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Flüchtlingspolitik der Großen Koalition
"Auch das Verwalten können sie nicht mehr"

Der Grünen-Bundesvorsitzende Cem Özdemir hat die Große Koalition zu mehr Disziplin und Ordnung in der Flüchtlingskrise aufgerufen. Die Große Koalition beschäftige sich mehr miteinander als mit den einfachen preußischen Tugenden, sagte er im DLF. Die Bundesregierung müsse wissen, wie viele Menschen in Deutschland lebten. Laut einem Medienbericht weiß die Regierung dies aber nicht.

12.11.2015
    Der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, spricht am 17.10.2015 in Bad Windsheim (Bayern) auf dem Landesparteitag der Grünen.
    Nach Meinung von Özdemir werden die Asylrechtsverfahren verkompliziert. (picture alliance / dpa / Nicolas Armer)
    Özdemir forderte eine klare Struktur in der Flüchtlingspolitik, statt immer neuer Vorschläge, die in der Realität zerschellten. Durch das neue Asylrecht würden die Verfahren immens verkompliziert, sagte er im Deutschlandfunk. Der Berg der Asylanträge werde nicht kleiner sondern größer. Dabei müsse man schnell entscheiden, damit Flüchtlinge über ihre Zukunft Bescheid wüssten. Außerdem gebe dies Planungssicherheit.
    Özdemir ergänzte, früher habe man gesagt, die Große Koalition regiere nicht, sondern verwalte nur. Heute habe er das Gefühl, dass sie auch nicht verwalten könne. Die Bundesregierung hat eingeräumt, dass ihr die genaue Zahl der in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebrachten Flüchtlinge unbekannt ist. Das meldet die "Süddeutsche Zeitung" unter Berufung auf eine Anfrage der Grünen-Abgeordneten Renate Künast. Darin heißt es, es liege keine Gesamtübersicht vor. Nicht bekannt ist demnach auch, wie viele Menschen von den Ersteinrichtungen auf die Kommunen verteilt wurden.

    Das Interview in voller Länge:
    Doris Simon: Wer empfindlich ist in Sachen Wortwahl und Flüchtlingskrise, der sollte sich jetzt vielleicht besser die Ohren zuhalten. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat in seiner jüngsten Beschreibung der Flüchtlingskrise in Deutschland rhetorisch noch einmal nachgelegt. Auch bei anderen Zahlen gibt es keine genauen Angaben. Wie viele Flüchtlinge kommen denn weniger, wenn syrische Flüchtlinge nicht mehr Frau und Kinder nachholen dürfen und wenn sie außerdem zurückgeschickt werden können in Länder zwischen Griechenland und Deutschland, es sei denn, sie seien dort registriert? Sind es Hunderttausende oder Millionen? Auch darüber gehen die Ansichten in der Regierungskoalition weit auseinander. Nur eins ist klar, das Signal nach außen: Wir nehmen nicht mehr jeden Flüchtling, auch nicht aus Syrien. - Am Telefon ist jetzt Cem Özdemir, der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen!
    Cem Özdemir: Guten Morgen, Frau Simon.
    Simon: Herr Özdemir, war dieses Signal überfällig?
    Özdemir: Ich finde, man sollte nicht vergessen, auch bei allen Schwierigkeiten, die wir haben: Wir reden immer noch über Menschen. Das gerät mir zunehmend aus dem Blickwinkel. Früher haben wir über die Große Koalition, insbesondere den CDU/CSU-Anteil dieser Koalition immer gesagt, die regieren nicht, die verwalten nur. Heute habe ich das Gefühl, auch das Verwalten können sie nicht mehr. Ich habe gestern im Internet gelesen, dass jemand geschrieben hat, wir bräuchten eigentlich jetzt eine Große Koalition. Viele Leute haben vergessen, wir haben gerade eine Große Koalition, aber die beschäftigt sich mehr mit sich selber, wie sie sich gegenseitig aneinander abarbeiten können, als mit ganz einfachen preußischen Tugenden, nämlich Disziplin und Ordnung. Wir müssen wissen, wie viele Leute sind im Land, woher sind sie, und dafür eine Struktur herkriegen, anstatt dass ständig neue Vorschläge gemacht werden, die in der Realität dann nachher zerschellen.
    "Das Thema Krieg in Syrien muss endlich auf die Tagesordnung"
    Simon: Herr Özdemir, trotzdem noch mal draufgeschaut. Das Signal nach außen, wir nehmen nicht mehr jeden Flüchtling, war das überfällig?
