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Flüchtlingspolitik
"Turnhallen sind ein Problem"

Die Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln, Franziska Giffey, kritisiert die Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels als zu wenig greifbar. Die Kommunen bräuchten mehr Unterstützung, nicht nur bei der Unterbringung, sondern auch bei der Bildung, sagt die SPD-Politikerin im DLF.

Franziska Giffey im Gespräch mit Christiane Kaess | 09.05.2015
    Franziska Giffey (SPD), Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Neukölln
    Franziska Giffey (SPD), Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Neukölln (imago stock & people)
    "So richtig konkret ist es noch nicht geworden" - lautet das Urteil von Franziska Giffey über den Flüchtlingsgipfel von Bund und Ländern gestern in Berlin. Im Deutschlandfunk-Interview mahnt sie an, die Kommunen stärker zu unterstützen.
    Wenn Menschen massenhaft in Turnhallen untergebracht würden, sei das nicht nur für diese Flüchtlinge ein Problem, sondern auch für die Gemeinden, betonte Giffey: "Man darf die Flüchtlingsversorgung nicht ausspielen gegen die Basisversorgung der Bevölkerung. Wenn in den Turnhallen kein Schul- und Vereinssport mehr stattfinden kann, dann haben Sie ein Problem."
    Städtetag lobt Gipfel-Beschlüsse
    Die Bezirksbürgermeisterin fordert besonders bei der Bildung mehr Unterstützung für die Kommunen. Um Deutschkurse und Willkommensklassen einzurichten, seien finanzielle Mittel nötig, aber auch mehr Personal bei den Kommunen, das sich um die Organisation kümmere, sagte die SPD-Politikerin, die in Neukölln die Nachfolgerin von Heinz Buschkowsky ist.
    Der Präsident des Deutschen Städtetages, Ulrich Maly, kommt zu einem positiveren Urteil über den Flüchtlingsgipfel - bei dem die Kommunen übrigens nicht mit am Tisch saßen. Maly sagte der "Mitteldeutschen Zeitung", Bund und Länder hätten offenbar anerkannt, dass es sich bei der Versorgung der Flüchtlinge um eine gesamtstaatliche Aufgabe handele und dass die Kommunen nicht allein gelassen werden dürften.
    Auf dem Flüchtlingsgipfel im Bundeskanzleramt hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière eine Aufstockung des Personals für die Bearbeitung von Asylanträgen angekündigt. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl reagierte enttäuscht auf die Ergebnisse. Der Duisburger Oberbürgermeister Sören Link (SPD) kritisierte, dass die Kommunen nicht an dem Treffen teilnehmen durften. "Wir fühlen uns allein gelassen", sagte Link im Deutschlandfunk.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Es wurde schon länger vermutet: Die Zahl der Flüchtlinge, die dieses Jahr nach Deutschland kommt, ist höher als bisher angesetzt. Auch die Bundesregierung geht vor dem Hintergrund der weltweiten Kriege und Konflikte jetzt von etwa 450.000 Asylanträgen in diesem Jahr aus. Gestern fand im Kanzleramt ein sogenannter Flüchtlingsgipfel statt. Bund und Länder saßen dort zusammen, um zu beraten, wie mit den neuen Herausforderungen umgehen soll. Seltsam war nur, dass die, die die Hauptlast tragen, nämlich die Kommunen, nicht mit am Tisch saßen. Auch nicht dabei waren Wohlfahrtsverbände und Flüchtlingsinitiativen. Das Treffen war die Vorbereitung für eine Konferenz der Ministerpräsidenten mit dem Bund im Juni. Dort soll dann ein Maßnahmenpaket verabschiedet werden. Einzelheiten von Katharina Hamberger.
    Und mitgehört hat Franziska Giffey von der SPD. Sie ist Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Neukölln. Guten Morgen!
    Franziska Giffey: Guten Morgen!
    Kaess: Frau Giffey, ist diesen gestern besprochenen Maßnahmen nichts mehr hinzuzufügen? Kann das so durchgehen, oder hätten Sie da noch Änderungswünsche?
    Giffey: Na ja, ich sag mal, die Frage ist ja immer, wo wird es konkret? Und so richtig konkret ist es ja nun noch nicht geworden. Wir haben aber jeden Tag als betroffene Kommunen die konkreten Problemlagen. Wir haben die Menschen, die zunächst da immer untergebracht werden müssen. Aber mit der Unterbringung allein ist es nicht getan. Es ist nicht damit getan, den Leuten ein Bett zur Verfügung zu stellen in einer Sammelunterkunft und ihnen eine Essensförderung zu gewährleisten. Da gehört eben noch viel mehr dazu. Und da stehen wir schon vor großen Herausforderungen, was Schule, was Bildung, was Deutschkurse und natürlich dann auch die Perspektiven auf ein Leben hier angeht.
    "Es muss zu Verfahrensverbesserungen kommen"
    Kaess: Und Sie haben es gerade schon gesagt, wenig Konkretes ist da tatsächlich beschlossen worden. Schauen wir mal auf das, was konkret geworden ist. Es soll jetzt ein Unterschied gemacht werden zwischen Asylbewerbern mit guten Chancen auf Anerkennung, das sind zum Beispiel Menschen aus Kriegsgebieten, und denen mit schlechten Chancen, Asyl zu bekommen - da geht es vor allem um Menschen aus den Westbalkanstaaten. Hilft Ihnen das?
