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Flüchtlingskrise
"Erst einmal wird die Arbeitslosenzahl steigen"

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) rechnet wegen der hohen Zahl von Flüchtlingen mit einem vorübergehenden Anstieg der Arbeitslosenquote. Sie sagte im DLF, angesichts der zahlreichen offenen Stellen werde man zwar viele Leute vermitteln können - das gelinge aber nicht von heute auf morgen. Nahles äußerte sich skeptisch zu den Leistungskürzungen für Asylbewerber, die Innenminister Thomas de Maizière plant.

Andrea Nahles im Gespräch mit Gerhard Schröder | 20.09.2015
    Andrea Nahles, SPD, steht vor der Kuppel des Reichstagsgebäudes.
    Arbeitsministerin Nahles geht davon aus, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland wegen der Flüchtlinge steigen wird. (Deutschlandradio / Ansgar Rossi)
    Gerhard Schröder: Frau Nahles, Tausende Flüchtlinge sind schon nach Deutschland gekommen, Tausende werden noch kommen. Die Bundesregierung schätzt, dass es in diesem Jahr 800.000 sein werden; SPD-Chef Sigmar Gabriel spricht sogar von einer Million. Wir erleben, dass die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung groß ist, aber die Tonlage in der politischen Debatte, die hat sich in den vergangen zwei Wochen doch spürbar verändert. Wir reden nicht mehr über Willkommenskultur, sondern über schärfere Asylgesetze, die notwendig sind, über die Probleme der Kommunen, die Flüchtlinge unterzubringen oder auch die Notwendigkeit, den Zustrom an Flüchtlingen zu begrenzen. Gilt für Sie dennoch das Wort der Kanzlerin: "Ja, wir schaffen das"?
    Andrea Nahles: Ja, wir schaffen das. Das kann ich nur unterstreichen. Aber es ist eine Herkulesaufgabe und die Belastung ist enorm gestiegen. Das merken als allererstes die Kommunen und Länder, das kommt aber mittlerweile auch beim Bund an. Und insoweit ist durchaus die Anstrengung jetzt auch zu spüren, dass wir das auch bewältigen. Und es gibt auch natürlich eine europäische Debatte. Und da kann ich nur sagen: Ja, wir schaffen das, wir brauchen aber auch ein stückweit Solidarität in Europa.
    Schröder: Solidarität brauchen auch Länder und Gemeinden. Drei Milliarden will der Bund geben; Wir brauchen das Doppelte, sagen Länder wie Bayern oder Nordrhein-Westfalen. Muss der Bund mehr tun?
    Nahles: Wir werden darüber in der nächsten Woche reden. Und ich glaube, wenn man das begründen kann, wenn es also wichtige Aufgaben gibt, die erfüllt werden müssen, um das zu bewältigen, dann kann man auch noch mal über Finanzen reden. Das ist aber die Aufgabe von Wolfgang Schäuble, der sich aber meiner Meinung nach in dieser Frage sehr kooperativ und im Interesse einer gemeinsamen Lösung bewegt und deswegen kann ich diese Verhandlung nicht vorweg nehmen. Aber es wird sicherlich noch mal darüber zu reden sein, ob die absolute Höhe passt und vor allem, was an einzelnen Maßnahmen erforderlich ist.
    Schröder: Sie allein haben den Bedarf für die Versorgung und die Integration der Flüchtlinge auf bis zu 3,3 Milliarden Euro für das nächste Jahr beziffert. Sind Sie auch da optimistisch, dass Wolfgang Schäuble kooperativ ist?
