewegung, erschafft neue Räume, wechselt munter die Positionen der Sänger. Vor allem aber setzt der Regisseur auf die schauspielerische Aktion der Darstellenden, die durch die ungeheure Nähe des Betrachters die große Stärke der neuen Technik offenlegt. Gleich mehrfach inszeniert Schmidt-Garre sein Stück so, dass Zuschauer und Sänger in direkten Augenkontakt treten. Etwa im Terzett von Graf und Gräfin Almaviva mit Susanna, befindet sich der Betrachter umringt von den drei Singenden, keinen gefühlten Meter entfernt, alle Augen auf ihn gerichtet.
    Ein berührendes Erlebnis
    Musik Mozart, Figaro, 2. Akt, Szene 14
    Der Figaro-Musikfilm ist für die Produktionsfirma und den Regisseur in erster Linie ein Test. Ein Versuch, zu erfahren, was die neuen technischen Möglichkeiten leisten können. In keinem Fall aber stellen für Jan Schmidt-Garre solche Produktionen auf Dauer klassische Opernerlebnisse in Frage.
    Schmidt-Garre: "Ich hänge sehr an dem alten Format des Opernhauses, wo man Theater auf der Bühne für Zuschauer im Saal macht. Das will ich überhaupt nicht abschaffen. Und so eine Kooperation wie jetzt mit der Oper Leipzig kommt eher daher, dass man das selbe Interesse hat und dass es viele Überschneidungen gibt. Also für so einen Film braucht man natürlich auch Sänger und Werkstätten und Maske und all das. Ansonsten sind es schon verschiedene Formate. Ich kann mir diese VR-Brille zu Hause oder in der Bundesbahn oder irgendwo aufsetzen und in diese Welt einsteigen. Dafür brauche ich kein Opernhaus."
    Ein bisschen aktuelle Technik schadet der Oper aber sicher nicht und könnte eine befruchtende Ergänzung sein. Mischformen sind durchaus denkbar und werden auch schon ausprobiert. In Halle an der Saale etwa hat die Oper in Kooperation mit der Kunsthochschule Burg Giebichenstein einen ersten Test gestartet. In einer szenischen Umsetzung von Verdis Messa da Requiem kommen in der aktuellen Spielzeit VR-Brillen zum Einsatz.
    Der Test im benachbarten Leipzig war eine gelungene Weiterentwicklung des Opernfilms. Musikalisch - passend zur Kammeropernhaftigkeit der Figaro-Szenen auf ein kleines Ensemble geschrumpft - klang das Dargebotene solide, nicht durchweg überzeugend. Kein allzu großes Manko allerdings, im Bann eines gänzlich neuen, audiovisuellen Gesamterlebnisses, das spannende Fortentwicklungen für die Zukunft verspricht.