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Flüchtlinge in der Türkei
Mützenich fordert Aufklärung der Vorwürfe

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft der Türkei vor, Flüchtlinge in Kriegsgebiete zurückzuschicken. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Rolf Mützenich fordert im DLF, dass die Vorwürfe sowohl von der Bundesregierung als auch der EU-Kommission aufgeklärt werden müssen.

Rolf Mützenich im Gespräch mit Jasper Barenberg. | 17.12.2015
    Der SPD-Bundestagsabgeordnete Rolf Mützenich.
    Der SPD-Außenpolitiker Mützenich fordert, dass Berichte über türkische Abschiebungen aufgeklärt werden (imago / Metodi Popow)
    Der SPD-Außenpolitiker Rolf Mützenich fordert eine umfassende Aufklärung über Berichte, wonach die Türkei Schutzsuchende in das Bürgerkriegsland Syrien zurückschickt.
    Im Deutschlandfunk sagte Mützenich, die Bundesregierung und die Europäische Kommission müssten diesen Vorwürfen nachgehen. Auch müsse geprüft werden, ob Hafteinrichtungen in dem Land mit Mitteln der Europäischen Union betrieben werden. Die Regierung in Ankara wies die Anschuldigungen zurück.
    Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft der türkischen Regierung vor, Flüchtlinge festzunehmen und vor die Wahl zu stellen: Haft oder Abschiebung. Seitdem die EU die Hilfe der Türkei in der Flüchtlingskrise gesucht habe, habe sich die Lage der Flüchtlinge in dem Land verschlechtert.