    Nahles: Ja, wir haben einen regelmäßigen Austausch. Ich habe sowieso den größten Haushalt im Einzelplan in der Bundesregierung mit 128 Milliarden. Das sind 41 Prozent des Gesamthaushaltes, da können Sie sich vorstellen, dass ich ein Interesse daran habe, ein gutes Verhältnis mit dem Finanzminister zu haben. Und das haben wir auch. Übrigens, das hängt davon ab – die Summen, wir haben ja eine Bandbreite genannt von 2,8 Milliarden bis 2,3 Milliarden –, wie viele der Menschen, die zu uns kommen, einen Asylantrag stellen, wie viel davon auch tatsächlich bewilligt werden, also die Anerkennungsquote. Und es hängt davon ab, wie viele Menschen als Familien noch nachziehen. Und davon hängt die Summe bei mir ab. Ich kann momentan noch gar nicht genau sagen, wie hoch es ganz genau wird, aber es wird auf jeden Fall eine Menge sein.
    Schröder: In der Koalition gibt es mittlerweile richtigen Krach. Die CSU geht auf Konfrontation zur Kanzlerin, sie sagt: Das war eine beispiellose Fehlleistung, die Grenze zu öffnen für die gestrandeten Flüchtlinge in Ungarn- Das war das völlig falsche Signal, nämlich das Signal an die Flüchtlinge: Kommt nach Deutschland. Können Sie das nachvollziehen?
    "Ich hätte mich persönlich geschämt, wenn wir das nicht gemacht hätten"
    Nahles: Ich kann das nicht nachvollziehen, weil ich finde, das ist erst mal absolut richtig gewesen. Und ich hätte mich persönlich geschämt, wenn wir das nicht gemacht hätten. Ich bin sehr froh, dass ich als Mitglied dieser Bundesregierung, bei all den Belastungen und Problemen, die das auch natürlich nachher für die Arbeitsvermittlung bedeutet, Teil einer humanitären Politik sein kann. Aber es ist auch richtig, dass wir Entwicklungen in Europa erleben, wo bisherige Verfahren zusammengebrochen sind, wo im Prinzip jetzt auch eine Anzahl, allein der Aufwuchs der Flüchtlingszahlen also schlicht für Überforderung gesorgt hat an einigen Stellen, nicht zuletzt auch in München. Und ich kann nur sagen, das haben die Menschen dort sehr, sehr gut gemanaget – die Beamten genauso, wie die Ehrenamtlichen. Und jetzt müssen wir gucken, dass wir eine Lösung finden, die eben auf Dauer trägt.
    Schröder: Es ist doch immer davon die Rede, dass wir eine europäische Lösung brauchen. Was können wir tun, damit Länder, die sich bislang noch weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, das dann auch tatsächlich tun?
    Nahles: Na ja, wir müssen halt auch einfach reden. Wir müssen im Zweifel auch Mehrheitsentscheidungen treffen, das hat Frank-Walter Steinmeier gesagt. Ich beobachte, dass einige Länder ihren Ton verändern, zum Beispiel auch Polen, auch einige baltische Staaten. Ich kann nur hoffen, dass allen klar ist, dass hier die Wertegemeinschaft Europas auf dem Spiel steht. Weil es ist das eine, in Sonntagsreden Europa zu beschwören, es ist das andere, in einer echten Krise, mit einer großen Herausforderung, dann auch Europa zu leben.
    Schröder: Wäre es auch richtig, im Zweifel Ländern, die sich hier verweigern, Hilfsgelder aus der Brüsseler Kasse zu verweigern?
    Nahles: Also ich halte jetzt nichts davon, mit drakonischen Drohungen Menschen, die Verantwortung in anderen Ländern tragen und die auch Gründe wahrscheinlich für ihr Verhalten haben, zu überzeugen. Was ich mir aber vorstellen kann, dass wir ESF-Mittel ein bisschen neu ausrichten, dass wir die Mittel, die da sind, auch noch mal überarbeiten und auch neue Schwerpunkte bilden. Und deswegen kann ich mir durchaus vorstellen, dass es noch mal, was die Mittelzuweisung angeht, Bewegung geben kann, von der dann die Länder, die viele Flüchtlinge aufnehmen, profitieren.
    Schröder: Wir haben gesprochen über die Kritik der CSU – inzwischen ist ja die Bundesregierung selber ein Stückweit zurückgerudert, hat Grenzkontrollen wieder eingeführt. Also haben die Kritiker da nicht doch Recht, die sagen: Ja, wir müssen den Zustrom begrenzen?
