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Flüchtlingskrise
"Eigentlich müssten die Europäer die USA in die Pflicht nehmen"

Für den Nahostexperten Michael Lüders steht fest: Vor allem die USA sind verantwortlich für die Krisen in der Region. Die Flüchtlingsbewegung sei die Quittung für die dortige Interventionspolitik. Washington habe keinen klaren Plan - und dem folgten Berlin und Brüssel. Vor allem mit Blick auf Ägypten könne das weitere Folgen haben.

Michael Lüders im Gespräch mit Christine Heuer | 05.09.2015
    Michael Lüders , aufgenommen am 14.10.2011 auf der 63. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main.
    Nahost-Experte Michael Lüders (dpa / Arno Burgi)
    Christine Heuer: 10.000 syrische Flüchtlinge möchten die USA aufnehmen, 10.000 von vier Millionen Syrern, die auf der Flucht sind, also ein Viertel Prozent. Und deshalb beginnt es in Europa ein bisschen zu rumoren. Die ersten weisen auf die Verantwortung der Amerikaner für die immense Flüchtlingszahl aus dem Nahen Osten hin. Denn es waren die USA, die die Kriege in Afghanistan, in Libyen oder Syrien geführt oder maßgeblich mitbestimmt haben, die Kriege also in den noch existenten oder zerfallenden Staaten, aus denen jetzt die Menschen massenhaft fliehen müssen. Dass Barack Obamas Sprecher, Josh Earnest, jetzt gesagt hat, Europa habe die Kapazität, dieses Problem selbst zu lösen, andere Ankündigungen habe er nicht zu machen, ist für uns Anlass, das Thema mit dem Nahostexperten Michael Lüders zu besprechen. Guten Morgen, Herr Lüders!
    Michael Lüders: Schönen guten Morgen, Frau Heuer, hallo!
    Heuer: Hallo! Die USA wünschen Europa also viel Glück bei der Lösung der Flüchtlingskrise. Macht Washington sich da gerade einen schlanken Fuß?
    Lüders: Ja, in der Tat. Washington könnte mehr Verantwortung übernehmen. Die Krisen in der Region sind maßgeblich mit verantwortet von der Interventionspolitik der USA, die allerdings die Europäer überwiegend mitgetragen haben. Natürlich tragen auch die arabischen Regime ein hohes Maß an Verantwortung für das, was jetzt geschieht, für diese massive Flüchtlingswelle, denn die arabischen Regime haben sich stets als unfähig erwiesen, konstruktive Politik zu betreiben und ihren Bevölkerungen eine Perspektive zu geben. Nur der Machterhalt interessiert sie, und die Mischung ergibt jetzt eine dramatische Flüchtlingsbewegung, die noch längst nicht ihren Höhepunkt erreicht hat. Eigentlich müssten die Europäer jetzt die Amerikaner in die Pflicht nehmen.
    Heuer: Was vor allem haben denn die USA falsch gemacht aus Ihrer Sicht?
    Lüders: Nehmen wir das Beispiel Irak: Im Irak hat man 2002 einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen einen furchtbaren Despoten, Saddam Hussein, geführt. Um den muss man sich keine Gedanken machen, ihm muss man keine Träne nachweinen. Aber die anschließende Besatzungspolitik im Irak hat dazu geführt, dass es eine konfrontative Haltung gab der Sunniten gegen die Schiiten, der Kurden gegen die Araber. Und in diesem Chaos entstand ein sunnitischer Widerstand, aus dessen Reihen dann schließlich der Islamische Staat überhaupt erst entstanden ist. Der größte Fehler der Amerikaner war, die irakische Armee aufzulösen und die Baath-Partei von Saddam Hussein. Hunderttausende Sunniten waren quasi über Nacht arbeitslos. Und diese Sunniten bilden heute das Rückgrat des Islamischen Staates, dessen militärische beziehungsweise terroristische Führung wird fast ausschließlich von alten Saddam-Kadern gefüllt. Das war ein eklatanter Fehler. Und es ist eben dieses nicht das erste Mal gewesen. Der Islamische Staat ist das Produkt der USA. Al Kaida, die Taliban in Afghanistan sind entstanden als Reaktion auf die amerikanische Interventionspolitik dort. Aber man lernt aus diesen Fehlern nicht. Man macht immer wieder denselben Fehler. Und jetzt haben wir als Quittung dieser Politik eine massive Flüchtlingsbewegung aus dem Irak, aus Syrien. In Syrien wollte man und will man um jeden Preis Baschar al-Assad stürzen, ebenfalls ein furchtbarer Diktator. Aber man muss ja die Frage beantworten, sollte dieses Regime fallen, wonach es erst einmal nicht aussieht, wer würde dann die Macht in Damaskus übernehmen? Wahrscheinlich ja nicht Christ- oder Sozialdemokraten, sondern eher der Islamische Staat. Wo also ist die Logik dieser Politik?
