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Flüchtlinge
"Wir sind am Beginn einer neuen Völkerwanderung"

Die Städte und Gemeinden fühlten sich im Umgang mit Flüchtlingen vom Bund allein gelassen, sagte der Duisburger Stadtdirektor Reinhold Spaniel im Deutschlandfunk. Die Verfahren zur Schaffung neuer Unterkünfte seien viel zu bürokratisch. Die Bundespolitik müsse über ein soziales Wohnungsbauprogramm wie nach dem Zweiten Weltkrieg nachdenken.

Reinhold Spaniel im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 25.07.2015
    Drei Flüchtlingskinder sitzend schlafend hintereinander in einem Bus an einer Asylbewerber-Registrierungsstelle der Bundespolizei in Passau.
    Tag für Tag kommen Hunderte neue Flüchtlinge in Bussen in Deutschland an. (afp / Christof Stache)
    Spaniel schilderte die Situation in Duisburg: 1.200 Asylbewerber seien in Übergangsheimen, Turnhallen oder Jugendherbergen untergebracht worden, viele weitere in Einzelwohnungen. Die Prognose für den Rest des Jahres sehe so aus, dass noch mindestens 2.000 weitere Flüchtlinge aufgenommen werden müssten. Die Stadt sei mit dieser Situation organisatorisch und finanziell "völlig überlastet". Große Probleme würden den Kommunen die enormen Auflagen bei der Schaffung von Notunterkünften bereiten. So seien Lärm- und Störfallgutachten erforderlich und rigide Brandschutzauflagen müssten erfüllt werden.
    Die Städte und Gemeinden befänden sich in einem Dilemma, so Spaniel im DLF-Interview. "Der Bund ist Herr des Asylverfahrens, aber die Kommunen müssen Unterbringung, Versorgung und Betreuung der Flüchtlinge regeln." Der Duisburger Stadtdirektor forderte, insbesondere Asylverfahren für Flüchtlinge vom Westbalkan zu beschleunigen. Deren Anerkennungsrate gehe gegen Null, die Menschen blockierten Unterbringungsmöglichkeiten für politisch Verfolgte aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rechnet für dieses Jahr mit einer dauerhaft hohen Zahl von Migranten und Flüchtlingen, Asylbewerbern in Deutschland, wir müssen uns auf 400.000 insgesamt einstellen, das sind die aktuellen Zahlen, die gerade heute noch mal genannt worden sind. Diese 400.000 Menschen, die in Deutschland Asyl suchen, müssen natürlich untergebracht werden, müssen faire Verfahren haben, und das alles passiert in aller Regel in den Städten und Gemeinden.
    Genau über dieses Thema wollen wir reden, wie passiert das eigentlich ganz praktisch. Und dazu begrüße ich am Telefon den Stadtdirektor von Duisburg, Reinhold Spaniel, und sage zunächst mal guten Morgen, Herr Spaniel!
    Reinhold Spaniel: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Spaniel, fangen wir an – was heißt das für Sie in Duisburg, diese 400.000 werden dann runtergebrochen und dann stehen zum Beispiel gestern oder vorgestern Abend bei Ihnen in Duisburg wieder wie viele Menschen quasi vor Ihrer Tür und Sie müssen sich kümmern, wie viele kommen da so täglich?
    Spaniel: Täglich ist das unterschiedlich, aber Sie können von einem Wochendurchschnitt von 80 bis 100 Personen ausgehen. Wir haben zur Zeit 1.200 in Übergangsheimen, in Turnhallen, in Schulen und Jugendherbergen, und 1.200 befinden sich im Moment in Wohnungen, also in einzelnen Wohnungen.
    Wir haben, wenn man die Bundeszahlen runterbricht, für Duisburg eine Prognose für 2015, im best case müssen wir noch 2.000 aufnehmen ...
    Zurheide: Noch 2.000 zusätzlich?
    Spaniel: ... und im worst case 3.000.
    Zurheide: Noch 2.000 zusätzlich?
    Spaniel: Ja. Aber wir können davon ausgehen ...
    "Überall sind die Sozialbehörden völlig überlastet"
    Zurheide: Wie können Sie das schaffen?
