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Flüchtlinge in Calais
Ein Slum in der Heidelandschaft

Am Eurotunnel warten Tausende Flüchtlinge darauf, nach Großbritannien weiterziehen zu können. In Calais leben rund 3.000 von ihnen in Hütten und Zelten. Eine Hilfsorganisation betreibt dort ein Empfangszentrum, um elementare Bedürfnisse zu erfüllen. Vertreter der französischen Regierung und der EU kamen nun zu Besuch.

Von Annette Riedel |
    Zelte, zum Teil von Plastikplanen umhüllt, stehen auf einer Wiese, Menschen laufen dazwischen umher.
    Den "Dschungel" nennen die Menschen die Zeltstadt, in denen die Flüchtlinge in Calais leben. (FRANCOIS LO PRESTI / AFP)
    Mehrere Busse, ein halbes Dutzend Limousinen rollen am sogenannten Dschungel vorbei, vielleicht vier Kilometer außerhalb von Calais. Der französische Regierungschef Valls und seine Gäste aus Brüssel haben durch die getönten Scheiben einen guten Blick auf das provisorische Zeltlager mit rund 3.000 Flüchtlingen. Es hat geregnet. Die behelfsmäßigen Unterkünfte aus Zelten, Plastikplanen und Holzpaletten, Sperrmüll-Möbel, Abfallberge - alles versinkt in tiefen Pfützen und Schlamm. Ein Slum - anders kann man es kaum nennen - in einer heideartigen Dünen-Landschaft, unweit der Küste. Einzelne Flüchtlinge stehen am Straßenrand, schauen der Kolonne nach. Die hält vor dem Jules-Ferry-Zentrum. Im letzten Sommer war hier noch ein Kinder-Ferienlager. Seit Anfang Januar betreibt die Organisation "La Vie Active" an dieser Stelle mit Unterstützung vom französischen Staat und von der EU eine Anlaufstelle für die "Dschungel-Bewohner".
    Der Leiter des Zentrums, Stephane Duval, empfängt die Gäste aus Paris und Brüssel. Erklärt, was das sogenannte Empfangs-Zentrum den Flüchtlingen anbieten kann. Und was nicht:
    "Mittlerweile geben wir über 2.300 Mahlzeiten täglich aus. Wir haben 400 Steckdosen, damit sie ihre Handys aufladen können. Es gibt Toiletten, Duschen, Trinkwasser-Hähne, Waschmaschinen - kurz, alles, was dazu geeignet ist, die elementaren Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen."
    "Wir schicken niemanden weg"
    Duval begleitet den hohen Besuch durch das Zentrum. Geöffnet ist es täglich von 12 Uhr bis 20 Uhr. Zehn Sozialarbeiter unterstützen die Neuankömmlinge bei Behördengängen und, zusammen mit Partnerorganisationen, dabei, sich irgendwie einzurichten in der Situation. Der Direktor der Betreiber-Organisation Guillaume Alexandre erklärt den Sinn und Zweck des Zentrums:
    "Wir wollen diesen Menschen mit einem extrem schwierigen Alltag schlicht eine Pause verschaffen. Ein paar Stunden am Tag sollen sie sich in einem geschützten Raum bewegen. Wir schicken niemanden weg. Sie können sich ausruhen und unsere speziellen Angebote nutzen."
    Tagsüber. Abends müssen sie zurück in den Dschungel, den man hier zwar lieber "die Heide" nennt - schließlich hausten da keine Wilden, sagt Zentrums-Leiter Duval.
    Schlafmöglichkeiten gibt es im Zentrum nur in mehreren flachen Container-Häusern für momentan 115 Frauen und Kindern. Das soll sich ändern. Mit rund 5 EU-Millionen soll aus dem Dschungel ein ordentliches Zelt-Dorf mit Infrastruktur werden, zumindest für 1.500 Menschen. EU-Vize-Kommissionspräsident Timmermans hat diese Ankündigung nach Calais mitgebracht. In den Dschungel geht keiner der Besucher. Aber sie treffen 4 Flüchtlingsfrauen im Tages-Zentrum. Reden einige Minuten mit ihnen. Die Presse bleibt dabei außen vor. Verständlich.
