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Flüchtlinge auf Lesbos
Geisel (SPD): "Deutschland muss jetzt handeln"

Angesichts der humanitären Katastrophe auf Lesbos müsse man jetzt Hilfe leisten, sagte der Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD) im Dlf. Berlin sei bereit und auch in der Lage, 300 Minderjährige aufzunehmen. Seit 2015 habe man schließlich etwa 100.000 Menschen in Berlin aufgenommen und integriert.

Andreas Geisel im Gespräch mit Christiane Kaess | 15.09.2020
Andreas Geisel (SPD) steht im Berliner Abgeordnetenhaus bei einer Plenarsitzung am 20. August 2020 am Rednerpult.
Andreas Geisel (SPD) ist seit 2016 Senator für Inneres und Sport in Berlin (imago images / Christian Ditsch)
Nach dem Brand im Flüchtlingscamp Moria harren etwa 13.000 Menschen auf Lesbos aus. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Innenminister Horst Seehofer verkündeten am Vormittag des 15. September, Deutschland sei bereit rund 1.500 Migranten von den griechischen Inseln aufzunehmen. Am Ende der vorherigen Woche hatte Seehofer noch von bis zu 150 unbegleiteten Minderjährigen gesprochen.
Das war vielen Kommunen und Städten deutlich zu wenig. So ist zum Beispiel Innensenator Andreas Geisel (SPD) gerade nach Athen gereist, um sich vor Ort über die Lage zu informieren. Berlin sei bereit, 300 Kinder und Jugendliche aufzunehmen, sagte er im Deutschlandfunk. Doch um das tun zu können, braucht das Bundesland die Zustimmung des Bundesinnenministeriums.
11.09.2020, Griechenland, Moria: Ein Mädchen sitzt am Rande einer Straße in der Nähe des ausgebrannten Flüchtlingslagers Moria. Mehrere Brände haben das Lager fast vollständig zerstört. Laut griechischer Regierung haben Migranten den Brand gelegt. Das Lager ist eigentlich auf 2800 Bewohner ausgelegt, zuletzt lebten dort aber mehr als 12 000 Migranten. 
Der neue Streit um die Flüchtlingspolitik
Auf allen politischen Ebenen ist nach dem Brand im Flüchtlingslager Moria die Auseinandersetzung um Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen wieder angekommen. Deutschlandfunk-Korrespondenten berichten.
Seine Reise solle deshalb auch politischen Druck erzeugen, "Deutschland muss jetzt handeln", sagte Geisel im Deutschlandfunk. Die Situation sei eine "humanitäre Katastrophe". Berlin wolle zeigen, was möglich wäre, wenn man sich engagiere. Jahrelanges Wegschauen habe nicht geholfen.
Die griechische Regierung hingegen möchte nicht, dass Menschen aus Moria direkt ins Ausland reisen. Der Brand im dortigen Flüchtlinsglager dürfe kein Exempel statuieren. Nur Menschen, deren Asylverfahren abgeschlossen sind, dürften das Land verlassen.
Wir haben mit Andreas Geisel über das Ziel seiner Reise nach Griechenland gesprochen. Das Interview fand vor der Einigung von Angela Merkel und Horst Seehofer über die Aufnahme von 1.500 Menschen statt.

Christiane Kaess: Was haben Sie in Athen vor?
Andreas Geisel: Wir treffen uns hier mit griechischen Behörden, mit dem UNHCR, mit dem IOM, der Organisation für Migrationsangelegenheit, mit Ärzte ohne Grenzen. Wir besuchen ein Flüchtlingslager, reden mit der deutschen Botschaft, um einfach einen Überblick vor Ort zu bekommen, weil wir den Eindruck haben, dass die Informationen, die uns in Deutschland zur Verfügung stehen, ergänzt werden sollten durch ein Bild vor Ort. Und natürlich möchte ich politischen Druck erzeugen.
Kaess: Genau, weil sie wollen Flüchtlinge aufnehmen. Das haben Sie mehrmals betont. – Jetzt ist es so, dass die griechische Regierung sagt, wir lassen niemanden aus Moria ausreisen, oder von der Insel Lesbos, denn sonst könnte der Fall Moria Schule machen, dass nach einem Brand die Flüchtlinge in der EU weiterverteilt werden - in diesem Fall wäre das nach Deutschland. Hat man Sie mit dieser Position schon konfrontiert?
"Die Sorge der Griechen ist spürbar"
Geisel: Das werden nachher die Gespräche zeigen. Aber ganz so ist es ja eben nicht! Diese Aussage ist sehr verkürzt. Wenn man sich die letzten Monate anschaut – das haben wir gestern Abend hier schon feststellen können -, sind auch in den vergangenen Monaten tausende Menschen von Moria ausgereist, auch von den anderen griechischen Inseln ausgereist, aufs Festland gebracht worden und durchaus weiter nach Europa gereist – einfach mit dem Hintergrund, dass sie asylfähig sind, dass sie aufnahmefähig ist. So ist es dazu gekommen, dass Moria – das war für 2500 Menschen konzipiert, dann mit 20.000 besetzt – jetzt mit 13.000 Menschen besetzt war. Dort sind 7000 abgewandert. Da gibt es eine gewisse Fluktuation. Aber die Sorge der Griechen ist ja mit Händen spürbar. Das ist schon wahr.
