Britta Fecke: Sie kamen aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien, oder dem Sudetenland. Rund elf Millionen Deutsche verloren ihre Heimat zwischen 1939 und '49 und mussten in Oberbayern oder dem Ruhrgebiet neu anfangen. Daran erinnert auch der 67. Tag der Sudetendeutschen heute in Nürnberg. Es ist also nicht das erste Mal, dass Flüchtlinge integriert werden sollen. Natürlich die Nachkriegsflüchtlinge von damals hatten einen anderen Dialekt und keine andere Sprache. Doch die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten während und nach dem Zweiten Weltkrieg weist durchaus Parallelen auf, zu der Migrationserfahrung der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien, Irak oder Afghanistan. Welche Rolle spielt die Erinnerung an Flucht und Vertreibung in Deutschland bei der aktuellen Flüchtlingskrise? Das würde ich gerne mit dem Historiker Stephan Scholz von der Universität Oldenburg diskutieren. Herr Scholz, ist es zulässig, Ostpreußen 1945 und Syrien 2015 miteinander zu vergleichen?
Stephan Scholz: Ich denke, dass dieser Vergleich der heutigen Flüchtlingsbewegung nach Deutschland und der Flucht und Vertreibung der Deutschen zum Ende des Krieges vor allen Dingen durchaus berechtigt und auch sinnvoll ist, weil er einen doppelten Erkenntnisgewinn eigentlich bringen kann. Zum Einen: Flüchtlinge, das waren wir auch mal. Wir wissen, wie das ist. Die Erinnerung an diese Migrationserfahrung, diese Fluchterfahrung kann dazu beitragen, dass wir heute auch die Perspektive von heutigen Flüchtlingen einnehmen können, und das ist ja auch ein Punkt, den viele Menschen nennen, die in der Flüchtlingsbetreuung sich engagieren, dass sie sagen, ja, so was habe ich oder haben meine Eltern oder Großeltern auch schon mal erlebt, das ist uns nicht fremd.
Und der zweite große Erkenntnisgewinn, glaube ich, den man daraus ziehen kann, ist: Zuwanderung, das kann gelingen, und Integration. Wir haben so was Ähnliches schon mal geschafft und das ist noch nicht so furchtbar lange her und es ist auch noch in vielen Familien in Erinnerung oder relativ präsent. Es war damals nach Kriegsende eine wesentlich größere Dimension, zahlenmäßig, und es waren wesentlich schlechtere Ausgangsbedingungen nach Kriegsende, in einem zusammengebrochenen Land unter sehr viel ungünstigeren Voraussetzungen, und trotz großer Vorbehalte auch damals in der aufnehmenden Bevölkerung und trotz großer Unterschiede zwischen Zuwandernden und Einheimischen ist das eine Sache, die aufs Ganze gesehen doch gelungen ist. Und das ist was, was, glaube ich, heute auch viel Mut machen kann, dass das, was wir heute erleben, die Herausforderungen, die vor uns stehen, dass wir die als Gesellschaft auch bewältigen können.
"Konfessionellen Unterschiede führten damals zu regelrechten Kulturkämpfen"
Fecke: Nun haben aber die Flüchtlinge, die jetzt zu uns kommen, nicht einen anderen Dialekt wie vielleicht die Menschen, die damals aus Böhmen kamen, sondern die haben gleich eine andere Sprache. Macht das Integration nicht etwas schwieriger?
Scholz: Ja, Sprache ist natürlich ein wichtiger Punkt, um überhaupt kommunizieren zu können und sich verständigen zu können. Aber man muss sich auch vor Augen führen, dass damals '45 auch große kulturelle Unterschiede aufeinandertrafen. Sprachlich waren es die Dialekte. In manchen Gegenden war das tatsächlich eine Hürde. Wo Plattdeutsch gesprochen wurde oder Oberbayerisch und Sie kamen aus Schlesien oder Ostpreußen, da war die Verständigung auf sprachlicher Ebene auch nicht so einfach. Aber es kamen ja auch viele andere Dinge hinzu. Die konfessionellen Unterschiede damals, das ist was, was man heute sich kaum noch vorstellen kann, zwischen Protestanten und Katholiken. Das waren regelrechte Kulturkämpfe, die dann auch ausgetragen wurden. Und wenn in einem rein katholischen Ort die erste evangelische Kirche gebaut wurde oder umgekehrt, dann war das von der Fremdheitserfahrung für die Einheimischen, glaube ich, schon vergleichbar zur heutigen Situation, wenn heute Moscheen gebaut werden.