    Die Botschaft: Calais ist nicht allein
    Stephane Duval erzählt unterdessen eine der vielen, vielen bedrückenden Geschichten, die er täglich erlebt, mit Menschen, die hier vor allem aus dem Sudan und Eritrea, zuletzt zunehmend aus Syrien geflohen sind. Darunter Ärzte, Professoren, Ingenieure.
    "Letzte Woche habe ich einen Herrn gesehen, der von uns Zelte und Decken für seine Frau und seine Kinder erbat. Die zur Verfügung zu stellen, gehört aber leider nicht zu unseren Aufgaben. Ich musste sehen, wie dieser Mann zu weinen anfing, weil er nicht wusste, wie er das selbst organisieren sollte."
    Dem Mann wurde schließlich doch noch geholfen, in Kooperation mit anderen Organisationen, die sich für die Flüchtlinge in Calais engagieren.
    EU-Kommissions-Vize Timmermans ist bei seinem Rundgang durch das Zentrum voll des Lobes für das Bemühen aller Beteiligten mit der Situation klar zu kommen.
    "Ich bin beeindruckt über die Anstrengungen Frankreichs in den letzten Monaten. Ich bewundere auch die Menschen, die hier unter enormen Druck arbeiten. Die EU-Kommission arbeitet mit den französischen Offiziellen eng zusammen, wird das weiter tun und helfen. Und wir helfen, wo wir nur können."
    "La présence du commissaire européenne montre l'implication si l'Europe c'est ensemble."
    Das, was der französische Regierungschef Valls beim Rundgang sagt, ist erkennbar Sinn und Zweck der Übung: Calais ist nicht allein. Paris ist da. Die EU ist da.
    Manuel Valls schüttel die Hand eines Polizisten, der in einer Reihe Polizisten steht. Es regnet, jemand hält Valls einen Schirm über den Kopf.
    Frankreichs Premierminister Manuel Valls bei seinem Besuch in Calais am 31. August 2015. (FRANCOIS LO PRESTI / AFP)
    "Wir brauchen eine europäische Antwort"
    Kurzer Stopp am Eurotunnel, rund sieben Kilometer vom Dschungel entfernt. Auch eine Hundestaffel gehört zu den 1.300 Sicherheitskräften Frankreichs und Großbritanniens, die mittlerweile den Eingang zum Eisenbahn-Tunnel unterm Ärmelkanal sichern. Links und rechts der Gleise werden gerade die letzten Lücken in einem neuen Zaun geschlossen. Ein notwendiges Übel wird ihn EU-Migrationskommissar Avramopoulos später bei der Pressekonferenz nennen:
    "Barrieren, Zäune - eine der größten Errungenschaften der europäischen Integration bleibt die Bewegungsfreiheit der EU-Bürger in Europa. Wir sind gegen alles, was sie behindert. Aber, ja, wir müssen auch die europäischen Grenzen schützen."
    Timmermans redet bei der Gelegenheit noch einmal allen EU-Ländern ins Gewissen, a), nicht mit nationalen Alleingängen zu versuchen, dem Flüchtlingsstrom zu begegnen - kleiner, versteckt-deutlicher Seitenhieb Richtung Ungarn und seinen Grenzzaun. Und b), wirbt er noch einmal für die Pläne der EU-Kommission, zu einer fairen Lastenverteilung unter den EU-Staaten, zu der bekanntlich nicht alle 28 bereit sind.
    "Niemand kann sich mehr verstecken; jeder muss seinen Teil tun. Es braucht eine europäische Antwort. Alles andere ist inakzeptabel. Noch bremsen einige. Wir würden gern, dass wir schneller vorankämen. Aber wir bewegen uns in die richtige Richtung."
    Das findet eine Aktivistin, die sich irgendwie - Sicherheit hin oder her - unter die Journalisten gemischt hat, ganz und gar nicht. Sie entblößt ihren Oberkörper und schreit die Anwesenden an, dass sie mit ihren Reden nicht ungeschehen machen können, dass schon Tausende von Flüchtlingen auf dem Weg nach Europa umgekommen sind.
    Die Frau wird schnell von zunächst überraschten Sicherheitskräften überwältigt und in einem Polizeiauto weggebracht.