    Spaniel: Ja, das ist kaum zu schaffen. Sie müssen wissen, nicht nur in Duisburg, überall sind ja Sozialbehörden völlig überfordert, völlig überlastet und zwar personell, organisatorisch und auch finanziell. Sowas haben die Sozialbehörden in unserem Land noch nicht erlebt. Und die Verfahrensverschaffung von Unterkünften sind viel zu langatmig und zu bürokratisch, wir haben enorme Auflagen seitens der Bauaufsicht und im Bereich des Brandschutzes, die müssen berücksichtigt werden und das verzögert die Schaffung von Unterkünften ungemein.
    "Wir laufen auf eine Situation zu, wo wir wirklich am Ende sind"
    Zurheide: Sie haben ja vor einiger Zeit schon mal – und sind da heftig für kritisiert worden – eine Zeltstadt aufgebaut, die Sie dann – aus Ihrer Sicht wahrscheinlich glücklicherweise – nicht benutzt haben. Schaffen Sie das jetzt noch ohne oder sagen Sie, jetzt sind wir langsam doch am Ende angelangt?
    Spaniel: Also wir laufen auf eine Situation zu, wo wir wirklich am Ende sind. Ich war ja der Erste, der voriges Jahr eine Zeltstadt errichtet hat, habe dafür viel Kritik einstecken müssen. Mittlerweile sind über 20 Kommunen in Deutschland soweit, dass sie Zelte aufgestellt haben. Ich habe ja eben darauf hingewiesen, die Verfahren zur Schaffung neuer Unterkünfte sind ungeheuer aufwendig, Sie müssen sehen, da werden Lärmgutachten gefordert, Umweltgutachten, Störfallgutachten.
    Zurheide: Darf ich mal fragen, wer fordert das?
    Spaniel: Es gibt gesetzliche Bestimmungen der Bauaufsicht und im Brandschutz. Also Sie müssen sehen, seit dem Flughafenbrand von Düsseldorf vor, ich glaube zwölf Jahren ist die Geschichte des Brandschutzes in Deutschland neu geschrieben worden. Und wenn wir zum Beispiel ein Grundstück haben – ich mache es jetzt mal etwas überspitzt –, dann kommen die Experten und sagen, da hat man einen Schmetterling gesehen, dann wird das Grundstück direkt zum Biotop erklärt, und andere Experten finden eine Fahrradkette, dann sind dort Altlasten, da kommen Sie nicht weiter – bisschen überspitzt dargestellt, aber die Sozialbehörden laufen sich die Füße blutig.
    Zurheide: Wer müsste da was ändern?
    Spaniel: Ja, der Gesetzgeber. Also meiner Meinung nach muss im Bereich des Brandschutzes und der Bauaufsicht vielleicht mal eine Lockerung erfolgen.
    Wissen Sie, das sind gesetzliche Bestimmungen, die muss man auch einhalten, gar keine Frage, aber die Sozialämter sind im Moment in einer Situation, da plötzlich zwei Busse vor der Tür stehen mit jeweils 50 Personen, also 100 Personen, dann schauen Sie in 100 Augenpaare, die Sie fragen, wo schlafe ich denn heute Nacht?
    "Wir sind am Beginn einer neuen Völkerwanderung"
    Zurheide: Und was können Sie tun?
    Spaniel: Wir wurschteln im Moment weiter, wie alle Kommunen, aber das kann kein Dauerzustand sein, dass wir hier Turnhallen belegen, über Zelte neu nachdenken müssen. Meiner Meinung nach sind wir hier am Beginn einer neuen Völkerwanderung, und ich denke da schon in Zeitdimensionen von 10 oder 20 Jahren – so können wir nicht weiterarbeiten, und ich meine, eine Forderung an die Bundespolitik, sich endlich mal darüber Gedanken zu machen, ob wir nicht, wie zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg, hier ein neues soziales Wohnungsbauprogramm auflegen müssen.
    Asylverfahren für Menschen vom Westbalkan beschleunigen
    Zurheide: Das hat heute auch der bayrische Innenminister Joachim Herrmann gefordert. Der hat gesagt zwei Milliarden mindestens müssten kommen, um das zu tun.
