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Flüchtlinge im Mittelmeer
"Alle Mitgliedsstaaten müssen sich bewegen"

Die Flüchtlinge, die übers Mittelmeer in der EU ankommen, seien nicht nur Sache von Italien und Malta, sondern aller Mitgliedsstaaten, sagte die grüne Europapolitikerin Ska Keller im Dlf. Es brauche ein faires und solidarisches Verteilungssystem. Deutschland sollte hier vorangehen, forderte Keller.

Jürgen Zurheide im Gespräch mit Ska Keller | 05.01.2019
    Migranten auf der MS Aquarius von SOS Mediterranee auf dem Meer vor Sizilien gebracht | picture alliance | Verwendung weltweit
    Gerettete Flüchtlinge im Mittelmeer: "Ohne Seenotrettung sterben Menschen", sagte die EU-Abgeordnete Ska Keller im Dlf (picture alliance)
    Jürgen Zurheide: Einige Dutzend Flüchtlinge sitzen noch immer auf mehreren Booten im Mittelmeer fest, und bisher weigern sich die europäischen Länder mehr oder weniger, sie aufzunehmen, und das, obwohl deren Lage im Winter auf den Schiffen alles andere als angenehm ist - und das ist jetzt freundlich-zurückhaltend ausgedrückt. Ich begrüße jetzt am Telefon Ska Keller, die grüne Spitzenkandidatin für die Europawahl, die vor Ort ist. Guten Morgen, Frau Keller!
    Ska Keller: Guten Morgen!
    Zurheide: Frau Keller, Sie waren selbst an Bord, wir haben gerade schon einige Eindrücke bekommen. Was ist bei Ihnen heute Morgen besonders hängen geblieben?
    Keller: Die wirklich absurde Situation ist, dass wir auf diesem Versorgungsschiff da hingefahren sind. Wir haben Versorgungsmaterial gebracht, das die NGO organisiert hat, wir haben mit den Flüchtlingen an Bord gesprochen. Und dann, nach einigen Stunden, sind wir Abgeordnete zurückgefahren nach Malta, haben im Hotel übernachtet, werden zurück nach Berlin und Brüssel fahren. Und die Flüchtlinge, die sitzen immer noch auf diesem Boot fest, die konnten nicht einfach die einstündige Fahrt in den Malteser Hafen nehmen, sondern sie sitzen nach wie vor fest auf dem Schiff. Ja, es ist eine absurde Situation, dass wir in der Europäischen Union 2019 es nicht hinbekommen, insgesamt 49 Flüchtlinge aufzunehmen.
    "Solidarität und Fairness - auch der anderen Mitgliedsstaaten"
    Zurheide: Jetzt hat die italienische Regierung ja immerhin - und sie feiert das selbst als einen Akt der Menschlichkeit - sich bereit erklärt, Frauen und Kinder an Bord zu nehmen. Wie bewerten Sie das?
    Keller: Ja, das ist schön und gut, dass Salvini jetzt Frauen und Kinder erwähnt. Allerdings gibt es ja auch noch andere Leute. Aber was wirklich passieren muss, gerade in Italien, ist, dass die Häfen halt aufgemacht werden. Natürlich ist Italien und gerade auch Malta natürlich in einer geografisch schwierigen Lage, deswegen ist es absolut richtig, dass die anderen Mitgliedsstaaten sich auch bewegen müssen. Hier müssen alle vorangehen. Das ist eine Sache, die Italien und Malta besonders betrifft, aber gerade eben auch die anderen Mitgliedsstaaten, die da nicht sagen können: Okay, Malta soll sich kümmern oder Spanien, wo auch viele ankommen, sollen sich kümmern, sondern es braucht wirklich hier Solidarität und Fairness auch der anderen Mitgliedsstaaten.
    Zurheide: Wir reden gleich noch darüber, was in Europa passieren muss. Auf der anderen Seite müssen wir natürlich auch darüber reden, dass diese Rettung, ich sag's mal vorsichtig, immer mindestens zweischneidig ist. Auf der einen Seite, klar, jeder Mensch im Meer muss gerettet werden, das ist ein ehernes Gesetz der Menschlichkeit, auf der anderen Seite zeigt es natürlich auch, dass sich das Schlepperwesen wieder lohnt, und ob man will oder nicht, macht man da mit. Diese gespaltene Gefühlslage, die ich da ausdrücke, empfinden Sie das auch?
    Keller: Ehrlich gesagt nein. Bei der Seenotrettung geht es wirklich darum, lasse ich einen Menschen ertrinken oder nicht, und für mich ist das keine Zweischneidigkeit, sondern das ist genau das, wie Sie sagen, das eherne Gesetz der Menschlichkeit, da darf es überhaupt gar keinen Zweifel geben. Natürlich muss man sich mit der Schlepperei auseinandersetzen und gucken, was kann man tun.
