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Filmfestspiele Cannes
Verrückte Liebesgeschichten

Dass die Filmfestspiele in Cannes kein Publikumsfestival, sondern ein Branchentreffen sind, geht vor lauter Roter-Teppich-Trubel manchmal unter. In der Nebenreihe "Un certain regard – ein gewisser Blick" werden Produktionen gezeigt, deren Macher oft weniger bekannt sind.

Von Christoph Schmitz | 20.05.2014
    Das Regietrio Samuel Theis, Claire Burger und Marie Amachoukeli zusammen mit der Hauptdarstellerin des Films "Party Girl", Angélique Litzenburger, bei einem Fototermin des Filmfestivals in Cannes am 12.5.2014
    Das Regietrio Samuel Theis, Claire Burger und Marie Amachoukeli zusammen mit der Hauptdarstellerin des Films "Party Girl", Angélique Litzenburger. (dpa / picture alliance / Pascal Brocard)
    Die bislang besten Filme der Cannes-Reihe "Un certain regard" erzählen verrückte Liebesgeschichten. Da gibt es etwa das liebestolle "Party Girl", die in die Jahre gekommene Hure Angelique. Im deutsch-französischen Grenzgebiet an der Mosel leben sie und ihre Kinder. Deutsch, Französisch, Dialekt gehen hier wild durcheinander. Ein ungeschminkter, schmutziger Film ist "Party Girl", mit Handkamera gedreht, immer nah dran an den verlebten Gesichtern, vor allem an dem Angeliques. Diese Frau gibt es wirklich. Sie spielt ihre eigene, letztlich scheiternde Suche nach der großen wahren Liebe. Das junge Regietrio Marie Amachoukeli, Claire Burger und Samuel Theis wollen wie viele Theatergruppen heute das echte Leben zeigen. Die Betroffenen selbst sollen reden. Das ist nicht schön, aber wahrhaftig, und eine Kunst für sich.
    Kammerspielartige Nähe und Direktheit bringt auch die Israelin Keren Yedaya auf die Leinwand, mit einer im psychopathologischen Sinne verrückten Liebesgeschichte. In beklemmenden, schmerzhaften Nahaufnahmen zeigt ihr Film "That lovely girl" die zärtliche, lustvolle und grausame Beziehung zwischen einem 50-jährigen Mann und einer 20-jährigen Frau, zwischen Vater und Tochter, wie sich später herausstellt. Eigentlich möchte man das gar nicht sehen, aber die Regisseurin schafft es, dass wir ihrer Analyse wenn auch unter Schmerzen folgen und das Zwanghafte der Beziehung zumindest ansatzweise begreifen. Diese kleine, auf einem authentischen Fall beruhende Filmgeschichte bringt jedenfalls mehr Licht in die Abgründe von Kindesmissbrauch und Kinderpornografie im Internet als der mit großem Thrilleraufwand inszenierte Wettbewerbsfilm "Captives" von Atom Egoyan.
    Den Wettbewerb kammermusikalisch gespiegelt
    Die verrückte Liebe trägt der Film der Österreicherin Jessica Hausner sogar im Titel, "Amour fou". Hausners "Amour fou" gehört in der Reihe "Un certain regard" zu den interessantesten Arbeiten. Hausner macht alles anders und ist auf ihre Weise radikal. Nicht die Gegenwart, sondern die Vergangenheit hat sie im Blick, die letzten Wochen im Leben des Schriftstellers Heinrich von Kleist und seinen Selbstmord. Nicht authentisch und heutig will ihre Geschichte wirken, sondern wie aus ferner, fremder Zeit. Höchst stilisiert ist ihre Erzählweise. Wie Stillleben sind die Tableaus inszeniert mit ihren gebildeten Konversationen, literarischen Lesungen und Musikaufführungen in den biedermeierlichen Interieurs von Adel und bürgerlicher Elite zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Komödiantischer Witz und Ironie schwingen leise mit, auch wenn es immerzu um den Überdruss am Leben und den Freitod geht, für den Kleist unter den Damen der Gesellschaft eine Gefährtin sucht. Auch im Falle von Hausners "Amour fou" führt das Festival vor, wie "Un certain regard" den Wettbewerb gewissermaßen kammermusikalisch spiegelt.
    Hausners kleiner Form stehen die Ausstattungssymphonien von Mike Leighs Biografie "Mr. Turner" über den Maler William Turner und Bertrand Bonellos Modedesignerporträt "Saint Laurent!" über Yves Saint Laurent gegenüber. Hausners "Amour fou" kann da locker mithalten.
    Allerdings scheinen in "Un certain regard" auch die Schwächen des Wettbewerbs auf. Der afrikanische "Certain-Regard"-Beitrag "Run" von Philippe Lacote von der Elfenbeinküste ist genau so schlicht und überdeutlich in seiner sozialkritischen Analyse der afrikanischen Misere wie Abderrahmane Sissakos Wettbewerbsfilm "Timbuktu". Die Schwäche des italienischen Kinos wird hier wie dort wieder einmal deutlich.
    Darüber hinaus scheint der Druck, süffiges Genrekino liefern zu müssen, Filmemacher überall im Nacken zu sitzen und sie zu irritieren. Etwa wenn der Ungar Kornel Mundruczo in "White God" eine krude Mischung aus Kinderfilm, Tierfilm, Horrorthriller und Gesellschaftsparabel fabriziert. Verrücktes Kino in Cannes, "cinéma fou".