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Flüchtlinge in der Schule
"Wir müssen auf Sicht fahren"

Schulbeginn in Nordrhein-Westfalen: Auch viele neue Flüchtlinge werden ab Mittwoch in den Klassen sitzen. Strukturell sei man darauf gut vorbereitet, sagte NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Die Grünen) im Deutschlandfunk. Aber im Herbst müsse man wieder schauen, wie sich die Flüchtlingssituation entwickle.

Sylvia Löhrmann im Gespräch mit Doris Simon | 10.08.2015
    NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann im Landtag.
    NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann. (picture alliance / dpa / Federico Gambarini)
    Man habe strukturell eine ganz gute Ausgangslage, sagte Sylvia Löhrmann. Es gäbe kommunale Integrationsstellen, die den Bildungsweg der Jugendlichen und Familien begleiten würden. Neue Lehrerstellen und neue Stellen an den Integrationsstellen seien eingerichtet worden. Ob das quantitativ reiche, sei nicht vorhersehbar
    Man müsse auf Sicht fahren, so Löhrmann. Man habe nachgesteuert auf Grundlage des letzten Jahres. Und man müsse zum Herbst wieder schauen, wie sich die Flüchtlingssituation entwickle. Letztes Jahr seien ein Viertel der Flüchtlinge schulpflichtig gewesen. Im Moment kämen wohl nicht so viele Kinder.

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: Mittwoch geht nach den Sommerferien in Nordrhein-Westfalen die Schule wieder los und häufiger als in den vergangenen Jahren werden die Lehrer neue Gesichter in ihren Klassen sehen. Es geht um Tausende von Kindern und Jugendlichen, die alleine oder mit ihren Eltern nach Deutschland geflüchtet sind. Sie sollen und wollen vor allem jetzt hier zur Schule gehen. Viele von ihnen haben seit Monaten und Jahren keinen Unterricht gehabt, manche haben noch nie Unterricht gehabt. Deutsch kann so gut wie keiner der Neuankömmlinge. Diese Herausforderung ist nicht neu für Schulen und Lehrer. Allerdings sind es zu diesem Schulanfang einfach so viel mehr Flüchtlinge als in den vergangenen Jahren, dass man nicht darüber hinweggehen kann. - Am Telefon ist jetzt Sylvia Löhrmann, Bildungsministerin in Nordrhein-Westfalen von den Grünen. Guten Morgen!
    Sylvia Löhrmann: Guten Morgen, Frau Simon.
    Simon: Frau Löhrmann, wie gut sind denn die Schulen in Ihrem Land vorbereitet auf viele neue Schüler, die ganz unterschiedlich vorgebildet sind, aber alle kein Deutsch können?
    Löhrmann: Ja. Wir bemühen uns, die Schulen so gut wie möglich darauf vorzubereiten, soweit wir auch planen können, weil sich natürlich die Flüchtlinge nicht nach Schuljahren richten und nicht nach den Aufstellungsplänen von Haushalten. Aber wir haben insofern in Nordrhein-Westfalen strukturell eine ganz gute Ausgangslage, weil - Sie haben das gesagt - das ist ja nicht die erste Gruppe von Zuwandererkindern, die zu uns kommt. Und wir haben in den 80er-Jahren angefangen, damals regionale Arbeitsstellen für Kinder mit Zuwanderungsgeschichte aufzubauen. Diese Infrastruktur hat unsere Regierung flächendeckend in Nordrhein-Westfalen wohlweißlich ausgebaut. Das sind jetzt kommunale Integrationszentren. Die gibt es in unserem Flächenland an 49 Stellen und die sind Expertinnen und Experten, die finanzieren wir auch von Landesseite, um den Bildungsweg der Kinder und Jugendlichen und der Familien zu begleiten und zu schauen, wo können diese Kinder jetzt am besten beschult werden.