    "Wir haben nicht die Grenzen dicht gemacht"
    Nahles: Wir haben Grenzkontrollen eingeführt, wir haben nicht die Grenzen dichtgemacht – ich möchte das noch mal betonen! Grenzkontrollen haben Schleuser aufgedeckt, sie helfen sogar bei der Registrierung, der zu uns kommenden Menschen – was momentan immer noch nicht hundertprozentig gut klappt. Registrierung ist aber Voraussetzung für alle anderen Leistungen. Und ich glaube, wir haben damit auch ein Signal an die europäische Familie gesandt, dass wir sagen: Wir brauchen hier ein strukturiertes und gemeinsames Vorgehen. Ich halte nichts davon, den Menschen die Illusion zu vermitteln, dass wir jetzt hier die Grenzen dichtmachen können. Wir können das gar nicht, die Leute kommen, die kommen im Zweifelsfall über die grüne Wiese. Und wir müssen trotzdem darüber reden, wie wir von der Ursache, warum fliehen sie, bis hin zu der Frage, wie gehen wir hier im eigenen Land damit um, ein humanitäres, aber auch klares Verhalten an den Tag legen.
    Schröder: Frau Nahles, Innenminister Thomas de Maizière will das Asylrecht verschärfen. Ein Punkt dabei, die Leistungen für abgelehnte Asylbewerber und für diejenigen, die in einem anderen Land registriert worden sind, sollen drastisch gekürzt werden. Halten Sie das für den richtigen Weg?
    Nahles: Wir sind in dieser Frage im Gespräch, wir befinden uns in der Ressortabstimmung. Ich kann nur sagen, als Zuständige für das Asylbewerberleitungsgesetz, dass es enge Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes gibt, die klar gesagt haben – und wir haben gerade erst kürzlich das Asylbewerberleistungsgesetz diesen Anforderungen angepasst –, Existenzminimum ist Existenzminimum. Deswegen sehe ich da keine großen Spielräume.
    Schröder: Flüchtlinge aus Ländern mit geringen Anerkennungsquoten sollen künftig verstärkt Sachleistungen bekommen, sollen auch länger in den Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben – Kritiker sprechen da schon von einem Zwei-Klassen-Asylrecht. Haben die Recht?
    Nahles: Da wäre ich vorsichtig. Wir haben – und da sind wir uns auch politisch auf der Länder- und Bundesebene einig – einen Riesenansturm von Menschen, die wirklich bedroht sind an Leib und Leben, die aus Bürgerkriegen fliehen und Asylgründe vorweisen können und die müssen jetzt erst mal Priorität haben. Und andere, die zu uns kommen – das sind eben Menschen, die auch sicher Ihre Gründe haben, warum sie ihr Heim verlassen, das tut ja niemand einfach so, aber die nicht in Wahrheit an Leib und Leben bedroht sind, die auch keine Asylgründe haben, deren Anerkennungsquote, zum Beispiel Westbalkanstaaten, unter einem Prozent liegt –, da muss man sagen, da muss man eventuell auch einfach sagen: Die müssen dann schneller rückgeführt werden, als das in der Vergangenheit der Fall war, auch, um anderen Platz zu machen, die eben den Schutz, den wir bieten können und die Hilfe, die wir bieten können, in Anspruch nehmen zu können. Und deswegen finde ich jetzt zunächst mal richtig, dass wir auch über die Frage nachdenken: Wie können wir die Verfahren für diesen Teil der Leute, die keine dauernde Bleibeperspektive haben, auch verkürzen. Das ist in beiderseitigem Interesse. Andererseits – deswegen habe ich ja vorgeschlagen, dass wir auch über eine legale Zuwanderungsmöglichkeit aus dem Westbalkan reden – haben die Leute möglicherweise hier eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Und deswegen habe ich vorgeschlagen, legale Zugänge zum Arbeitsmarkt zu legen, um das Asylverfahren aber auch zu entlasten. Und wenn man das als Gesamtpaket sieht, dann wird es stimmig.