    Özdemir: Wir nehmen doch gar nicht jeden Flüchtling. Man muss auch das immer wieder sagen. Die meisten Flüchtlinge sind in Jordanien, sind in den Nachbarländern wie dem Libanon, wie der Türkei. Und dass die Flüchtlingszahlen so dramatisch hochgegangen sind, hat auch damit zu tun, dass auch Deutschland nicht in der Lage war, übrigens wie andere europäische Staaten, das World Food Program angemessen zu versorgen. Wenn die Flüchtlinge kein Geld mehr haben in den Flüchtlingslagern, weil ihre Ersparnisse ausgegangen sind, weil die Lebensmittelrationen um die Hälfte gekürzt werden, was sollen sie denn machen? Sie können zurück nach Syrien, wo das Land gerade zerbombt wird, und warten, bis sie sterben, oder sie machen sich auf diese unsichere Reise, riskieren ihr Leben und kommen zu uns. Wer das nicht möchte, der muss dazu beitragen, dass die Menschen dort in der Nähe des Landes Syrien angemessen versorgt werden, und vor allem das Thema Krieg in Syrien muss endlich auf die Tagesordnung.
    Simon: Da ist man ja jetzt sehr spät, aber man ist dabei, genau daran zu gehen. Es gibt trotzdem immer mehr auch Gutmeinende, die Zweifel haben, dass wir in Deutschland das noch gut bewältigen können, wenn es so weitergeht mit den steigenden Flüchtlingszahlen, Aufnahme, Unterbringung, Bildung, Arbeit, Integration, alles das, was ja wirklich dazugehört, dass wir das ordentlich schaffen, wenn es so weitergeht. Wie sind denn in Ihrer Partei die Überlegungen, was wir da machen sollen?
    Özdemir: Wir sagen ja nicht, die sollen alle nach Deutschland und nach Schweden kommen. Das ist doch selbstverständlich.
    Simon: Sie kommen aber im Augenblick vor allem nach Deutschland, weil die anderen zumachen.
    Özdemir: Jetzt muss man natürlich dann auch, bitte schön, die ganze Geschichte erzählen. Zur ganzen Geschichte gehört dazu, als die Griechen und als die Italiener uns um Hilfe gebeten haben, weil sie damals mit den Flüchtlingen überfordert waren, haben wir ihnen die kalte Schulter gezeigt und gesagt, na ja, das ist halt Schengen, da müsst ihr jetzt klar kommen damit. Jetzt, wo die Bundesrepublik Deutschland in besonderer Weise belastet ist, haben wir damit zu tun, dass andere die Solidarität, die Europas Grundpfeiler ist, nicht einhalten. Man kann die Solidarität nicht immer dann einsetzen, wenn sie einem gerade gefällt, und dann, wenn es einem nicht so gefällt, so tun, als ob man das Wort nicht verstanden hätte. Solidarität muss in Europa für alle gelten. Wir können diese Hotspots an den Grenzen beispielsweise in Griechenland nur dann einrichten, wenn klar ist, wenn die Leute, die dort aufgenommen, registriert werden, gesundheitsüberprüft werden, dann irgendwann auch mal weiterverteilt werden. Weiterverteilt werden können sie aber nur, wenn es einen europäischen Verteilmechanismus gibt. An dem müssen sich alle beteiligen. Wer da nicht im Rahmen seiner Kräfte mitmacht, der muss dann, bitte schön, finanziell bluten.
    "Boris Palmer ist ein Solitär"
    Simon: Das ist die europäische Perspektive, die Sie beschrieben haben. In Deutschland haben jetzt die Koalitionsparteien nicht sich geeinigt, aber es ist jetzt Politik, dass es keinen Nachzug geben wird, Familiennachzug für Syrer, und dass Dublin III auch wieder in Kraft ist. Was ist aus Sicht der Grünen, die das ja kritisieren, denn der bessere Weg, um in Deutschland dafür zu sorgen, dass nicht mehr Flüchtlinge kommen?
    Özdemir: Schauen Sie, Ende Oktober betrug die Zahl der Asylanträge, die noch nicht entschieden worden sind, 328.000. Im Oktober haben wir 181.000 Flüchtlinge registriert. Im selben Zeitraum hat das BAMF gerade mal 31.600 Asylanträge bearbeitet. Das heißt, der Berg wird ja nicht kleiner, der wird größer. Durch die Maßnahmen, die jetzt beschlossen worden sind, wird dieser Berg auch größer werden, weil sie natürlich das Verfahren immens verkomplizieren.
    Simon: Es geht ja erst mal ums Signal. Tatsächlich hat es ja anscheinend wenig Auswirkung. Aber was für ein Signal würden Sie denn setzen? Kein Signal?
    Özdemir: Nein. Ich würde das Signal senden, dass wir schnell entscheiden, damit die Leute, übrigens auch die Flüchtlinge wissen, ob sie bleiben können, ob sie nicht bleiben können, und dann haben wir Planungssicherheit. Und noch mal: Das Grundproblem ist natürlich auch, dass wir dafür sorgen müssen, dass wir die Frage beantworten müssen als Abgeordnete, wer lebt hier, wo sind diese Leute, woher kommen sie, was ist mit ihrer Gesundheitsversorgung, was ist mit ihrer Registrierung. Das ist der Job der Bundesregierung. Wir können ja nicht die Regierung übernehmen. Wir sind in der Opposition. Aber ich glaube, besser als die Truppe, die da gegenwärtig regiert, würden wir das schon hinkriegen.