    Dazu gibt es auch Fortbildungsangebote. Deutsch als Zweitsprache haben wir eingeführt, flächendeckend als Fach, als Modul für die Lehrerbildung, nicht als Fach, sondern als Modul, als Teil der Lehrerbildung. Und wir haben auch quantitativ Vorsorge getroffen. Das heißt, wir haben zusätzliche Stellen, 674 im Grundbedarf geschaffen, weil einfach mehr Kinder da sind. Und wir haben Integrationsstellen, die wir auch sowieso haben, noch mal um 300 aufgestockt, die jetzt ganz speziell zum Deutsch lernen der Kinder da sind.
    Simon: Das ist schon mal was, aber natürlich in einem Flächenland wie Nordrhein-Westfalen auch nicht die Welt, all diese Stellen. Was macht eine Schule, die auf einmal konfrontiert ist mit drei, vier, fünf, vielleicht aber auch 50 neuen Schülern, die kein Deutsch können?
    Löhrmann: Dass eine Schule jetzt auf einmal 50 neue Kinder bekommt, das halte ich für relativ unwahrscheinlich. Da müssen wir uns vielleicht die Dimensionen doch mal klar machen. Wir haben 2,5 Millionen Schülerinnen und Schüler. Wir haben sowieso 700.000 Schülerinnen und Schüler, die nicht Deutsch als Muttersprache gelernt haben, die zugewandert sind. Und dann haben wir im letzten Jahr 10.000 zusätzliche Kinder gehabt. Das zeigt auch mal die Relationen und dafür haben wir ja örtliche Steuerungen. Die kommunalen Schulämter, die Schulämter des Landes und die kommunalen Integrationszentren sprechen mit den Schulen vor Ort und gucken, wo können welche Kinder am besten hin. Ich komme aus Solingen. Sieben neue Lehrerinnen sind da für die Grundschulen. Eine davon ist spezialisiert auf die Zuwandererkinder, hat selbst einen Migrationshintergrund, ist also auch menschlich besonders motiviert. Und da heißt es, lese ich in der Zeitung, die Grundschulkinder sind alle im Regelunterricht, werden dann punktuell herausgenommen und bekommen dann Deutsch, gehen aber in Sport und in anderen Fächern natürlich mit den anderen Kindern direkt mit. Und in den weiterführenden Schulen bilden wir Willkommensgruppen, Seiteneinsteiger- oder Auffangklassen, wie die heißen, und dafür gibt es dann für eine Gruppe 0,5 Lehrerstellen zusätzlich, um das bewältigen zu können.
    Simon: Sie haben aber, Frau Löhrmann, derzeit ja gar keinen genauen Überblick, um wie viele Kinder es wirklich geht. Wie können Sie da abschätzen, ob die vorgehaltene Unterstützung reicht?
    Löhrmann: Ja, das ist natürlich klar. Das sagen wir auch ganz offen, der Innenminister genauso bei der Unterbringung wie ich als Schulministerin und alle anderen Ressorts. Wir müssen auf Sicht fahren. Wir haben aufgrund der Erfahrungswerte des letzten Jahres nachgesteuert mit den genannten zusätzlichen 674 Stellen im Grundbedarf und den 300 zusätzlichen Stellen für die Deutschförderung, wie gesagt eine Ressource, die ja sowieso auch schon angelegt ist für interkulturelle und Deutschförderung in den Schulen. Und wir müssen natürlich jetzt zum Herbst wieder schauen, indem wir eng mit den Bezirksregierungen, mit den Schulämtern, mit den Kommunen zusammenarbeiten, sagen, wie entwickeln sich die Flüchtlingssituationen und die Zahlen, weil man das in der Tat nicht vorhersagen kann. Im letzten Jahr haben wir gesagt, ein Viertel derjenigen, die kommen, ist schulpflichtig. Heute sagt mir das Innenministerium, oder letzte Woche, genauer gesagt, im Moment kommen mehr Erwachsene, nicht mit so vielen Kindern. Das kann man in der Tat nicht vorhersehen, auch ich nicht, und deswegen müssen wir immer eng steuern und eng schauen, wie steuern wir nach, damit die Schulen das schaffen können und so gut wie möglich dabei begleitet werden.