Fecke: Sie haben vorhin erwähnt, dass wir ein gemeinsames historisches Erinnern haben an Flüchtlingsbewegungen. Welche Rolle spielen denn jetzt eigentlich die Vertriebenenverbände? Demnächst gibt es den 67. Sudetendeutschen-Tag in Nürnberg.
Scholz: Ja das kann man im Augenblick noch schwer abschätzen. Die Vertriebenenverbände tun sich traditionell mit Zuwanderung von außen schwer, sich damit auch irgendwie zu identifizieren. So ein Sudetendeutscher Tag, diese Heimattreffen haben ja erst mal intern eigentlich eine verbindende Funktion. Es ist ja im Prinzip ein Mitgliedertreffen, was auch nach außen ausstrahlen soll. Aber was jetzt im konkreten Fall bei den Sudetendeutschen auch eine befriedende Funktion hat: Die Sudetendeutschen haben ja vor kurzem erst aus ihrer Satzung gestrichen, dass ihr Ziel ist, die Heimat wiederzugewinnen. Das haben sie jetzt erst nach 25 Jahren nach der deutschen Einheit aus ihrer Satzung gestrichen, aber unter großen Konflikten in der Landsmannschaft und bis hin zu juristischen Auseinandersetzungen. Die Landsmannschaften haben natürlich generell das Problem, dass sie eine Mitgliederstruktur haben, die relativ überaltert ist, und dass sie wissen, dass eigentlich auf Dauer ihre Rolle sich verändern wird und eigentlich sie nicht mehr die Basis dafür haben, eine große Rolle zu spielen.
Fecke: Diese Verbände sprechen ja von sich selber meistens von Vertriebenen oder von der Generation davor, weil ein Großteil von denen lebt ja schon gar nicht mehr. Wie nennen Sie die Menschen, die aus Syrien, Irak oder Afghanistan gerade nach Deutschland oder nach Europa fliehen? Sind das Flüchtlinge oder Vertriebene für Sie?
Scholz: Na ja, das sind Begriffe, die natürlich Einstellungen markieren. Wir sprechen heute ja allgemein von Flüchtlingen, die zu uns kommen. Die Vertriebenenverbände haben in der Vergangenheit und auch heute noch immer betont, dass sie vertrieben wurden, auch mit diesem Begriff, der ja seit den 50er-Jahren in Westdeutschland dafür etabliert ist, der den Zwangscharakter ja ganz stark markieren soll, dass die Vertriebenen eben nicht freiwillig gekommen sind, sondern zwangsweise ausgesiedelt worden sind. Es gibt dann Vorbehalte, diesen Vertriebenenstatus auf andere zu übertragen. Der bayerische Innenminister hat in einer Talkshow letztes Jahr gesagt, das wäre eine Beleidigung für die deutschen Vertriebenen, wenn jetzt zu uns kommende Flüchtlinge auch so bezeichnet werden. Das finde ich maßlos überzogen. Ich glaube auch nicht, dass das eine Beleidigung für die damaligen Vertriebenen ist. Aber es zeigt die Vorbehalte, die es da gibt.
Die Flüchtlinge, die heute zu uns kommen, das ist ja eine sehr unterschiedliche, sehr heterogene Gruppe. Wir haben viele Kriegsflüchtlinge und auch unter den deutschen Vertriebenen war ein sehr großer Teil, mehr als die Hälfte zunächst mal Kriegsflüchtlinge. Das ist eigentlich wiederum etwas, was beide Gruppen miteinander verbindet. Mehr als die Hälfte der deutschen Vertriebenen sind ja vor Kriegsende bereits in den Westen geflüchtet oder noch von den NS-Behörden evakuiert worden, sind also vor der Front geflohen, vor den Kriegsereignissen, sowie das andere europäische Länder oder Bevölkerungen auch schon tun mussten in den Jahren davor, Franzosen, Holländer, Polen und so weiter, die auch vor den angreifenden Deutschen geflohen sind und wir es heute weltweit erleben und im Ergebnis dann auch hier in Europa und bei uns dann merken, die Leute, die hier ankommen, sind zum großen Teil Menschen, die vor Krieg flüchten.
Zuwanderungserfahrung als Ressource für Bewusstseinsbildung
Fecke: Diese Migrationserfahrung zwischen 1939 und '49, die in Deutschland gemacht wurde, hatte die Einfluss jetzt auf diese Willkommenskultur? Schöpfte sie sich mit aus dieser Erfahrung?