    Das Interview in voller Länge:
    Jasper Barenberg: Man kann es Pragmatismus nennen oder Realpolitik, aber es bleibt ein handfestes Dilemma. Nie war die Europäische Union mehr auf eine Zusammenarbeit mit der Türkei angewiesen als im Moment. Das gilt für den Kampf gegen die IS-Terrormiliz ebenso wie für die Flüchtlingskrise. Gleichzeitig aber droht das Land unter Präsident Erdogan zu einem autoritären Staat zu werden, der Journalisten mundtot machen lässt, in die Justiz eingreift, Gegner als Terroristen abstempelt und militärisch bekämpft. Wie heikel die Zusammenarbeit im Umgang mit Flüchtlingen ist, das zeigt jetzt ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Er wirft der türkischen Regierung vor, Schutzsuchende unter anderem aus Syrien gegen ihren Willen festzuhalten und sogar zu zwingen, in das Kriegsgebiet zurückzukehren. So hat es in Berlin Wiebke Judith erläutert, die Asylexpertin von Amnesty. Nach ihren Recherchen...
    Wiebke Judith: "...nimmt die Türkei mittlerweile über Hunderte von Personen fest an der Grenze, die vor allen Dingen dann nach Griechenland wollen, fährt sie Tausende von Kilometern einmal quer durchs Land und inhaftiert sie dort in Haftzentren, die von der EU mitfinanziert werden, und viele Flüchtlinge werden dann vor die Wahl gestellt, entweder auf unbestimmte Zeit in diesen Zentren zu bleiben, oder "freiwillig" nach Syrien auszureisen."
    Barenberg: Schwere Vorwürfe, über die wir in den nächsten Minuten mit dem SPD-Politiker Rolf Mützenich sprechen können, als Fraktionsvize im Bundestag auch mit Fragen der Menschenrechtspolitik beschäftigt. Schönen guten Morgen.
    Rolf Mützenich: Guten Morgen, Herr Barenberg.
    Barenberg: Herr Mützenich, halten Sie die Recherchen von Amnesty für stichhaltig, für überzeugend?
    Mützenich: Das sind ernst zu nehmende Vorwürfe, die auf jeden Fall geprüft werden müssen von der Bundesregierung, aber insbesondere von der Europäischen Union, und ich bin sehr dankbar, dass wenige Stunden nach der Veröffentlichung die Hohe Beauftragte der Europäischen Union, Frau Mogherini, angekündigt hat, sich genau diese Berichte anzuschauen, auch mit Amnesty International zu sprechen und auch Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Und wenn die belastbar sind, müssen auch Schlussfolgerungen gezogen werden.
    "Der Bericht ist ernst zu nehmen"
    Barenberg: Über die können wir gleich bestimmt noch ausführlicher sprechen. Zunächst einmal zur Sache selbst: Wie könnte so eine unabhängige Überprüfung, die Amnesty ja jetzt auch fordert, überhaupt aussehen?
    Mützenich: Nun, ich glaube, insbesondere muss die Europäische Kommission sich nicht nur die Dokumente anschauen, sondern auch mit Amnesty darüber sprechen, wie man zu diesen Erkenntnissen gekommen ist, und auch mit denjenigen, auf die in diesen Berichten hingewiesen wird, zu versuchen zu reden, insbesondere wenn sie noch in der Türkei oder auch woanders sind. Ich glaube, da gibt es genügend Mittel, auch letztlich eine Belastbarkeit dieser Aussagen herzustellen.
    Barenberg: Halten Sie es für vorstellbar, dass eines zutrifft, was in dem Bericht ja auch gesagt wird, dass es quasi Hafteinrichtungen in der Türkei gibt, die mit Mitteln der Europäischen Union finanziert werden, betrieben werden?
    Mützenich: Auch das habe ich gelesen. Man muss natürlich sich noch mal vor Augen führen: In der Tat gibt es auch immer wieder Mittelzuweisungen vonseiten der Europäischen Union oder einzelner Mitgliedsländer im Zusammenhang mit der humanitären Hilfe für die Flüchtlingsunterbringung und Flüchtlingshilfe. Alleine Deutschland hat mehrere Millionen Euro dafür bereitgestellt. Aber das wäre noch mal genau zu prüfen. Ich kann es von hieraus nicht ausschließen, aber ich kann es auch nicht beweisen. Deswegen ist ja auch der Bericht ernst zu nehmen.
    Einen "ehrlichen Dialog" mit der Türkei führen
    Barenberg: Es ist ja auch nicht das erste Mal offenbar, dass es solche Vorwürfe gibt. Jedenfalls hat man mir das im Büro des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung gesagt. Dort heißt es, man würde sich jetzt erst mal zurückhalten mit einer Bewertung und, wie Sie sagen, erst mal den Vorgängen, den Vorwürfen nachgehen. Ist das angemessen, eine angemessene Reaktion, oder ist neben der Bundesregierung auch der Menschenrechtsbeauftragte jetzt stark gefordert?
    Mützenich: Der Menschenrechtsbeauftragte ist Teil der Bundesregierung und er wird mit Sicherheit auch an dieser Aufklärung mitwirken. Aber insbesondere, weil es geht ja angeblich hier auch um EU-Fördergelder, die angeblich vonseiten der Türkei missbraucht worden sind. Hier ist insbesondere die Europäische Kommission und auch die Hohe Beauftragte gefordert. Aber ich finde, wir müssen auch mit der Türkei insgesamt darüber reden, wie zum Beispiel die Situation in den Gefängnissen ist, wie die Menschenrechtssituation ist. Das gehört zu einem ehrlichen Dialog mit dazu und das muss sowohl auf hoher Regierungsebene passieren als auch in den Beratungen zwischen der Europäischen Kommission und der Türkei. Es ist gerade wieder ein neues Kapitel geöffnet worden nach langen Jahren des Stillstandes und das gehört zur Ehrlichkeit natürlich mit dazu.
    "Müssen darauf drängen, dass Menschenrechte eingehalten werden"
    Barenberg: Nun berichten wir heute in unseren Nachrichten, dass es Informationen gibt - man beruft sich auf die EU-Kommission -, wonach die Zahl der Flüchtlinge aus der Türkei, die über Griechenland zu uns kommen, stark zurückgeht und dass die türkischen Grenzschützer zuletzt Tausende von Flüchtlingen am Verlassen des Landes gehindert haben. Sehen Sie da einen Zusammenhang zwischen dem, was Amnesty berichtet, und einer allgemeinen Entwicklung der Türkei jetzt im Rahmen dieses Aktionsplanes, auch der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union?
    Mützenich: Das muss kein unmittelbarer Zusammenhang sein. Ich glaube, es gibt ein Bündel letztlich dann auch von Ursachen. Aber es kann natürlich auch sein, dass die Türkei hier stärker letztlich die Grenze schützt. Ich weiß letztlich nicht, wie viele Flüchtlinge, die aus Syrien und dem Irak ja tatsächlich - und das muss man auf der anderen Seite ja auch wertschätzen - gerade in die Türkei über lange Jahre gekommen sind, sich dort auf den Weg gemacht haben und wieder zurückgehalten werden. Das muss man sich noch mal genau vor Ort anschauen. Aber der entscheidende Punkt ist, dass die Türkei entlang von ihren geschlossenen Verträgen, die sie auch im Bereich des Menschenrechts unternommen hat, davon letztlich Gebrauch macht, und das war ja auch ein Teil des Fortschrittsberichts der Europäischen Kommission, der gerade wieder vorgelegt worden ist, dass es hier einen großen Mangel oder auch sogar Rückschritt gibt. Wir sehen eine Situation, Sie haben es angedeutet: Wir brauchen auf der einen Seite die Türkei insbesondere in einem außenpolitischen Umfeld, aber auf der anderen Seite müssen wir natürlich auch darauf drängen, dass die Menschenrechte eingehalten werden.
    Barenberg: Noch mal zur Frage dieser Zusammenarbeit mit der Türkei. Ist es nicht plausibel, dass die Türkei so reagiert, wie Amnesty das andeutet, weil sie den Druck aus Europa verspürt, dass jetzt weniger Flüchtlinge kommen? Haben wir es nicht mit dem Fall zu tun, dass es ganz recht ist, der Bundesregierung und den anderen europäischen Regierungen, wenn die Türkei Flüchtlinge aufhält?
    Mützenich: Nach wenigen Stunden der Veröffentlichung des Berichts kann ich hier letztlich nicht spekulieren auf diese konkreten Vorhalte. Die Türkei hat durchaus eine große Leistung vollbracht und insbesondere viele Flüchtlinge aus Syrien, aber auch dem Irak über Jahre aufgenommen. Ob dieser Bericht sich alleine auf diese Situation der Gespräche bezieht, das ist wirklich nur Spekulation. Die finden ja gerade seit einigen Wochen erst statt und diese Annäherung gerade von Regierungen, die uns lange behindert haben, ein einigermaßen verlässliches Verhältnis zwischen der türkischen Regierung und der Europäischen Union herzustellen. Aber wie gesagt, das wäre Spekulation.
    Barenberg: Der SPD-Politiker Rolf Mützenich live im Deutschlandfunk. Vielen Dank!
    Mützenich: Vielen Dank, Herr Barenberg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.