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Flüchtlinge und soziale Medien
"Geschichte nimmt durch Twitter viel schnellere Entwicklung"

1989, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, berichtete der "Tagesspiegel"-Reporter Matthias Meisner schon einmal über Flüchtlinge, die über Ungarn in die Bundesrepublik kamen. Damals gab es allerdings noch keine sozialen Medien. Im DLF berichtete Meisner, wie sich die Recherchewege mit Twitter verändert haben - und über Ereignisse, die ihn fast zum Weinen gebracht hätten.

Matthias Meisner im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Der Twitter-Account von Matthias Meisner, "Der Tagesspiegel"
    Der Twitter-Account von Matthias Meisner, "Der Tagesspiegel" (DLF / Screenshot Twitter)
    Aktivisten hatten den Journalisten am Samstag über Twitter um Tipps gebeten, wie sie Flüchtlingen über die ungarische Grenze bis nach Deutschland helfen könnten. Meisner gab Ratschläge, warnte vor möglichen Gefahren - und erhielt einen Tag später die Nachricht, dass acht Menschen heil in Deutschland angekommen seien. "Da habe ich fast ein bisschen geheult", sagte der Journalist im Deutschlandfunk. Die Hilfsbereitschaft vieler Menschen habe ihn überwältigt, und deswegen beziehe er in seinen Tweets "natürlich" auch irgendwann Position. Nach Bildern von einer Hilfsaktion am Frankfurter Hauptbahnhof habe er zum Beispiel geschrieben: "Zum ersten Mal bin ich ein bisschen stolz auf Deutschland seit längerer Zeit."
    Meisner sieht allerdings auch die Gefahr, in den sozialen Medien Falschmeldungen aufzusitzen. Sein Job sei es, Informationen auf Facebook oder Twitter zu verifizieren. Er verbreite nur solche Tweets weiter, die von Leuten stammten, die er kenne.

    Das Interview in voller Länge:

    Dirk-Oliver Heckmann: Sie trugen nicht mehr als das Nötigste am Körper, die Tausenden von Flüchtlingen auf ihrer Odyssee über die gefährliche Balkan-Route, bis sie schließlich über Ungarn und Österreich nach Deutschland kamen. Eines aber war quasi lebensnotwendig: das Handy am Körper, wichtiges Kommunikationsmittel für viele der Menschen. Aber nicht nur sie koordinierten sich über Facebook und Twitter; auch Journalisten und sonstige Beobachter, Ehrenamtliche setzen auf die sozialen Netzwerke. Am Telefon ist jetzt Matthias Meisner vom Berliner "Tagesspiegel". Er verfolgt und bespielt auch die sozialen Netzwerke sehr intensiv, gerade bei diesem Thema. Schönen guten Morgen, Herr Meisner.
    Matthias Meisner: Schönen guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Herr Meisner, nicht jeder unserer Hörer ist bei Facebook und Twitter unterwegs. Wie muss man sich eigentlich Ihre Arbeit vorstellen? Was machen Sie genau?
    Meisner: Na ja, ich sitze tatsächlich in den vergangenen Tagen ziemlich viel am Computer, beobachte, was im Netz passiert und versuche, Informationen zu filtern. Ich kann das am Beispiel Ungarn oder nach dieser dramatischen Woche einfach vielleicht mal im Anfang beschreiben, was passiert ist. Wir gehen acht Tage zurück: Sonntagabend gegen 23 Uhr twitterte die ungarische Journalistin Marta Orosz, es gäbe Pläne für Sonderzüge, Flüchtlinge sollten nach Deutschland gebracht werden, das Auswärtige Amt sei eingeschaltet beziehungsweise die deutsche Botschaft in Budapest. Ich habe dann einen Tweet abgesetzt: Liebes Auswärtiges Amt, stimmt das, hört sich nach einer guten Idee an. Das Gerücht machte in der Nacht die Runde. Montag um 11:11 Uhr antwortete das Auswärtige Amt, trotzdem eine Ente. Man muss sich das "trotzdem" ein bisschen auf der Zunge zergehen lassen. Fakt ist jedenfalls: Fast zur gleichen Zeit zog sich die Polizei am Budapester Keleti-Bahnhof zurück, Hunderte von Flüchtlingen durften auf die Züge Richtung Österreich oder Deutschland und damit entwickelte sich die ungeheure Dynamik, die wir dann in den letzten sieben Tagen erlebt haben.
    Heckmann: Und da haben wir ja jede Menge Geschichten gelesen und auch Bilder gesehen, die unter anderem über die sozialen Netzwerke verbreitet wurden. Was hat Sie denn persönlich besonders beeindruckt in den Tagen?
    Meisner: Es gibt, glaube ich, zwei Dinge. Es ist tatsächlich so: In der Nacht von Freitag auf Samstag, wahrscheinlich vor Aufregung, auch schlecht geschlafen, wachte ich mitten in der Nacht auf, und zwar genau im richtigen Moment, als die ersten Busse in Nickelsdorf ankamen, Busse mit Flüchtlingen, die zuvor sich auf den Marsch auf die Autobahn Richtung Wien begeben hatten. Das hat mich wahnsinnig beeindruckt. Mich hat aber, ehrlich gesagt, auch eine Geschichte sehr beeindruckt, die dann doch ganz persönlich war. Am Samstag schrieben mich Flüchtlingsaktivisten aus Berlin an: Sag mal, wir haben jetzt Leute, die wollen nach Ungarn fahren, hast Du irgendwie Tipps, kannst Du uns helfen? - Ich sagte: Na ja, ich weiß auch nur, wo Flüchtlinge unterwegs sind, in der Nähe von Gyor, in der Nähe von anderen Lagern, aber die Sache ist nicht ohne. Es ist nicht erlaubt, Leute einfach über die Grenze zu bringen. Ich schrieb dann: Wenn ihrs macht, geht nicht über den Hauptübergang an der Autobahn, sondern sucht euch irgendeine Nebenstraße.
    Ich habe dann am Sonntag von denen die Nachricht bekommen, ich lese das jetzt mal vor: Vielen, vielen Dank für Deine Hilfe gestern. Kurze Info. Es sind etwa acht Menschen wohlbehalten in verschiedenen Orten in Deutschland angekommen und teilweise bei Familienangehörigen untergekommen. Alle sind überglücklich, das Richtige getan zu haben. Jetzt heißt es, den Alltag anzugehen, Registrierung und so weiter. - Ich habe dann fast ein bisschen geheult.
    Mit Twitter nimmt Geschichte schnellere Entwicklung
    Heckmann: Daran sieht man schon, der Einfluss der sozialen Netzwerke ist enorm bei solchen Großereignissen wie auch jetzt. Wie wäre denn aus Ihrer Sicht die Flüchtlingskrise verlaufen ohne die sozialen Netzwerke?
    Meisner: Ich erinnere mich in diesen Tagen daran, dass ich 1989 auch ziemlich oft in Ungarn war. 1989 hatten wir dann mit Journalistenkollegen aus Deutschland mal ein Gespräch im ungarischen Außenministerium. Ein Abteilungsleiter erzählte uns, wir werden jetzt nicht mehr auf DDR-Flüchtlinge schießen, wenn sie die Grenze überschreiten. Wir sind dann mit der Information nach Hause gefahren nach Deutschland in unsere Redaktionen. Heute hätte ich einen Tweet abgesetzt. - Die Geschichte nimmt eine viel schnellere Entwicklung über Twitter zum Beispiel, wo dann praktisch im Minutentakt aktuelle Informationen in die Welt gehen, Bilder, Live-Tweets von Politikern, von Journalisten, von Nichtregierungsorganisationen.
    Heckmann: Diese Informationen werden sehr schnell verbreitet. Die Frage ist allerdings auch: Wie verlässlich sind diese Informationen? Denn darunter dürften ja auch jede Menge Gerüchte sein, vielleicht sogar bewusste Falschmeldungen.
    Meisner: Gibt es ohne Frage. Ich sehe meinen Job darin, das auch genau zu filtern, zu verifizieren, nachzufragen, stimmt das, habt ihr das auch gehört. Ich verbreite nicht Geschichten von Leuten, die ich nicht kenne. Aber ich habe jetzt gerade in den letzten Tagen in Ungarn auch eine Menge Leute retweetet, wo ich weiß, das sind verlässliche Kollegen, das sind aufmerksame Beobachter. Da gab es meinen Kollegen Mohamed Amjahid vom "Tagesspiegel", da gab es Martin Kaul von der "taz", um nur zwei Beispiele zu nennen von Leuten, die da ganz nah dran waren und die nicht nur Artikel geschrieben haben, heute groß in den beiden erwähnten Zeitungen, sondern die wirklich ganz, ganz regelmäßig informiert haben über das, was sie erleben.
    Man kann Geschehen nicht mit Kühle wahrnehmen
    Heckmann: Sie berichten als Journalist. Zugleich beziehen Sie aber auch eindeutig Position und treten ja auch selber in Aktion. Mancher meint, Sie verfolgen da eine einseitige Linie. Verstehen Sie sich eher als Journalist oder als Aktivist? Wo verläuft da die Grenze für Sie?
    Meisner: Ich zitiere jetzt mal an der Stelle tatsächlich die Kollegen, die ich eben erwähnt habe, meinen "Tagesspiegel"-Kollegen Mohamed Amjahid, der dann Samstagfrüh nach dem Marsch der verzweifelten Flüchtlinge schrieb, "jeder normale Journalist hat diese Nacht ein paar Tränen vergossen", oder Martin Kaul, der sagt, man konnte das, was dort passiert ist, nicht als distanzierter Beobachter mit einer Kühle wahrnehmen. Ich sehe das ganz genauso. Ich versuche mich in Nachrichten-Tweets, ich versuche, zu informieren. Bei mir kommt der österreichische Bundeskanzler vor, bei mir kommen Behörden vor, bei mir kommt die Deutsche Bahn vor. Aber natürlich gibt es dann auch irgendwann eine Position: Ich habe am Samstag getwittert, als ich Bilder sah von der überwältigenden Hilfsaktion am Frankfurter Hauptbahnhof, zum ersten Mal bin ich ein bisschen stolz auf Deutschland seit längerer Zeit.
    Heckmann: Ganz kurz noch zum Schluss, Herr Meisner. Es gibt ja viele Deutsche, die helfen wollen, die sich melden an den Bahnhöfen und sich dort eintragen. Aber auch die sozialen Netzwerke sind dort wichtige Instrumente. Wo genau kann man sich informieren? Haben Sie da einen Tipp?
    Meisner: Ehrlich gesagt ist das eine ziemlich gute Frage. Ich finde, es gab am Wochenende drei Orte, wo besonders gut informiert worden ist. Das war Wien, wo die österreichische Bundesbahn sogar Tipps für Fluchthelfer gegeben hat. Das war München und das war Thüringen. Was wirklich schade ist: Die Deutsche Bahn hat es bis heute nicht hingebracht, Informationen über die Sonderzüge auf ihre Homepage zu stellen, und das erschwert tatsächlich rauszufinden, wo kommt ein Zug an, was kann ich praktisch tun. Aber in Wirklichkeit vielleicht Twitter einschalten, schauen, Informationen sammeln, und dann gelingt es auch, dass man Ansprechpartner findet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.