    "Ohne Seenotrettung sterben Menschen"
    Zurheide: Was kann man tun, dass das unterbunden wird, denn das sind ja mafiöse Strukturen und nicht sozusagen, je mehr Menschen gerettet werden, umso mehr werden die da mit immer schwächeren Booten rausgeschickt. Also diesen Mechanismus haben wir ja gesehen, oder ist das falsch beobachtet?
    Keller: Das trifft nicht ganz zu, weil es findet ja de facto kaum noch Seenotrettung statt. Es gibt keine staatliche Seenotrettung mehr, die italienische Küstenwache ist lange Zeit nicht mehr unterwegs gewesen. Es gibt kaum noch NGO-Schiffe da, die ja festgehalten werden immer, und trotzdem sind die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer unterwegs.
    Sie haben ja gerade die neuen Zahlen gesehen, dass Tausende Menschen 2018 ertrunken sind im Mittelmeer, obwohl Seenotrettung de facto kaum noch stattgefunden hat. Das passt nicht ganz zusammen. Wenn wir keine Seenotrettung haben, dann sterben Menschen. So ist das letztendlich. Wir müssen was tun gegen Schlepper. Zum einen hat das Schlepperwesen in Libyen natürlich was damit zu tun, dass wir de facto auch keinen Staat haben in Libyen. Wir haben da letztendlich einen Bürgerkrieg, der stattfindet. Das ist ein Kernproblem, das lässt sich aber natürlich nicht so schnell von heute auf morgen lösen. Und ein Kernproblem der Schlepperei ist aber gerade, dass die Menschen ja gar keine andere Möglichkeit haben.
    Also wenn ich Schutz brauche, wenn ich Schutz suche und den beantragen will in Form von Asyl in der Europäischen Union oder sonst wo, dann muss ich da irgendwie hinkommen. Es gibt für die Flüchtlinge gerade keinen legalen Weg hinzukommen. Man könnte ja sagen, warum nehmt ihr nicht ein normales Schiff, warum nehmt ihr nicht Flugzeuge, aber das dürfen die Flüchtlinge nicht, das heißt, die haben gerade keinen anderen Weg, als die Schlepper zu nutzen. Und da müssen wir rangehen und sagen, nein, es muss eine andere, eine legale Möglichkeit geben, wie Menschen auf der Flucht wirklich Schutz bekommen können und sich nicht mehr den Schleppern aussetzen müssen.
    "Legale Fluchtwege für Menschen auf der Flucht"
    Zurheide: Es gibt ja immer die zwei Aspekte: Was muss sich in den Herkunftsländern ändern? Jetzt haben Sie gerade gesagt, Libyen ist natürlich ein ganz schwieriger Fall, weil es keine Regierung gibt, da wird man wenig erwarten können. Und auf der anderen Seite dieses Tor nach Europa. Wie müsste Flüchtlingspolitik denn aus grüner Sicht aussehen?
    Keller: Ganz wichtig in der Tat ist die Situation in den Herkunftsländern. Libyen ist mittlerweile auch ein Herkunftsland, aber vor allem immer noch Transitland. Manchmal lässt sich nicht so schnell was machen an den Herkunftsländern. Zum Beispiel in Syrien haben wir halt Krieg, in Libyen den Konflikt, das ist nicht so einfach, schnell von heute auf morgen was zu ändern, das sehen wir ja gerade in den jahrelangen Bemühungen in Syrien. Bei anderen Fällen können wir mehr tun, wir können zum Beispiel wirklich seriös was tun gegen Waffenlieferungen in Konfliktgebiete. Zum Beispiel hat ja auch gerade Deutschland jahrelang Waffen noch nach Saudi-Arabien geliefert, die halt den Jemen bombardieren, und Saudi-Arabien ist nicht das einzige Land. Wir können etwas tun, indem wir auch eine faire Handelspolitik setzen, eine faire Agrarpolitik, da lässt sich mit der europäischen Politik und der deutschen Politik sehr, sehr viel tun, da sitzen wir oft am längeren Hebel. Das ist die eine Säule von Asylmigrationspolitik: Fluchtursachen mindern, denn kein Mensch flieht freiwillig. Zweitens brauchen wir aber diese legalen Fluchtwege für Menschen auf der Flucht, damit sie sich eben nicht den Schleppern aussetzen müssen, die die Flüchtlinge für viel, viel Geld auf seeuntaugliche Schlauchboote setzen.
    Zurheide: Wie muss dieser legale Weg aussehen? Das heißt, in den Herkunftsländern müsste es Möglichkeiten geben, zum Beispiel Asyl beantragen oder zu sagen, ich hab bestimmte Qualifikationen, ich kann, ich möchte kommen?