    Ich will einen anderen Aspekt mit Ihnen ansprechen, das auch übrigens von Bayern adressiert worden ist, aber wenn ich das richtig sehe, nicht nur von dort, auch aus vielen Städten des Ruhrgebietes zum Beispiel habe ich sowas gehört – Sie sagen, alles wäre viel leichter, wenn diejenigen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Asyl erlangen, wenn die gar nicht erst auf die Städte verteilt würden, richtig oder falsch diese These?
    Spaniel: Die These kann ich nur unterstützen. Also die Kommunen befinden sich ja in einem Dilemma: Der Bund ist Herr des Verfahrens, Herr des Asylverfahrens, aber für die Dauer dieses Verfahrens müssen die Kommunen die Unterbringung, Versorgung und Betreuung der Asylbewerber regeln, und die Dauer der Verfahren, die sind nach meinen Informationen im Moment so bei einem Durchschnitt von sechs bis elf, von sechs bis siebeneinhalb Monaten, das ist der Durchschnitt. Das heißt, es gibt Fälle, die sind in einem Monat erledigt, aber es gibt auch Fälle, die über zwei Jahre dauern.
    So, und jetzt haben wir im Moment die spezielle Situation, dass wir, je nach Kommune, 50 bis 70 Prozent Asylbewerber aus den Staaten des Westbalkan bekommen, und man muss wissen, die Anerkennungsquote bei diesem Personenkreis geht gegen Null, die geht gegen Null. So, da muss man diese Verfahren rapide beschleunigen, da ist die Politik in Berlin gefordert. Es kann nicht sein, dass wir in den Kommunen diese Personen unterbringen müssen und die blockieren Unterbringungsmöglichkeiten für politische Verfolgte. Also bei allem individuellen Verständnis für die Menschen, die da vom Westbalkan kommen, ich kann das ja individuell nachvollziehen, aber sie blockieren Unterbringungsmöglichkeiten für politisch Verfolgte, zum Beispiel Syrer, Afghanen, Eritreer, die ja zu uns kommen. Und es ist schwer zu vermitteln in der politischen Diskussion in den Kommunen, dass Menschen aus Serbien, Albanien, Mazedonien kommen, bei uns Asyl beantragen, und das sind Staaten, die gehören zum Klub der Kandidaten für den EU-Beitritt.
    "Die Willkommenskultur in den Kommunen funktioniert"
    Zurheide: Ist das, was wir da gerade diskutieren, gibt es möglicherweise auch Rechtsradikalen neue Argumente oder muss man immer sehr vorsichtig sein, genau so zu argumentieren, damit man nicht diesen Rechtsradikalismus Vorschub leistet, diese Differenzierung vorzunehmen, das halten Sie für richtig?
    Spaniel: Also Folgendes: Die Willkommenskultur, die funktioniert in vielen Kommunen, auch in Duisburg. Die Willkommenskultur funktioniert, die ist im Moment allerdings in den Medien nicht so stark vertreten wie die Ausfälle von diesen Rechtsparteien oder Rechtspopulisten. Die nehmen natürlich dann zum Beispiel heute aktuell in Dresden natürlich einen Part in den Medien ein, aber die Willkommenskultur funktioniert, die funktioniert übrigens viel besser als die Widerstände, über die oft berichtet wird. Und wir machen das in Duisburg ganz pragmatisch – wir schaffen runde Tische, bevor Asylbewerberunterkünfte geschaffen werden, da wird die Bürgerschaft versucht mitzunehmen, dann muss man Ängste und Vorurteile abbauen, das kann man nur in einer Diskussion.
    Meine Erfahrung ist, wenn man damit frühzeitig beginnt, sich der Hörerschaft stellt, gibt es am Anfang Widerstände und Ängste, aber im Laufe der Zeit kommt es dann zu Situationen, dass, wenn es zu Abschiebungen kommt, eben die Bürgerschaft sich dagegen wendet, und es gibt Freundschaften und Patenschaften, und darüber wird allerdings viel zu wenig berichtet.
    Zurheide: Das haben wir immerhin dann heute Morgen getan, ansonsten bleibt Ihr Appell, dass der Bund mehr tun muss, die Städte und Gemeinden nicht alleine zu lassen. Wie es praktisch vor Ort aussieht, haben wir gerade besprochen mit Reinhold Spaniel, dem Stadtdirektor aus Duisburg. Herr Spaniel, ich bedanke mich bei Ihnen für das Gespräch! Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.