    Schröder: Es gibt eine große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung, es gibt aber auch die Angst vor Überforderung, auch SPD-Chef Sigmar Gabriel hat das angesprochen. Er sagt: Wir können nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge aufnehmen. Was folgt daraus?
    "Wir haben 600.000 offene Stellen"
    Nahles: Nun, wir können mehr tun als andere, weil wir in jeder Beziehung gut aufgestellt sind. Wir haben 600.000 offene Stellen – so viele hatten wir in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie –, wir brauchen Fachkräfte. Nicht jeder Flüchtling, der jetzt kommt, ist schon automatisch eine Fachkraft – das ist richtig –, viele brauchen noch Qualifizierung. Aber der Bedarf an Fachkräften ist da. Die Flüchtlinge von heute können die Fachkräfte von morgen sein, wenn wir es richtig machen, wenn wir sie optimal integrieren. Und von daher bin ich vorsichtig, zu sagen, was wir können und was wir nicht können, das können wir momentan noch gar nicht sehen. Richtig ist, dass es vernünftigerweise in Europa, wenn wir die Flüchtlinge, die jetzt kommen würden, gerecht verteilen würden in Europa, hätten wir eigentlich gar kein Problem, auch nicht in Deutschland. Und wir müssen also daher zu einer besseren Verteilung kommen. Das ist möglich und darüber wird auch zu verhandeln sein. Es gibt einen Sondergipfel auf europäischer Ebene nächsten Mittwoch. Und ich erhoffe mir einfach da einen Fortschritt an der Stelle, und dann können wir unseren Teil gut bewältigen.
    Schröder: Das Interview der Woche mit Arbeitsministerin Andrea Nahles, SPD. Frau Nahles, Integration hat oberste Priorität, das sagt die Kanzlerin. Sie haben das auch gesagt: Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Was heißt das konkret? Wo müssen wir besser werden?
    Nahles: Also erst mal davon ausgehen, dass ein guter Teil der Flüchtlinge, die zu uns kommt, auch hier bleiben. Als die Gastarbeiter in den 60er-Jahren kamen, war es ja – der Name sagt es ja schon – die Idee: Die arbeiten hier ein bisschen, dann gehen sie zurück – viele, viele, viele Millionen sind geblieben. Zweitens, wenn die also wirklich bleiben, dann muss von Anfang an klar sein: Die müssen wir auch so annehmen, die Leute hier Willkommen heißen, aber auch ganz schnell die Kompetenzen, die sie haben, erfassen. Wir haben ein Programm schon vor Monaten von der Bundesagentur gemacht, dass wir in die Erstaufnahmeeinrichtung reingegangen sind – Early Intervention – und haben geguckt: Was können die? Was brauchen die an Qualifizierung? Und dann haben wir auch einige von den Leuten direkt vermitteln können, weil sie sehr gut qualifiziert sind. Bei anderen wissen wir, wir müssen mehr tun. Dieses Programm werden wir jetzt überall ausrollen, in ganz Deutschland. Und dann geht es um Sprachkurse. Sie müssen sich vorstellen, wir haben ja nicht die ersten Flüchtlinge jetzt in diesen Monaten, sondern wir haben ja schon Flüchtling. Nur die Kapazitäten, die wir brauchen, aufgrund der schieren Zahl, die jetzt kommen, das bedeutet zum Beispiel für mich ganz konkret, ich muss jetzt berufsbezogene Sprachkurse von 25.000, die wir dieses Jahr vorgehalten haben, in kürzester Zeit auf 100.000 hochfahren. Das ist etwas, was mich den ganzen Tag beschäftigt, weil wissen, wie wir die Leute integrieren können, das wissen wir schon, nur die schiere Anzahl der Leute, damit hatte niemand gerechnet.
    Schröder: Es fehlt an Geld, es fehlt an Personal, auch bei den Arbeitsagenturen, in den Jobcentern. Dort wird kalkuliert, dass 2.800 zusätzliche Beschäftigte nötig wären. Können Sie die so schnell bereitstellen?