    Keller: Da gibt es verschiedene Modelle, die auch bereits machbar sind. Zum Beispiel könnten die Mitgliedsstaaten humanitäre Visa vergeben, das heißt, dass die Flüchtlinge dann legal in die Europäische Union reinkommen könnten, um hier Asyl zu beantragen.
    Ein zweiter Weg ist das sogenannte Resettlement, das wird vom UN-Flüchtlingshilfswerk organisiert. Die sagen dann, hier haben wir Flüchtlinge aus Syrien zum Beispiel in dem Flüchtlingscamp in zum Beispiel Jordanien, und die müssen dringend in ein anderes Land gebracht werden, um dort Asyl zu beantragen. Wie gesagt, das wird über die Vereinten Nationen organisiert, und da kann jedes Mitgliedsland der Europäischen Union mitmachen, kann sagen, wir nehmen jedes Jahr soundso viele Leute auf, und damit kann man wirklich etwas erreichen. Also das sind einfach nur zwei Möglichkeiten, die bereits jetzt möglich sind.
    Für dieses Resettlement gibt es auch finanzielle Unterstützung der Europäischen Union, also das ist nichts, was man sich neu ausdenken kann, das gibt es schon. Und die dritte Säule ist halt eine europäische Asylpolitik, die den Namen auch verdient. Es braucht ein faires und solidarisches Verteilungssystem für Flüchtlinge, die in der EU ankommen. Es braucht gute und gleiche Standards in der Europäischen Union für die Anerkennung von Asyl. Dafür haben wir im Europäischen Parlament auch bereits die Gesetzesvorschläge gemacht, zum Beispiel für die Umverteilung der Flüchtlinge mit einem großen Konsens im Europäischen Parlament - das ging durchaus von den Konservativen bis zu den Linken. Und wir haben im Europäischen Parlament das hinbekommen, über die Fraktionen hinweg, über die Ländergrenzen hinweg, und jetzt erwarten wir, dass die Mitgliedsstaaten, also die Regierungen der Mitgliedsstaaten, auch bereit sind, diesen Kompromiss mitzumachen. Und auf diese Zusage warten wir bereits seit zwei Jahren.
    Deutschland soll vorangehen
    Zurheide: Genauso ist aber das Problem, dass einige Länder nicht mitmachen wollen, aus Gründen, die dann immer schwierig von außen zu beurteilen sind. Die Polen sagen, wir haben soundso viele Menschen aus der Ukraine aufgenommen, jetzt wollen wir nicht noch andere. Sind wir da nicht auch manchmal zu ungerecht, indem wir das nicht ausreichend bewerten?
    Keller: Ja, vor allem hat Deutschland ja ganz lange sich geweigert, bei dieser solidarischen Verteilung mitzumachen. Wir hatten als Europäisches Parlament das bereits 2013 vorgeschlagen, bei der letzten Asylreform. Da hätte man sehr, sehr vielen unserer heutigen Probleme begegnen können, wenn wir da damals schon die Reform gemacht hätten. Und damals hat Deutschland gesagt, Njet, und demzufolge ist sie nicht gekommen, und jetzt beklagt sich die deutsche Bundesregierung, dass die anderen nicht mitmachen - das ist schon sehr kurzfristig gedacht.
    Aber ich denke, wenn jetzt auch Länder nicht mitmachen wollen - und leider ist die Aufnahme von Leuten aus der Ukraine in Polen keine gute Ausrede, weil die Menschen aus der Ukraine nicht Asyl beantragen können in Polen. Wenn sie das tun, dann wird der Asylantrag in aller Regel in 90 Prozent der Fälle ungefähr abgelehnt, und dann haben sie ein echtes Problem, also deswegen ist es keine gute Ausrede. Aber trotzdem, wenn es jetzt die Situation gibt, dass einige Länder sehr gerne wollen und andere Länder nicht, dann, denke ich, können auch einzelne Länder im Verbund zusammengehen.
    Warum macht sich Deutschland zusammen mit anderen Ländern, die auch mitmachen wollen - zum Beispiel Spanien, Portugal, Frankreich, und da gibt es noch weitere andere -, warum sagen die nicht zu zehnt oder so: wir gehen voran, wir machen bereits diese solidarische Verteilung unter uns - und die anderen können dann sehen, dass es funktioniert, und mitmachen. Warum nicht?
    Zurheide: Das war und ist Ska Keller, die grüne Spitzenkandidatin für die Europawahlen demnächst, hier bei uns im Deutschlandfunk am Telefon. Danke heute Morgen für das Gespräch, danke schön!
    Keller: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.