    "Staatszerfall, Anarchie und Millionen auf der Flucht"
    Heuer: Also war es falsch, die Gegner von Assad zu unterstützen?
    Lüders: Es war ein großer Fehler, im Jahr 2011 um jeden Preis Baschar al-Assad stürzen zu wollen. Das geschah ja nicht aus humanitären Motiven, sondern mit Blick darauf, dass Baschar al-Assad der engste Verbündete des Irans im Nahen Osten ist, und über Syrien erfolgt der Waffennachschub für die Hisbollah, die Partei Gottes im Libanon. Also war das Kalkül des Westens, der USA, der Europäer, aber auch der Türkei und der Golfstaaten, Baschar al-Assad zu stürzen, sein Regime zu ersetzen durch ein prowestliches, sunnitisches Regime. Dieser Schuss ist, wenn ich das so sagen darf, im wahrsten Sinne des Wortes nach hinten losgegangen. Syrien ist zerfallen. Das Regime kann sich mit Mühe in Damaskus und Umgebung an der Macht halten, hat aber weite Landesteile aufgeben müssen, weil es die militärischen Kapazitäten nicht hat. Und dort hat der Islamische Staat Fuß gefasst. Und die sogenannte gemäßigte Opposition, auf die man im Westen gesetzt hat, die gab es eher in den Köpfen hiesiger Strategen. Natürlich gibt es gemäßigte und sehr kluge und vernünftige Syrer, zu Zehntausenden gibt es sie, aber die islamistischen Kräfte sind viel, viel stärker. Das Ergebnis ist die Situation, die wir jetzt haben: Staatszerfall, Anarchie und Millionen Menschen auf der Flucht.
    Heuer: Herr Lüders, aber ist es nicht eigentlich so, dass nicht so sehr die Aktionen der Amerikaner schwierige Situationen entstehen lassen, sondern der Rückzug der Amerikaner? Ich sage mal, im Irak gab es ja zwischenzeitlich weniger Terror. In Syrien sind rote Linien von Assad mehrfach überschritten worden, und die Amerikaner sind nicht eingeschritten und die Lage ist weiter eskaliert.
    Lüders: Wenn man die Dinge im Rückblick betrachtet, dann könnte man sich überlegen, ob es nicht ungefähr ein halbes Jahr nach Beginn der Unruhen in Syrien ein Zeitfenster gegeben haben mag, wo es tatsächlich möglich gewesen wäre, das Regime von Baschar al-Assad zu stürzen. Diese Gelegenheit hat man allerdings verstreichen lassen, damals aus der Überlegung heraus, es ist riskant, in Syrien zu intervenieren. Danach hat sich das Regime ganz gut verteidigen können, vor allen Dingen auch durch die Unterstützung aus Russland, China und dem Iran. Man hat dieses Zeitfenster verpasst. Und das Problem mit der amerikanischen Politik ist, dass sie nicht Fisch, nicht Fleisch ist. Sie weiß nicht, was sie will. Im Augenblick unterstützen die Amerikaner eine dubiose Opposition aus sogenannten gemäßigten Islamisten, die in der Vergangenheit zu Tausenden übergelaufen sind, nachdem sie eine gute militärische Ausbildung durch die Amerikaner in Saudi-Arabien oder in der Türkei oder in Jordanien erhalten haben. Danach sind sie übergelaufen zum Islamischen Staat oder zu anderen radikalen Gruppierungen, oder sie haben ihre Waffen verkauft an die Islamisten. Diese Haltung des Nicht-genau-Wissens, was man eigentlich will - irgendwo hat man in Washington, in Berlin und anderswo auch verstanden, dass die Truppen von Baschar al-Assad neben den Kurden die einzigen sind, die dem Islamischen Staat noch Widerstand entgegensetzen können. Aber welche Konsequenzen hat das, welche Logik, welche Überlegungen hat das zur Folge? Da gibt es keinen Plan. Man wurschtelt sich durch, und es gilt hier der alte Spruch: In Gefahr und Not ist der Mittelweg der Tod.
    "Berlin hat keine eigene Linie"
    Heuer: Herr Lüders, aber immerhin versuchen die USA überhaupt, Einfluss zu nehmen. Deutschland hält sich ja gern zurück.