    Simon: Frau Löhrmann, Sie sagen, auf Sicht fahren angesichts dieser unklaren Situation. Die Opposition wirft Ihnen vor, dass Sie den Schulen kein festes Konzept an die Hand geben, wie sie mit den Flüchtlingskindern und Jugendlichen umgehen sollen, die Schulen deshalb allein lassen.
    Löhrmann: Dass wir keine Konzepte zum Umgang mit Kindern, die nicht deutscher Herkunft sind, haben, das halte ich für ein Gerücht, weil die Opposition mir zum Beispiel bescheinigt hat, dass ich bei der Frage der Zuwanderer im Rahmen der EU-Osterweiterung, als es in Duisburg darum ging, dass auf einmal viel mehr Kinder da waren, dass wir das gemeinsam, Schulaufsicht, Bezirksregierung und Kommune, dann ganz gut hinbekommen haben, nachdem die Probleme erkannt sind.
    Man wird an der einen oder anderen Stelle natürlich, weil man es nicht vorhersehen kann, hinschauen müssen und da wird es Probleme geben, aber Probleme sind dazu da, dass man sie löst, und wir haben ein Auge auf die Dinge und von den Strukturen her, behaupte ich mal, sind wir in Nordrhein-Westfalen, weil wir uns als Einwanderungsland verstehen, ganz gut vorbereitet und müssen schauen, haben wir die quantitativen Ressourcen hinreichend, und wenn nicht, müssen wir dann nachsteuern.
    Simon: Was ja neu ist, ist die Menge der Flüchtlinge, die zu uns kommt. Und wenn man dann auch noch mal genau darauf schaut: Manche der Kinder und Jugendlichen, die zu uns kommen, die haben zuhause zwar eine ordentliche Schulbildung gehabt, zum Beispiel in Syrien, aber viele sind auch traumatisiert und schwerer traumatisiert als zum Beispiel Ankömmlinge der letzten Jahre, etwa aus Rumänien und Bulgarien. Wie gut vorbereitet sind denn Lehrer und Schulen auf diese schwierige Situation?
    Löhrmann: Das ist natürlich völlig berechtigt, genau da hinzuschauen. Jedes Kind, jede Familie hat möglicherweise eine andere Situation. Für die Versorgung und Begleitung der Kinder, wenn dort zu helfen ist, dann sind die örtlichen Gesundheitsämter zuständig und organisieren Unterstützung. Was die Lehrerinnen und Lehrer und die Fachkräfte angeht, haben wir natürlich auch ein Netz an schulpsychologischer Beratung. Es gibt Fortbildungsmittel und es gibt auch Supervisionsangebote, damit die Lehrerinnen und Lehrer und die Fachkräfte, die ja auch in den Schulen sind, die Schulsozialarbeiter, begleitet werden, wenn neue Schwierigkeiten aufkommen, die in dieser Form so noch nicht da gewesen sind.
    Simon: Frau Löhrmann, der Vizepräsident der Kultusministerkonferenz, Andreas Stoch von der SPD, hat am Wochenende gesagt, wir sollten nicht so pessimistisch sein, was alles nicht funktionieren könnte. Er will das Problem nicht klein reden, aber - so sagt er weiter - im Praktischen löse sich vieles ganz schnell auf. So klingen Sie ja auch. Aber ich kann mir auch viele Lehrer vorstellen, die erst mal sagen, die haben schön reden, wir müssen gucken, wie das klappt.