Scholz: Ich glaube, es ist ein Faktor, der bei vielen, die sich heute engagieren in der Flüchtlingshilfe, eine Rolle spielt. Es gibt jetzt eine relativ neue Zahlenerhebung, eine Umfrage unter ehrenamtlichen Flüchtlingshelfern, und da gibt ein Drittel an, in der Familie quasi einen Vertreibungshintergrund zu haben, also Eltern oder Großeltern zu haben, die selber als Vertriebene, deutsche Vertriebene Flucht und Vertreibung erlebt haben. Und das ist ein relativ großer Anteil. Der liegt auch höher als der Anteil in der Gesamtbevölkerung, die angibt, so einen Vertreibungshintergrund zu haben. Das ist ungefähr jeder Vierte, der das von sich behauptet, dass in der Familie so eine Vertreibungserfahrung gemacht wurde. Und das deutet zumindest darauf hin, dass das doch eine Rolle dafür spielt, bei manchen zumindest, sich aktiv praktisch auch zu engagieren. Ich glaube aber auch, dass es für eine generelle Einstellung, für eine mentale Haltung heute auch eine Rolle spielt, dass viele das relativ bewusst klar haben, dass sie als Familie, ihre Eltern oder Großeltern, oder auch wir Deutsche generell auch so eine Erfahrung haben. Und ich glaube auch, dass das weiter konstituieren und festigen kann, dass wir wissen, wir Deutsche haben auch eine Migrationserfahrung, und zwar zu nicht unerheblichen Teilen. Nicht nur Flucht und Vertreibung; es gibt auch andere historische Bezüge, die man herstellen kann. Aber Flucht und Vertreibung zum Kriegsende '45 ist eine, die relativ umfangreich war, die viele Menschen betroffen hat und noch relativ präsent ist. Und ich glaube, dass diese Zuwanderungserfahrung etwas ist, was man heute als Ressource nutzen kann für Bewusstseinsbildung, dass wir ein Land sind, in dem Migrationserfahrung, Zuwanderungserfahrung kein Makel ist und nichts Abseitiges ist, sondern dass es sehr viele in unserer Bevölkerung tangiert und betrifft.
Fecke: Aber diese Erfahrung scheint vielen nicht mehr so bewusst zu sein. Der BKA-Chef hat gestern noch gewarnt, dass allein in diesem Jahr die Gewalttaten gegen Flüchtlinge enorm zugenommen haben.
Scholz: Das hat sich im letzten Jahr schon ein bisschen abgezeichnet und wir erleben es jetzt in diesem Jahr stärker, dass sich die Gesellschaft da stark polarisiert offensichtlich. Mein Eindruck ist, es gibt nach wie vor einen großen Anteil von Menschen, die gegenüber Flüchtlingen aufgeschlossener sind als noch vor 10 oder 20 Jahren. Aber es gibt auch einen Teil der Bevölkerung, der früher vielleicht sogar noch größer war, der Zuwanderung generell ablehnt. Aber wenn Sie das vergleichen mit zum Beispiel dem Beginn der 90er-Jahre, wo wir schon mal erleben mussten, dass Flüchtlingsunterkünfte brannten und quasi schon pogromartige Zustände teilweise herrschten, da wurde dieser historische Bezug zum Beispiel, dass wir Deutsche ja auch eine Migrationserfahrung haben, überhaupt nicht hergestellt. Das ist eine relativ neue Erscheinung und deswegen ist sie, glaube ich, auch so wertvoll, weil sie dazu beitragen kann, dass wir uns als Gesamtgesellschaft dessen bewusst werden, dass wir schon von je her eigentlich eine Migrationsgesellschaft sind und uns das vielleicht noch klarer machen können und auch daraus lernen können, dass das nichts Schlimmes ist, wenn Menschen zuwandern, die uns erst mal fremd erscheinen, dass es aber doch die Möglichkeit gibt, gemeinsames Zusammenleben zu gestalten, auch eine gemeinsame Wertebasis neu aufzubauen. Das ist zum Beispiel etwas, was nach 1945 auch gemacht werden musste zwischen den Einheimischen und den neu Hinzukommenden. Nach den Jahren der NS-Ideologie musste überhaupt erst mal ein ganz neues Selbstverständnis hergestellt, ausgehandelt werden. Es kann sein, dass wir heute wieder an so einem ähnlichen Punkt stehen, natürlich unter ganz anderen Bedingungen, aber dass wir als Gesellschaft uns klar werden müssen, wer wir eigentlich sind, was wir sein wollen und dass wir, glaube ich, schon eine migrantische Gesellschaft sind, die das positiv in ihr eigenes Selbstverständnis mit einbauen müsste.
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