    Lüders: Die Problematik der deutschen Politik besteht darin, dass sie gegenüber den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wie auch die übrige Europäische Union keine eigene Linie verfolgt. Im Wesentlichen ist die deutsche Politik eine Befolgung amerikanischer Ideen oder auch Vorgaben, und man setzt diese um oder versucht sie, ebenfalls mit umzusetzen, mit zwei Ausnahmen: Deutschland hat sich nicht beteiligt am Krieg 2003 gegen Saddam Hussein, und Deutschland hat sich nicht beteiligt an dem Sturz von Gaddafi. Aber darüber hinaus teilt man diese Politik und hat nicht das Rückgrat, eine falsche Politik zu korrigieren. Aktuelles Beispiel: Die Entscheidung der türkischen Regierung, gegen die Kurden Krieg zu führen, die wichtigste Gruppierung, die Krieg führt gegen den Islamischen Staat. Eigentlich müssten die NATO, die Europäische Union, die Regierung in Berlin die türkische Regierung in die Pflicht nehmen, ihr sagen, eure Politik ist wahnsinnig, dass ihr die Kurden bekämpft. Ihr müsst sie im Gegenteil unterstützen. Das macht man aber nicht. Es gibt keinen einzigen Politiker der Bundesregierung, der die Türkei hier öffentlich kritisieren würde. Das ist ein falsches, ein rückgratloses Verhalten, und dafür bezahlen wir einen hohen Preis, eben auch in Form der Flüchtlingsbewegung. Und was in Gottes Namen reitet die Bundesregierung, in Ägypten die Polizei auszubilden, auf dass sie die Demonstrationen, die künftig folgen werden in Ägypten und mehr und mehr zunehmen werden, niederschlagen können? Ägypten ist ein Land mit 90 Millionen Einwohnern. Wenn dieses nun auch ins Rutschen gerät, und danach sieht es aus, und von 90 Millionen auch nur zehnt Prozent, also neun Millionen auf die Idee kommen, über Libyen nach Europa zu fliehen, wohin soll das führen? Es ist höchste Zeit, die Politik zu überdenken, aber das geschieht nicht. Wir haben zu wenig Akteure, die nach vorne blicken und auch nur bereit sind, die Probleme in der Region zu erkennen.
    Heuer: Ein Akteur guckt jetzt vielleicht nach vorne: Wladimir Putin, der russische Präsident. Da gibt es jetzt erste Anzeichen, dass er mitmachen könnte beim Kampf gegen den Islamischen Staat. Ist eine Lösung für Syrien insofern in Sicht?
    Lüders: Wenn Russland, der Iran, China, die USA und die Europäer an einem Strang ziehen, dann ist es möglich, diesen Konflikt nicht zu beenden, aber doch in Schach zu halten. Es geht vor allem um die zentrale Frage, was geschieht mit dem Regime von Baschar al-Assad, und wie will man hier eine Politik betreiben für eine mögliche Zeit danach. Russland und Iran haben signalisiert, dass sie bereit sind, Baschar al-Assad von der Macht zu entfernen, ins Exil zu bitten nach Russland beispielsweise. Das Regime soll aber im Kern erhalten bleiben, in und um Damaskus wenigstens. Ob sich die Amerikaner darauf einlassen, ist eine andere Frage. Aber Russland hat, genauso wie der Iran, ein großes Interesse daran, dass dieses Chaos sich nicht ausweitet, übergreift auf den Kaukasus, und der radikale Islam auch dort Fuß fasst. Es gibt hier also gemeinsame Ansätze einer konstruktiven Politik mit Russland, mit dem Iran. Aber es muss auch den Willen geben, die gemeinsam zu betreiben.
    Heuer: Und Sie finden, das entscheidet sich jetzt wieder in den USA? Es ist an Washington, zu handeln?
    Lüders: Washington ist der wichtigste globale Akteur in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens, auch wenn die Macht Washingtons zügig dabei ist, zu erodieren, nicht zuletzt deswegen, weil viele Staaten in der Region erkannt haben, dass es eine große Kluft gibt zwischen dem Freiheitsversprechen der USA und des Westens einerseits und der Realpolitik andererseits. Insoweit sind die Dinge sehr im Fluss. Keiner weiß, wie es in Syrien, im Irak, in der Region in drei, in vier, in fünf Jahren aussehen wird. Aber klar ist, die humanitäre Katastrophe wird sich fortsetzen. Und wie erwähnt: Wenn erst mal von Ägypten aus die Menschen anfangen, ebenfalls zu flüchten - und das ist abzusehen -, dann weiß ich nicht, wie Europa damit umgehen wird. Ich denke, die Europäer sind gut beraten, ihre eigenen Interessen klar zu definieren, nötigenfalls auch in Abgrenzung zu den USA.
    Heuer: Der Nahostexperte Michael Lüders. Herr Lüders, haben Sie vielen Dank für das Interview!
    Lüders: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.