Eine Luftaufnahme zeigt neue Zelte, in denen Flüchtlinge aus dem abgebrannten Lager Moria unterkommen sollen.
Ehemaliger griechischer Regierungssprecher: Griechenland befürchtet Kontrollverlust
Die Europäische Union müsse Griechenland helfen, die Menschen aus dem abgebrannten Lager in Moria vor Ort zu versorgen, sagte der ehemalige griechische Regierungssprecher Evangelos Antonaros im Dlf. Die Menschen aufs Festland zu holen oder ausreisen zu lassen, halte die Regierung für ein zu großes Risiko.
Kaess: Sie sagen jetzt, diese Aussage ist verkürzt. Es ist ja wohl nach dem Brand jetzt die Situation anders. Es scheint ja so, als wollte die griechische Regierung da jetzt ein Exempel statuieren. Ministerpräsident Mitsotakis sagt, er habe mit Angela Merkel schon darüber gesprochen, dass Deutschland Flüchtlinge aufnehmen könne – allerdings nur solche, deren Asylverfahren abgeschlossen sind, die schon als Flüchtlinge anerkannt sind und die dann nicht aus Moria kommen, sondern vom griechischen Festland. Das heißt für Sie, Herr Geisel, auch Sie könnten niemanden aus Moria rausholen.
Geisel: Das werden jetzt die Gespräche zeigen. Wichtig ist ja, dass wir Menschen helfen. Ich will es mal so sagen: Das Thema hat vier Ebenen, über das wir hier sprechen. Als erstes erleben wir hier, erlebt Griechenland eine humanitäre Katastrophe. Menschen brauchen Hilfe und es hat sich nun gezeigt, dass jahrelanges Wegschauen nicht hilft. Es wird nicht weniger, es hört nicht von alleine auf. Also man muss was tun. Erstens: Humanitäre Katastrophe. Da kann Deutschland helfen. Ich finde, da muss Deutschland auch helfen.
Aber klar ist auch: Deutschland kann das Problem nicht alleine bewältigen. Da gibt es europäische Partner, die ganz genauso heran müssen. Wenn wir gemeinsame europäische Werte haben, dann müssen wir auch in schwierigen Situationen zusammenkommen, und da hat die deutsche EU-Ratspräsidentschaft sicherlich jetzt eine Koordinierungsaufgabe.
"Berlin hat Kapazitäten"
Kaess: Aber, Herr Geisel, wenn ich da mal einhaken darf? Sie machen ja gerade jetzt als Bundesland sogar einen Alleingang.
Geisel: Ja.
Kaess: Denn Ihre Partei, die SPD versucht ja gerade auf Bundesebene, den Koalitionspartner, die Union unter Druck zu setzen, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Und ausgerechnet jetzt, wo Bewegung in die Sache kommt, fallen Sie diesen Bemühungen Ihrer eigenen Partei durch einen Alleingang in den Rücken. Das kann ja nur kontraproduktiv sein.
Geisel: Nein, ganz im Gegenteil. Ich finde, wir gehen dort Seite an Seite. Dass eine Landesaufnahmeanordnung eines einzelnen Bundeslandes nur die zweitbeste Lösung ist, das weiß ich auch, aber wir machen den Bundesinnenminister seit Dezember vergangenen Jahres jetzt mehrfach darauf aufmerksam, dass Berlin Kapazitäten hat, dass wir helfen können, und wir erhöhen damit den Druck. Dass eine Bundeslösung schneller ist und viel einfacher ist, das weiß ich auch, aber dann muss sie auch kommen.
Kaess: Sie sagen, Sie machen den Bundesinnenminister darauf aufmerksam, und Ihr Landesprogramm wäre ja nur möglich mit der Zustimmung von Horst Seehofer. Ist diese Formulierung vielleicht nicht anders zu treffen? Muss man vielleicht sagen, Sie stoßen Herrn Seehofer gerade ganz schön vor den Kopf?
Geisel: Wir zeigen, was möglich ist, wenn man sich engagiert. Wegschauen hilft nicht.
Kaess: Aber die Möglichkeiten hat man Ihnen ja noch gar nicht zugesprochen.
Geisel: Dann formuliere ich: Wir zeigen, was möglich wäre, wenn man sich engagiert. Klar ist aber auch, dass die Krise sich hier verschärft, dass seit mindestens fünf Jahren allen bewusst ist, dass die Situation eigentlich nicht so bleiben kann, wie sie ist, dass sie zu einer humanitären Katastrophe führt, dass europäische Werte, die wir immer im Munde führen, hier innerhalb der Europäischen Union praktisch nicht tragen, und dass das Problem nicht kleiner wird, sondern größer, wenn man wegschaut. Es mag sein, dass wir hier den Druck erhöhen, aber ich glaube, Deutschland muss jetzt handeln. Europa muss jetzt handeln.