    Nahles: Ja, ich denke, dass ich das Geld dafür bekomme. Das ist jedenfalls – da bin ich sehr optimistisch – auch notwendig. Weil es ist nun mal einfach nicht zu schaffen, wenn wir nicht jetzt personell auch aufstocken. Und genau das werden wir auch tun. Klar ist immer: Die Leute müssen eingewiesen werden. Wir hoffen, dass wir einige Menschen, die jetzt befristet bei uns beschäftigt waren, einfach übernehmen können – die sind ja schon mal eingearbeitet. Wir versuchen auch da, das alles so zu optimieren, dass möglichst schnell die volle Handlungsfähigkeit da ist. Wir denken, dass im nächsten Jahr der Zustrom auf den deutschen Arbeitsmarkt deutlich ansteigt. Ich rechne auch damit, dass die Arbeitslosenzahlen steigen. Damit sich niemand Illusionen macht: Wir sind gut, wir können auch viele Leute vermitteln, aber es wird nicht von heute auf morgen erfolgen und deswegen wird erst mal die Arbeitslosenzahl steigen. Das muss niemanden beunruhigen; wir können, wenn wir das gut machen, auch viele in Arbeit vermitteln.
    Schröder: Es gibt 600.000 offene Stellen. Das Handwerk allein klagt, dass 20.000 Ausbildungsstellen nicht besetzt werden können. Das sind doch eigentlich sehr günstige Bedingungen, um jetzt Flüchtlinge rasch in Arbeit zu vermitteln. Warum ist das trotzdem so schwer?
    Nahles: Also zunächst einmal ist es sehr erfreulich, wie die deutsche Wirtschaft – das Handwerk genauso, wie die Industrie – auf diese Flüchtlingsfrage reagiert, nämlich sehr offen. Also es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht gelänge, auch einen guten Teil des Fachkräftebedarfes, der jetzt gemeldet wird, mit den Menschen, die zu uns kommen, auch besetzen zu können.
    Schröder: Sie haben das Projekt "Early Intervention" genannt, Beschäftigte der Arbeitsagenturen, die schon in den Erstaufnahmestellen Kontakt zu den Flüchtlingen suchen. Das klingt sehr plausibel, das klingt gut – die Ergebnisse sind aber einigermaßen niederschmetternd, die man bislang erzielt hat, nämlich dass nur zehn Prozent der Flüchtlinge schnell vermittelt werden konnten.
    "Wir haben Bedarf an Facharbeitern"
    Nahles: Das Hauptproblem ist aber die Sprache. Also diejenigen, die wir sofort vermitteln konnten, das waren Leute, die schon sehr gut Englisch konnten und dann deutsche Arbeitgeber gesagt haben: Das kann ich gut gebrauchen oder das reicht mir, der muss jetzt nicht perfekt Deutsch sprechen können. Wir haben auch junge Leute in Ausbildung vermitteln können. Aber Tatsache ist, die größte Hürde bei der Vermittlung ist nun einmal die deutsche Sprache und deswegen muss da auch der Fokus liegen, weil wir können ganz klar sagen: Wir haben einen Bedarf an Fachkräften. Ich persönlich denke, dass wir in diesem Zusammenhang auch sehr deutlich noch mal sagen müssen: Wir haben auch noch junge Leute – 240.000 –, die in Warteschleifen sind, die jetzt hier schon seit einiger Zeit auf Perspektiven warten oder auch eine ganze Reihe von Langzeitarbeitslosen. Die sind auch nicht vergessen, im Gegenteil, wir machen keinen Unterschied zwischen denen, die schon länger hier sind und Schwierigkeiten haben, in einen Beruf zu kommen und denen, die jetzt neu dazu kommen. Und ich glaube, so eine Haltung muss man auch noch mal klar betonen. Ich möchte nicht, dass der Eindruck entsteht, wir würden da jetzt nur noch einseitig agieren. Aber ich will schon sagen: Wir brauchen definitiv mehr Personal, wir brauchen mehr Sprachkurse. Aber das haben Sie ja jetzt schon öfter von mir gehört.
