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Fluchtpunkt Polen

Galoppierende Inflation, Währungsabwertung um 50 Prozent, Lebensmittelknappheit - Weißrussland befindet sich in diesen Tagen in der schwersten Krise seit seiner Unabhängigkeit vor 20 Jahren - und - so sagen Experten - kurz vor dem Staatsbankrott. Dass Machthaber Alexander Lukaschenko trotzdem noch fest im Sattel sitzt, dürfte auch mit der Unterstützung aus Peking zu tun haben.

Von Florian Kellermann | 15.06.2011
    Erst gestern hat China für drei Großprojekte Kredite in Höhe von einer Milliarde US-Dollar versprochen. Lukaschenko setzt also auf Hilfe von außen - nicht auf Reformen und Unterstützung von innen. Im Gegenteil. Das Regime verschärft sein Vorgehen gegen Oppositionelle, denen oft nur noch die Flucht bleibt. Polen ist da eine wichtige Anlaufstelle.

    Maria sitzt vor ihrem Laptop und starrt auf ein kleines Foto auf dem Bildschirm. Gerade hat sie sich über das Internet mit ihrem Sohn unterhalten, viereinhalb Jahre ist er alt und hat kastanienbraunes, langes Haar. Seit fast einem halben Jahr hat Maria den Kleinen nicht mehr gesehen.

    "Letztens hat er mir im Internet - über die Webkamera - eine Broschüre von unserem Wahlkampf gezeigt. Er wollte mir wohl sagen, dass er mich versteht, dass er versteht, warum ich nicht bei ihm sein kann. Ich lege auch immer etwas von meinem Stipendium zurück, um ihm Kleidung oder Spielzeug zu kaufen. Das gebe ich dann Bekannten mit, die nach Weißrussland fahren. Letztens habe ich ihm ein Spielzeugauto gekauft, ein New Yorker Taxi. Er soll so wenigstens etwas davon haben, dass ich so weit weg bin."

    Maria selbst kann nicht nach Weißrussland reisen. Sie fürchtet, dass sie an der Grenze sofort verhaftet wird. Denn sie hat im vergangenen Jahr im Stab eines Oppositionskandidaten für die Präsidentenwahl gearbeitet. Viele ihrer Mitstreiter von damals wurden seitdem festgenommen. Maria floh kurz nach Neujahr: Das letzte Foto mit ihrem Sohn zeigt die beiden vor dem Christbaum.

    In Polen ist Maria jetzt in Sicherheit. Das Nachbarland nimmt junge weißrussische Oppositionelle auf und gibt ihnen die Chance, ihr Studium fortzusetzen oder eine zweite Ausbildung zu beginnen. Denn in der Heimat werden viele von ihnen von der Universität vertrieben, wenn sie ins Visier der Staatsmacht geraten. Die Hochschulen entziehen ihnen entweder direkt die Immatrikulation oder geben ihnen plötzlich nur noch die schlechtesten Noten.

    Maria hatte Glück: Sie bekam noch im Dezember ihr Psychologie-Diplom, aber die Ausbildung zur Psychotherapeutin hätte sie in Weißrussland nicht mehr machen können. Dafür büffelt sie jetzt in Warschau Polnisch: Vom Herbst an will sie dann hier die Universität besuchen.

    "Ich bin Polen sehr dankbar für diese Möglichkeit. Wir werden hier herzlich aufgenommen. Natürlich ist es schade, dass ich von hier aus wenig für unsere Organisation in Weißrussland tun kann. Gerade erst wurden wieder die Wohnungen von einigen von uns durchsucht. Aber die in Weißrussland geblieben sind, finden es gut, dass ich hier bin: Sie sagen, so kann die Regierung wenigstens nicht alle von uns ins Gefängnis stecken."

    Das polnische Stipendienprogramm für Weißrussen gibt es seit fünf Jahren, insgesamt unterstützt es gerade 300 junge Menschen. Seit dem vergangenen Dezember ist der Andrang besonders groß, nach der mutmaßlich gefälschten Präsidentenwahl war die Polizei in Minsk brutal gegen Demonstranten vorgegangen.

    Der Direktor des Programms Jan Milicki ist stolz darauf, dass Polen den Verfolgten im Nachbarland hilft.

    "Die Regierung dort beobachtet uns genau und reagiert wütend. Immer wieder gibt es im staatlichen weißrussischen Fernsehen Berichte, die uns diffamieren. Es heißt, wir geben den Studenten zu wenig zu essen oder zwingen sie, kostenlos zu arbeiten. Das ist natürlich Unsinn. Einer unserer Studenten entpuppte sich sogar als Agent des weißrussischen Geheimdienstes. Ich bin sicher, dass die wenigsten Weißrussen den Lügen glauben, die er jetzt in seinem Heimatland über uns verbreitet."

    Aber auch in Polen gibt es kritische Stimmen. Das Programm helfe jungen Weißrussen zu emigrieren, so der Vorwurf, und schade dadurch dem Nachbarland.

    Jan Milicki sieht das anders:

    "Es ist doch gut, dass diese jungen Menschen in Polen sind und nicht als politische Flüchtlinge über die ganze EU verstreut. Denn wir hier beschäftigen uns mit Weißrussland als unserem Nachbarn, hier bleiben die Studenten ihrem Land viel näher. Dementsprechend größer ist die Chance, dass sie einmal zurückkehren."

    Maria, die junge Mutter, will auf jeden Fall so bald wie möglich wieder bei ihrem Sohn und ihren Freunden wohnen, spätestens nach dem Ende ihrer Ausbildung in Polen in zwei Jahren. Sie hofft, dass sie dann ein anderes Weißrussland vorfinden wird. Die wirtschaftliche Krise dort, so meint sie, könne die politische Wende bringen.

    "Die Bereitschaft der Menschen wächst, gegen das Regime zu protestieren. Vor ein paar Monaten haben sie noch gesagt: Wir können doch sowieso nichts tun. Aber wer nicht mehr genug Geld verdient, um seine Familie zu ernähren, der hat nicht mehr viel zu verlieren."