    Löhrmann: Ja. Ich war aus anderen Gründen am Samstag an einem Infostand hier in Solingen und ich habe drei Gespräche zu dieser Thematik gehabt und die waren alle positiv. Da sagt mir eine Lehrerin, mein Gott, da ist ein Kind gekommen in so einen Kurs und nach ganz kurzer Zeit konnte dieses Kind so schnell lernen und war so motiviert und bringt auf einmal eine ganz andere Stimmung hinein. - Ich frage die Sportlehrer, was macht ihr, wenn die Turnhalle jetzt belegt ist. Dann sagen die, im Moment haben wir andere Möglichkeiten, wir gehen nach draußen, wir können Bewegungsangebote machen. - Eine andere Frau hat angeboten, sie könnte auch Deutsch als Zweitsprache, wo kann sie sich melden, dass sie helfen kann. - Ich sehe eine große Hilfsbereitschaft, dafür bin ich auch dankbar, und die Menschen können sicher sein, dass wir ein Auge auf die anstehenden Probleme haben und sie gemeinsam mit der Zivilgesellschaft und mit den Menschen meistern wollen.
    Simon: Frau Löhrmann, Sie sprachen gerade die Turnhallen an. In Nordrhein-Westfalen allein sind ja jetzt zu Schulbeginn 40 belegt, weil dort Flüchtlinge untergebracht worden sind. Und Sie sagten von der einen Schule in Solingen, die macht Bewegungsangebote. Das heißt, Schulsport fällt bis auf Weiteres nicht aus, oder muss jede Schule sich was einfallen lassen?
    Löhrmann: Ich habe von Solingen erzählt. In Solingen sind keine Hallen belegt. In Düsseldorf sind Hallen belegt. In Düsseldorf haben wir aber jetzt auch die ersten Großeinrichtungen, sodass die Schulturnhallen natürlich dann möglichst schnell wieder freigezogen werden. Da bin ich mir mit dem Innenminister einig. Ich habe ja extra gefragt, weil ich immer gerne rückkopple, was wir besprechen und vorschlagen, und dann ist mir über zwei Sportlehrer berichtet worden, dass die sagen, wir gehen das jetzt an, wir wissen, dass das Ausnahmesituationen sind, und wir versuchen, dann natürlich erst mal was anderes anzubieten, Bewegung, damit die Jugendlichen Bewegung haben und nicht der Sport ersatzlos ausfällt. Da gehen die Schulen pragmatisch, verantwortlich mit den Situationen um. Manche machen dann Gespräche, beziehen die Flüchtlingskinder, die untergebracht sind möglicherweise in einer Landeseinrichtung, mit ein. Die Schulen sind sehr kompetent und das zeigt, dass sie wissen, dass es eine Schwierigkeit ist, dass sie wissen, dass sie Unterstützung brauchen, dass sie aber auch wissen, dass gute Möglichkeiten auch bestehen, gemeinsam mit den Jugendlichen was zu machen.
    Ein anderes Beispiel wurde mir gestern erzählt. Oberstufen-Schülerinnen und Schüler haben Patensysteme. Manchmal helfen sowieso ältere kleineren in den Schulen, dass sie sagen, wir möchten überlegen, was können wir mit den Kindern, die noch nicht so gut Deutsch können, machen. Dann lernen die Oberstufen-Schüler was Pädagogisches und geben es weiter an die in den unteren Klassen - nicht als Ersatz für natürlich gut organisierten Unterricht, sondern als Ergänzung, weil sie die Aufgabe annehmen, weil sie verstehen, dass da Kinder kommen, die in großer Not waren, und möchten, dass es ihnen bei uns hier gut geht.
    Simon: Am Mittwoch geht die Schule wieder los für die Schüler in Nordrhein-Westfalen. Darunter sind dieses Jahr noch mehr Flüchtlingskinder als in den letzten Jahren. Über die Probleme, die das mit sich bringt, und die Vorbereitung darauf und die Chancen daraus habe ich mit der Grünen-Bildungsministerin von Nordrhein-Westfalen, Sylvia Löhrmann, gesprochen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.