    Schröder: Arbeitgeber sagen: Wir könnten mehr einstellen, wir würden das auch gerne tun, aber es gibt so viele bürokratische Hemmnisse. Wo müssen Sie da ansetzen?
    Nahles: Es gibt nicht bürokratische Hemmnisse, es gibt die Probleme mit der Registrierung, mit der Anerkennung, mit dem Status. Die Asylbewerber in Deutschland – das Gesetz habe ich selber geändert – können nach drei Monaten arbeiten. Da gibt es gar keine Bürokratie, es gibt aber die Probleme, dass manchmal überhaupt die Antragsstellung für einen Asylantrag momentan Monate dauert, geschweige denn, dann die Bearbeitung des Asylantrages. Mit anderen Worten – das weiß auch jeder –, aufgrund der schieren Anzahl der Leute, die jetzt gekommen sind, ist im Prinzip einiges verstopft. Wir müssen erst mal gucken, dass wir das wieder flott kriegen und dann geht das auch schneller mit der Arbeitsvermittlung.
    Schröder: Manfred Schmidt, der Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, der jetzt zurückgetreten ist, hat schon vor zwei Jahren beklagt: Wir brauchen mehr Personal, damit die Asylverfahren schneller bewältigt werden können und das ist notwendig, damit die Integrationen ja überhaupt in Gang gebracht werden kann. Warum ist das so schwierig? Warum kriegt Innenminister Thomas de Maiziére, der ja zuständig ist, das nicht hin?
    Nahles: Also, ich halte jetzt nichts von Schuldzuweisungen. Niemand, aber wirklich niemand hat damit gerechnet, was hier auf uns zukommt. Klar, die Zahl der Flüchtlinge hatte sich schon im letzten Jahr verdoppelt, aber das war immer noch alles handelbar, würde ich mal sagen. Und im Nachhinein ist man immer schlauer. Nur wissen Sie auch, wenn es keine akute Krise gibt, dann hat der Finanzminister nicht immer die Spendierhosen an und sagt: Jawohl, das machen wir jetzt, überall Personalaufbau – das ist einfach so –, da war die Hauptzielsetzung, "schwarze Null" erreichen.
    Schröder: Aber schon im Koalitionsvertrag steht: Beschleunigung der Asylverfahren auf drei Monate. Das ist mehrmals wiederholt worden, passiert ist nicht viel. Hat der Innenminister das nicht wirklich im Fokus gehabt?
    "2.000 neue Leute bewilligt"
    Nahles: Es sind 2.000 neue Leute bewilligt worden. Es ist nur nicht: Von heut' auf morgen – schwupp – sind die 2.000 da. Im Grunde genommen war Herr Schmidt sogar erfolgreich, was das angeht, dem Aufbau von zusätzlichem Personal. Da sind die Bewerbungsgespräche bereits zum guten Teil gelaufen, die Leute fangen nächste Woche an, es läuft. Aber die strukturelle Überforderung, die es da gegeben hat auf allen Ebenen, von der Erstaufnahme bis hin zum BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge), da sollten wir wirklich vermeiden, mit dem Finger nur auf andere zu zeigen. Gut wäre, wenn wir uns im gemeinsamen Interesse auch gemeinsam jetzt an die Lösung der Aufgaben machen.
    Schröder: Frau Nahles, Frank-Jürgen Weise, der Präsident der Bundesagentur für Arbeit (BA), soll künftig auch die Leitung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge übernehmen in Personalunion. Er übernimmt damit eine Schlüsselposition in der derzeitigen Flüchtlingskrise. Warum ist das eine gute Wahl?
    Nahles: Ich kenne niemanden, der so gut ist, Organisationen, Prozesse zu steuern, wie Frank-Jürgen Weise. Er hat es geschafft in einer schwierigen Lage in der BA und er wird es auch bei dem BAMF schaffen. Und vor allem gibt es auch viele Schnittmengen zwischen den beiden Organisationen. Und die sind auch noch beide in Nürnberg. Also das ist Zufall mehr oder weniger, aber es fügt sich. Und wir hoffen einfach, dass wir die Verzahnung besser hinkriegen. Und ich bin deswegen froh gewesen, dass er zugesagt hat – das ist ja eine Mammutaufgabe – und habe auch de Maiziére sofort zugestimmt, als er das vorschlug. Wir sind uns da einig.
