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Flüchtlinge in der Ukraine
"Sie werden gefesselt und geschlagen"

Human Rights Watch prangert den Umgang mit Flüchtlingen in der Ukraine an. Diese würden wie Gefangene behandelt, sagte der deutsche Direktor der Menschenrechtsorganisation, Wenzel Michalski, im DLF. Die Zustände seien der EU lange bekannt, der Umgang damit ein Skandal.

Wenzel Michalski im Gespräch mit Christine Heuer | 14.02.2015
    Wenzel Michalski, Direktor des deutschen Büros der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
    Wenzel Michalski, Direktor des deutschen Büros der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. (imago/Müller-Stauffenberg)
    Human Rights Watch (HRW) habe bereits im Jahr 2010 in einem Bericht auf die Missstände in ukrainischen Internierungslagern für Migranten hingewiesen, so Michalski. "Dass sich das seitdem nicht gebessert hat, ist ein Skandal." In der Ukraine werde gegen internationales Recht verstoßen: Flüchtlinge gehörten nicht in Gefängnisse, und Asylanträge müssten geprüft werden.
    Es sei "höchste Zeit, dass sich die Politiker das anschauen", forderte der Direktor des deutschen Büros von HRW. Tausende Menschen nutzten die wenig bekannte Fluchtroute über die Ukraine in die Europäische Union. Sie würden oft zurückgeschickt, ohne einen Asylantrag stellen zu können. Ausdrücklich sprach Michalski von einem Verstoß gegen internationales Recht.
    Was Vorgaben für einen menschenwürdigen Umgang betreffe, müsse sich die EU "nur die eigenen Regeln anschauen". Dass die Ukraine aus Sicht Brüssels als sicherer Drittstaat gelte, sei vor allem mit Blick auf die Lage im Osten des Landes "erstaunlich".
    "Report Mainz" und "Der Spiegel" hatten gestern über das Thema berichtet. Dabei ging es auch um den Vorwurf, dass die EU die Haftanstalten für Flüchtlinge in der Ukraine mitfinanziere. Brüssel erklärte, die Gelder dienten dazu, die Standards der Gefängnisse zu verbessern.

    Das Interview in voller Länge:

    Der Umgang mit Flüchtlingen in der Ukraine, das möchte ich jetzt besprechen mit Wenzel Michalski. Er ist Direktor im Deutschland-Büro der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Guten Tag, Herr Michalski!
    Wenzel Michalski: Guten Tag!
    Heuer: Herr Michalski, um diesen ganzen Sachverhalt erst einmal grundsätzlich einzuordnen: Über wie viele Menschen sprechen wir? Ist die Flucht über die Ukraine eher ein vereinzeltes Phänomen oder ist das eine regelmäßige Route für viele, die nach Europa kommen möchten?
    Michalski: Wir sprechen hier von Tausenden. Es ist jetzt nicht so eine Massenroute wie zum Beispiel übers Mittelmeer, die Zehntausende benutzen, aber doch Tausende. Sie ist weniger bekannt als die Mittelmeerroute, aber sie ist eben eine echte Alternative für Flüchtlinge, weil sich die EU auf dem Landweg zwischen Griechenland und Bulgarien schon abgeschottet hat und der Seeweg eben wahnsinnig gefährlich ist.
    Heuer: Ihre Organisation, Human Rights Watch, hat schon 2010 über die Lage von diesen Flüchtlingen in der Ukraine berichtet. Was wissen Sie darüber genau? Wie geht es diesen Menschen in der Ukraine, wie wird mit denen umgegangen?
    Politik verschließt de Augen
    Michalski: Wir haben Berichte von Folterungen, wir haben Berichte von nicht-geleisteter medizinischer Versorgung, von schlechter Versorgung mit Lebensmitteln. Die Menschen werden inhaftiert wie Gefangene, werden zum Teil gefesselt und geschlagen. Es sind ja keine Verbrecher, also die gehören da überhaupt gar nicht hin, und wir hatten den Bericht schon 2010 veröffentlicht, und dass sich das bisher nicht verbessert hat, ist ein Skandal.
    Heuer: Haben Sie damals ein breites Echo bekommen?
    Michalski: Ja. Wir hatten auch daraufhin mit Politikern gesprochen, auch mit deutschen Bundestagsabgeordneten, mit EU-Politikern, und die haben ganz erstaunt getan, so ähnlich, wie es jetzt auch in dem "Report Mainz" und dem "Spiegel"-Bericht ist und in Ihrem Bericht eben, dass man sagt, wir haben da überhaupt keine Ahnung. Das heißt also, man muss schon fast von unterlassener Hilfeleistung sprechen. Eigentlich müssten EU-Beamte da mal hin, sich das angucken, unter welchen Bedingungen die Flüchtlinge dort hausen müssen, wie sie gequält werden, damit diese sogenannten Pushbacks aufhören.
    Heuer: Haben Sie den Eindruck, dass die EU hier absichtlich die Augen verschließt?
    Michalski: Ganz eindeutig. Wir haben das ja auch nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen Ländern, zum Beispiel in der Türkei gab es jahrelang unerträgliche Zustände. Selbst in Griechenland, innerhalb der EU, waren die Flüchtlingsheime wahnsinnig überfüllt. Leute mussten in Schichten schlafen. Das hat sich jetzt erst langsam verbessert, aber auch 2010 zum Beispiel noch hat die EU gutes Geld an Gaddafi bezahlt, damit er die Leute abhält, über das Mittelmeer nach Italien zu flüchten, und damals war Lampedusa ein leeres Flüchtlingszentrum. Das heißt, es war sehr effektiv, aber brutal und zum Teil auch tödlich für die, die versuchten, zu flüchten.
    "Es ist höchst illegal"
    Heuer: Ist all das, worüber wir jetzt heute wieder hören, ist das nur moralisch anfechtbar oder wird da gegen internationales Recht verstoßen? Ist das also auch eine juristische Frage?
    Michalski: Ja, es wird gegen internationales Recht verstoßen. A) gehören Flüchtlinge nicht in Gefängnisse, b) wer einen Asylantrag stellt, dessen Asylantrag muss geprüft werden. Und das ist hier anscheinend oft nicht der Fall. Menschen werden auf der Straße in Kiew oder aber auch in der EU aufgegriffen und, ohne überhaupt eine Möglichkeit zu haben, ihren Flüchtlingsstatus zu beanspruchen, ihren Asylantrag zu stellen, werden sie dann hinter Gitter gebracht, um dort bis zu einem Jahr zu verharren. Um dann einfach wieder freigelassen zu werden, und dann probieren sie es noch mal oder aber sie schlagen sich irgendwie anders durchs Leben. Also, das sind unhaltbare Zustände, und es ist höchst illegal.
    Heuer: Europa gibt der Ukraine Geld für die Unterbringung von Flüchtlingen. Macht sich die EU insofern auch mitschuldig an den Misshandlungen dieser Flüchtlinge in der Ukraine?
    Michalski: Das muss man so sehen. Die bezahlen die Ukraine angeblich, um menschenwürdige Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen, aber, wie gesagt, es gibt genügend Berichte, jetzt wieder in den Medien, aber auch von uns, die genau das Gegenteil beweisen. Und es ist höchste Zeit, dass sich die EU-Beamten das mal angucken oder aber unsere Politiker und entsprechende Konsequenzen ziehen, um das zu stoppen.
    Heuer: Genau, Herr Michalski, das wäre natürlich meine nächste Frage: Welche Konsequenzen muss Europa ziehen?
    Die EU muss sich an ihre eigenen Regeln halten
    Michalski: Die Flüchtlinge müssen menschenwürdig behandelt werden, das heißt, ihre Asylanträge müssen ordentlich untersucht werden. Da gibt es internationale Standards, da gibt es europäische Standards. Im Prinzip muss man sich nur an die eigenen Regeln halten, an die eigenen Menschenrechte, die sich auch die EU gestellt hat, und dann würde so etwas gar nicht passieren. Das heißt also, es ist jetzt Handeln der Politik gefordert.
    Heuer: Die Ukraine, auch das würde mich noch interessieren, gilt nach wie vor als sicherer Drittstart, in den Flüchtlinge also zurückgeschickt werden dürfen. Wie kann denn das eigentlich sein angesichts der Zustände in dem Land?
    Michalski: Ja, man kann nur hoffen, dass die Flüchtlinge nicht in der Ostukraine untergebracht werden, aber ansonsten – ja, es ist natürlich erstaunlich, die Ukraine als sicheren Drittstaat zu bezeichnen, aber so ist das leider. So ähnlich, wie Serbien oder Marokko auch gilt die Ukraine, obwohl dort ein blutiger Bürgerkrieg herrscht, mit Streubombenmunitionseinsatz und so weiter, als sicherer Drittstaat.
    Heuer: Gehört es zu ihren Forderungen an die Politik, dass dieser Status aufgehoben wird?
    Michalski: Man muss sehen, wo die Flüchtlinge untergebracht werden. Wenn sie im Westen, dort, wo Frieden ist, untergebracht werden, ist das wahrscheinlich okay, aber, wie gesagt, nicht unter diesen Umständen, nicht in diesen Zuständen.
    Heuer: Herr Michalski, Sie haben Forderungen an die Politik gestellt, die Zustände zu beenden, Aufforderungen an die Europäische Union. Jetzt fragt man sich natürlich, wenn die EU nicht reagiert, in ihrem Sinne oder in dem Sinne vieler Kritiker, was ist denn dann? Dann geht es einfach weiter? Oder gibt es Möglichkeiten, das zu stoppen?
    Das Thema in den Schlagzeilen halten
    Michalski: Also wir werden da sicher an die EU gehen, herangehen in Brüssel, aber auch in Berlin und auch in der Ukraine und den Ländern, die illegal abschieben, wie also die Slowakei und Ungarn, und werden da Druck auf die Politiker ausüben, damit die aufhören. Wir werden versuchen, auch mit Hilfe unserer Medienarbeit weiterhin dieses Thema in den Schlagzeilen oder im Bewusstsein zu halten, bis sie reagieren. Oft klappt das. Also, die Leute wollen sich jetzt nicht sagen lassen, dass sie Handlanger von illegalen Verfahren sind.
    Heuer: Juristische Möglichkeiten gibt es nicht?
    Michalski: Gebe es auch. Die sind aber äußerst schwierig, und notfalls müsste man da ran. Das ist aber jetzt nicht Sache von Human Rights Watch, sondern da gibt es andere NGOs wie zum Beispiel ECCHR, die dann zu solchen juristischen Mitteln –
    Heuer: Wer ist das?
    Michalski: Das ist eine Menschenrechtsorganisation, die in Deutschland ansässig ist und die in solchen Fällen tatsächlich die Leute vor Gericht zieht.
    Heuer: Wenzel Michalski, Direktor im Deutschland-Büro von Human Rights Watch war das im Interview mit dem Deutschlandfunk. Herr Michalski, vielen Dank für das Gespräch!
    Michalski: Bitte sehr!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.