"Wir konzentrieren uns auf Kinder, Jugendliche, schwer Erkrankte, vor allem auch auf Familien"
Kaess: Unter anderem einige Unions-Politiker haben noch ein anderes Argument gegen Ihr Vorgehen, nämlich die Ereignisse von 2015 dürfen sich nicht wiederholen. Wenn jetzt die deutschen Bundesländer so vorschießen, wie Sie das gerade machen, nehmen Sie nicht den Druck raus, eine europäische Lösung zu finden?
Geisel: Nein, weil es so einfach nicht ist. 2015 war ja vor allen Dingen das Problem, dass es unkontrolliert erfolgte, dass Menschen in Größenordnungen unkontrolliert und ohne Identitätsfeststellungen ins Land gekommen sind, und genau das wollen wir hier an dieser Stelle nicht. Wir sagen ja, dass wir entweder mit einem Landesaufnahmeprogramm, oder mit einem Bundesprogramm auch sehr genau schauen, wer da zu uns kommt, oder wer da zu uns kommen will, und wir konzentrieren uns dort auf vulnerable Gruppen, auf Kinder, Jugendliche, schwer Erkrankte, vor allem auch auf Familien, die hier in verzweifelten Situationen leben. Deswegen bin ich auch hier, um beispielsweise mit dem UNHCR darüber zu reden, wer sucht eigentlich die Menschen aus, welchen Gruppen kann man unmittelbar helfen oder welche Gruppen werden beispielsweise auf welche Länder verteilt. Und es muss aber auch darüber gesprochen werden – und das kommt immer zu kurz -, dass wir Frontex verstärken müssen, dass das deutsche Engagement oder das europäische Engagement hier beim griechischen Grenzschutz durchaus auch verstärkt werden muss.
Es hilft ja nichts, einfach wegzuschauen und zu sagen, die Griechen werden das schon tun. Das was Frontex hier im Moment zum Grenzschutz der Europäischen Union leistet, reicht ganz offensichtlich noch nicht aus.
Dann gibt es noch eine vierte Ebene, das ist die Türkei. Die Türkei hat eigentlich den Schlüssel in der Hand. Es wird ganz oft über den Pull-Effekt gesprochen, der dann eintreten würde, weil dann immer mehr Menschen nachrücken. Das liegt in der Hand der Türkei.Kaess: Herr Geisel, wenn Sie die Größenordnung ansprechen der Menschen, die Deutschland jetzt möglicherweise aufnehmen könnte, dann könnte man das Argument, das teilweise von Unions-Politikern kommt, auch noch anders zuspitzen und sagen, Sie leisten jetzt mit Ihrem Vorgehen Wahlhilfe für die AfD.
Geisel: Ja. Ich kann aber auch sagen, wir orientieren uns nicht an denjenigen, die Hilfe verweigern wollen, sondern wir orientieren uns an denjenigen, die zu humanitären Werten stehen, die zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. Wissen Sie, im Straßenverkehr ist das eindeutig geregelt. Hilfe muss geleistet werden. Unterlassene Hilfeleistung wird bestraft. Wollen wir uns jetzt politisch an den Typen orientieren, die sagen, wir fordern die Menschen dazu auf, Hilfeleistung zu unterlassen? – Ich finde das falsch.
Geisel: Seit 2015 bis zu 100.000 Menschen in Berlin integriert
Kaess: Aber man muss die Hilfe auch leisten können und Berlin ist jetzt gerade nicht bekannt für seine Finanzkraft. Flüchtlinge zu integrieren, das kostet ja auch Geld. Wie ist die Stadt denn überhaupt vorbereitet für die Aufnahme von Menschen?
Geisel: Ich möchte Ihnen dort zunächst mal widersprechen. Berlin hat seit 2015 etwa 80.000 bis 100.000, in dieser Größenordnung Menschen aufgenommen und integriert. Das ist eine großartige Integrationsleistung, die da von Berlin erbracht worden ist, genauso wie von anderen Bundesländern auch. Es ist ja nicht so, dass wir diese Situation nicht bewältigt hätten und dass es nicht hervorragende Beispiele für gelungene Integrationen gäbe.
Wir reden hier von Größenordnungen mehrerer hundert Menschen. Wir haben in unserem Landesaufnahmeprogramm gesagt 300. Das ist limitiert dadurch, dass wir uns konzentriert haben auf Kinder und Jugendliche, die traumatisiert sind. Das heißt, dass wir dann Kinderpsychologen brauchen und betreutes Wohnen und Ähnliches. Das setzt dieses Limit.
Ich bin unter anderem hier vor Ort, um festzustellen, um welche Gruppen handelt es sich denn, gibt es die denn real, oder sind es andere Familien, die theoretisch kommen könnten oder denen wir theoretisch helfen könnten. Daran bemisst sich auch die Größenordnung, die wir aufnehmen.
Nur die Ansage, ganz Europa, zehn europäische Länder, zusammen schaffen wir 400, das ist beschämend wenig. Ich glaube, das löst auch nicht das Problem. (Anmerkung der Redaktion: Erst nach dem live geführten Interview haben Angela Merkel und Horst Seehofer ihre Einigung über die Aufnahme von 1.500 Menschen veröffentlicht.)
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.