    Schröder: Innenminister Thomas de Maiziére hat von einem der schwierigsten Ämter gesprochen, die derzeit in Deutschland zu vergeben sind. Was muss Frank-Jürgen Weise leisten?
    Nahles: Ja, Prozesse optimieren, er braucht auch noch mehr Unterstützung und Personal. Es muss einfach auch mit System mal geguckt werden, wie kann man Sachen beschleunigen, wie kann man sie besser verzahnen, sowohl mit den Ausländerbehörden als auch mit der BA als auch mit der Polizei. Es gibt verschiedene Akteure. Und das BAMF ist einfach so ein bisschen das Nadelöhr, weil die Registrierung der Flüchtlinge halt über die läuft. Aber ich habe unheimliches Zutrauen, dass Frank-Jürgen Weise das hinkriegt, weil er wirklich ein Spezialist für solche Aufgaben ist. Und insoweit: Wenn es irgendeinen in Deutschland gibt, der es schaffen kann, dann er.
    Schröder: Mehr Personal, schnellere Asylverfahren, das hat Thomas de Maiziére als zentrale Herausforderung genannt. Ist da denkbar, dass er sich auch bei der Bundesagentur für Arbeit bedient? Da war ja schon mal eine Spekulation im Raum: 3.000 Beschäftigte könnten zum BAMF wechseln von der Bundesagentur. Ist das realistisch?
    Nahles: Es gibt Amtshilfe, auch personelle. Und wir haben – und das ist diskutiert worden real – befristete Stellen. Die Menschen sind gut eingearbeitet, wir können die alle nicht übernehmen und daher, wenn jetzt beim BAMF Personal aufgebaut wird, macht es natürlich Sinn, Leute, die schon eingearbeitet sind, zu nehmen. Und dann bin ich damit einverstanden, dass Leute, die bei uns nur einen befristeten Vertrag haben, der jetzt ausläuft, dann zum BAMF wechseln. Aber das ist keine Überlassung von Stellen an die BAMF. Wir haben doch selber eine Riesenaufgabe vor uns bei der BA. Und ich muss selber sehen, dass wir die Kapazitäten hochgefahren bekommen. Allein bei den Sprachkursen und anderen Fragen, in den Jobcentern brauchten wir mehr Personal. Also kurz: Leute, die befristet, gut eingearbeitet sind, warum sollen die nicht dann auch jetzt an anderer Stelle ihre Aufgabe erfüllen. Aber das und nichts anderes ist gemeint.
    Schröder: Das Interview der Woche mit Andrea Nahles, die Bundesarbeitsministerin. Frau Nahles, wir haben bürokratische Hemmnisse angesprochen, die der Wirtschaft Probleme bereiten. Eines davon ist zum Beispiel die Vorrangprüfung: Wer einen Flüchtling einstellen will, der muss nachweisen, dass es keinen gleichwertig geeigneten Deutschen oder EU-Bürger gibt. Ist das nicht eine überholte Regelung?
    Nahles: Das ist eine Regelung, die wir – das ist mein Vorschlag – für eine begrenzte Zeit aussetzen sollten.
    Schröder: Aber die Union macht nicht mit.
    Andrea Nahles, SPD, und Gerhard Schröder stehen vor der Kuppel des Reichstagsgebäudes.