    Simon: Die Regierungskoalition ist ja gedrängt worden zu diesem Kurs, auch von vielen Kommunalpolitikern und Abgeordneten, die sich vor allem gegen den bisherigen Kurs der Kanzlerin gewendet haben. Es sind ja auch die ersten Töne bei Ihnen zu hören, zum Beispiel von Boris Palmer in Tübingen. Der sagt, es geht so nicht mehr. Wie sehr ist das ein Thema in Ihrer Partei?
    Özdemir: Boris Palmer ist ein Solitär. Auch Winfried Kretschmann hat sich dazu klar geäußert. Wenn er darauf hinweist, wie die Probleme in den Kommunen sind, dann spricht er da für uns alle. Wenn er allerdings sagt, dass er scheitert, dann halte ich das für falsch und teile das ausdrücklich nicht, denn das demotiviert doch all die Leute, die in ihrer Freizeit, aber natürlich auch die Ehrenamtlichen, sich einsetzen dafür, dass es klappt. Wir haben in der Politik nicht den Job, den Leuten zu sagen, macht mal, aber es wird sowieso nicht klappen, sondern wir haben den Job, dafür zu sorgen, dass es klappt. Dafür werden wir bezahlt, dafür werden wir ganz anständig bezahlt und das Nörgeln, das sollten wir denen überlassen, die sich da in Leipzig oder in Dresden oder sonst wo versammeln und die sogenannte besorgte Bevölkerung mimen.
    "Mit Nörgeln werden wir es nicht lösen"
    Simon: Sie sind davon überzeugt, Herr Özdemir, dass es auch weiterhin klappt, wenn Flüchtlinge im bisherigen Umfang nach Deutschland kommen?
    Özdemir: Noch mal: Ich bin davon überzeugt, dass es klappen kann, wenn wir endlich einen europäischen Verteilmechanismus haben, also nicht alle nach Deutschland und nach Schweden kommen, wenn wir an den europäischen Außengrenzen wieder eine Struktur haben, dass die Leute erfasst werden in sogenannten Hotspots. Das setzt aber voraus, dass anschließend auch ein Mechanismus da ist für die Verteilung. Und das Thema, über das leider offensichtlich gar niemand reden möchte, dass wir uns endlich mit der Frage beschäftigen, warum kommen diese Leute und was ist eigentlich der Beitrag Deutschlands dazu, der Europäischen Union, dass wir diese Fluchtursachen wirksam bekämpfen. Da fällt mir beispielsweise ein: die Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien. Da fällt mir ein das Thema Klimagipfel Ende des Jahres. Da fallen mir viele Dinge ein, vor allem, dass wir endlich mal über Syrien reden, die Hauptursache nach wie vor für Flucht von Menschen.
    Simon: Herr Özdemir, in ihrer Beschreibung dieses "wir schaffen das" haben die Grünen ja eine gewisse Nähe auch zur Wirtschaft, die ja in der letzten Zeit argumentiert, die Flüchtlingskrise bringt starke Herausforderungen, aber die Milliarden, die investiert werden, die werden sich bezahlt machen, Arbeitsplätze schaffen, Integration. Die Wirtschaft hat da ja einen anderen Blick als zum Beispiel die regierende Politik. Hat das vielleicht auch damit zu tun, dass die Wirtschaft gar nicht die Integrationsarbeit leisten muss?
    Özdemir: Das würde ich nicht sagen. Da macht man es sich, glaube ich, ein bisschen zu einfach. Und es ist im Übrigen auch nicht nur die Wirtschaft. Herr Grillo, der sich beim BDI klar geäußert hat, Herr Zetsche von einem bekannten mittelständischen Unternehmen aus meinem Wahlkreis in Stuttgart, aber auch Herr Hoffmann vom Deutschen Gewerkschaftsbund und die Wirtschaftsweisen jetzt gestern noch mal, die sich ja alle deutlich äußern. Wenn wir lernen aus den Fehlern der Gastarbeiterzeit, also erstens auf Sprache setzen so früh wie möglich - ich musste als Schwabe ja auch einigermaßen Hochdeutsch lernen -, wenn wir die Leute in den Arbeitsmarkt integrieren, umso absurder, dass die Vorrangregelung von Herrn Gabriel und von Herrn Seehofer immer noch nicht kassiert wurde, und natürlich auch die kulturelle Integration. Jeder, der zu uns kommt, muss wissen, er kommt ins Land des Grundgesetzes, in dem Gleichberechtigung von Mann und Frau gilt et cetera. Wenn wir das alles energisch anpacken, dann kann das auf Dauer tatsächlich auch dazu führen, dass wir das eine oder andere Problem im demografischen Wandel besser bewältigen, aber auch das muss man ehrlich sagen: Integration ist anstrengend. Integration in den Arbeitsmarkt ist nicht unkompliziert, weil nicht alles sind Chefärzte, nicht alles sind Ingenieure. Das muss organisiert werden. Und ich komme noch mal zum Ausgangspunkt zurück: Mit Nörgeln werden wir es nicht lösen.
    Simon: Cem Özdemir, der Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Vielen Dank für das Gespräch.
    Özdemir: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.