    Andrea Nahles, SPD (r.) und Gerhard Schröder (Hauptstadtstudio) (Deutschlandradio / Ansgar Rossi)
    "Vorrangprüfung aussetzen"
    Nahles: Das ist leider so. Zurzeit sind wir noch in Gesprächen. Es gibt natürlich aber auch nicht nur Sorge bei dem Koalitionspartner, sondern durchaus auch bei den Gewerkschaften, die ich auch ernst nehme. Wir haben die Vorrangprüfung ja nicht aus Chuzpe entwickelt, um die Leute zu ärgern, sondern weil es ja auch immer noch Menschen, arbeitslose, arbeitsuchende Menschen in Deutschland gibt. Und es ist erst mal legitim zu sagen, dass die einen Vorrang haben. Aber in der jetzigen Situation werden die Beamtinnen und Beamten der BA mit aufwendigen Prüfverfahren lahmgelegt, dann in ihrer Arbeitskapazität, wo am Ende im großen Teil gar keine Ablehnung steht, sondern wir können das auch beweisen, wir haben genügend Zahlen, dass in der überwiegenden Anzahlen der Fälle am Ende trotzdem ein "Go" gegeben wird. Das heißt, man kann trotzdem den Flüchtling beschäftigen, es dauert aber einfach und man bindet Kapazitäten. Deswegen war mein Vorschlag, nicht grundsätzlich eine Abschaffung der Vorrangprüfung, aber ein Aussetzen der Vorrangprüfung in dieser akuten Situation. Dabei bleibe ich auch, das wäre klug, das würde uns allen helfen und das wäre eine vernünftige Sache.
    Schröder: Thema Ausbildung. Es gibt da eine Verbesserung: Wer eine Ausbildung anfängt, der soll zumindest für ein Jahr eine Bleibeperspektive bekommen – das kann sich dann verlängern. Viele sagen: Warum macht ihr das nicht gleich, dass das für drei Jahre oder besser noch darüber hinaus gilt, damit die Jugendlichen dann auch eine Chance haben sich hier um einen Arbeitsplatz zu kümmern? Sind Sie da nicht weit genug gegangen?
    Nahles: Also, wer hier wirklich erfolgreich in Deutschland eine Ausbildung abschließt, der muss erst mal sehr gut integriert sein, der muss ja die deutsche Sprache auch hervorragend beherrschen und der wird ja offensichtlich auch gebraucht. Und so jemanden dann wieder zurückzuschicken, ist eigentlich nicht klug, volkswirtschaftlich, menschlich sowieso schwierig. Und deswegen habe ich von Anfang an dafür plädiert, dass der erfolgreiche Abschluss einer Ausbildung hier eben auch zu einem dauerhaften Aufenthaltsstatus führt. Und ich halte das weiterhin für richtig, bin da auch einig mit der Wirtschaft. Es gibt aber auch andere Argumente, deswegen habe ich mich damit auch nicht durchsetzen können bisher. Ich bleibe dabei, ich wette sogar darauf, dass wir irgendwann da landen, aber momentan offensichtlich noch nicht.
    Schröder: Frau Nahles, Sie haben gesagt, die Arbeitslosigkeit wird im nächsten Jahr wahrscheinlich steigen, auch die Ausgaben, die Sozialausgaben werden steigen – Sie haben Berechnungen gemacht – bis 2019 auf sieben Milliarden Euro. Fürchten Sie, dass das auch dazu führen kann, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippt, das viele sagen: Das ist zu teuer, das haben wir so nicht erwartet?
    Nahles: Das hoffe ich nicht. Und ich werde auch versuchen, dagegenzuhalten. Das ist eine gute Investition in die Zukunft. Die Familien, die jetzt zu uns kommen, die sind auch sehr junge Leute mit vielen Kindern – das ist übrigens für die sozialen Sicherungssysteme auf Dauer sehr gut. Das ist zum Beispiel für die Rente mit Sicherheit keine schlechte Nachricht, wenn wir die Leute in Arbeit bringen in einem Land, das Zuwanderung braucht, händeringend nach Fachkräften sucht und das ist eben genau die Klippe. Wir müssen sie gut integrieren, dann, sage ich mal, ist das insgesamt eine Win-win-Situation und rechnet sich auch. Ja, es ist erst mal eine Menge Geld, was wir aber als Investition begreifen sollten.
    Schröder: Frau Nahles, haben Sie vielen Dank.
    Nahles: Sehr gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.