    Giffey: Wir haben in der Tat sehr, sehr viele Menschen aus den Westbalkanstaaten, und wir machen natürlich, auch wenn wir uns die Kinder anschauen, das gleiche wie mit allen. Sie kommen erst mal in die Schule, sie kommen dann in eine Willkommensklasse und wir haben einen unglaublichen Durchfluss. Die Kinder bleiben dann zwei, drei Wochen, dann ist das Verfahren geklärt, dann werden sie wieder zurückgeschickt. Oder vielfach ist das ja auch nicht so einfach mit dem Zurückschicken. Die Verfahrensdauern sind das eine, die Umsetzung ist das andere. Und die Frage ist ja wirklich, wenn das Verfahren dann abgeschlossen ist, gehen die Leute tatsächlich zurück? Wird dafür gesorgt, dass sie wirklich zurückgehen? Und da sehe ich wirklich Kapazitätsengpässe auch in der Umsetzung.
    Kaess: Es gibt auch Kritik daran, jetzt diesen Unterschied zu machen zwischen den verschiedenen Asylbewerbern und nicht mehr die Einzelfälle zu beachten. Können Sie das nachvollziehen?
    Giffey: Ich kann das nachvollziehen. Wir haben ja auch Menschen, die aus den sogenannten sicheren Herkunftsstaaten kommen, die genauso verfolgt und bedroht sind. Ganz besonders sehen wir das bei der Roma-Community, wo also Menschen zu uns kommen, die massiv diskriminiert worden sind, wo ein sicheres Herkunftsland noch lange nicht heißt, dass die Menschen dort auch sicher sind. Und ich denke, es ist schon wichtig, den Einzelfall auf der einen Seite anzusehen, auf der anderen Seite muss es aber auch zu Verfahrensverbesserungen kommen, das ist schon richtig.
    Kaess: Aber gerade jetzt das Beispiel der Roma, das Sie angesprochen haben. Also Sie sehen durchaus Berechtigung, dass viele von diesen Leuten auch ein Recht hätten, hier zu bleiben?
    Giffey: Man muss sich das im Einzelfall angucken. Natürlich sind die Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben, nach einer besseren Zukunft für sich und ihre Kinder. Das kann man nachvollziehen, wenn man sich das extreme Wohlstandsgefälle ansieht. Aber es gibt auch Fälle, wo wirklich massivste Diskriminierung da gewesen ist und wo nicht der Zugang zu Bildung, zu einem vernünftigen Wohnen, zu einer gesundheitlichen Versorgung da ist. Und das muss man sich sehr genau ansehen, im Detail.
    "Flüchtlingsströme nicht gegen die Basisversorgung ausspielen"
    Kaess: Sie haben ein paar Punkte angesprochen wie Wohnungsbau, Integrationskurse oder Gesundheitsvorsorge. Das wurde gestern auf dem Flüchtlingsgipfel nur angesprochen, aber auch nichts Konkretes dazu beschlossen. Was erwarten Sie?
    Giffey: Das sind natürlich in der Tat die konkreten Dinge. Wir können ja nicht die Lösung haben, dass wir die Menschenmassen in Turnhallen unterbringen. Das geht einerseits angesichts der menschenwürdigen Unterbringung der Flüchtlinge nicht. Es geht aber andererseits auch nicht, dass wir die Flüchtlingsströme ausspielen gegen die Basisversorgung der sonstigen Bevölkerung.
    Kaess: Passiert das schon? Haben Sie das Gefühl, dass das schon passiert?
    Giffey: Wenn Turnhallen belegt werden - in Neukölln konnten wir es Gott sei dank bisher verhindern, aber in anderen Bezirken in Berlin ist es geschehen. Und das ist schwierig. Sie haben bei vielen Menschen eine hohe Bereitschaft, die Flüchtlinge zu unterstützen. Aber wenn Sie an die Grunddinge der Daseinsvorsorge rangehen, wenn Schulsport und Vereinssport nicht mehr stattfinden kann, dann haben Sie ein Problem. Und es muss verhindert werden, dass dies geschieht.
    Kaess: Und es gibt einen anderen Fall in Neukölln, nämlich ein Flüchtlingsheim, für das das Land Berlin mehr als acht Millionen Euro zahlte an einen privaten Betreiber, gegen dessen Geschäftsführer dann wegen Abrechnungsbetrugs ermittelt wurde - ohnehin war das auch wesentlich mehr Geld, als ursprünglich geplant war für ein Heim, das eventuell nach zwei Jahren Betrieb schon wieder abgerissen wird. Zeigt dieser Fall das Dilemma von Wohnraum, der eben kurzfristig und unter Zeitdruck geschaffen werden muss?
    Giffey: Auf jeden Fall. Wir haben ja - die Schätzungen des Bundes im Moment für dieses Jahr sagen, Berlin 15.000 Flüchtlinge. Die eigenen Schätzungen des Landes liegen bei 20.000 bis 25.000. Es wird davon ausgegangen, dass noch 9.000 Unterkunftsplätze in diesem Jahr geschaffen werden müssen. Das ist ein enormer Druck. Es gibt Hunderte, teils über tausend Vorsprachen am Tag im Landesamt für Gesundheit und Soziales. Und der Druck ist immens, hier schnell Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen. Und das führt dann dazu, dass bestimmte Dinge nicht mehr so gemacht werden, wie sie eigentlich sein sollten. Und das führt zu solchen Entwicklungen dann. Das geht eigentlich gar nicht.
    "Enttäuschend, dass die Kommunen nicht mit am Tisch saßen"
    Kaess: Die Kommunen fordern ja mehr Geld. Das ist natürlich eine einfache Forderung. Löst das allein denn das Problem des mangelnden Wohnraums?
    Giffey: Vielfach ist das ja einfach auch wirklich eine Verfahrensbeschleunigung, die sein muss. Der Wohnraum ist nicht da. Und Sie haben ja sowieso schon in Berlin knappen Wohnraum. Es muss strukturell was verbessert werden. Und das heißt -
    Kaess: Was heißt strukturell? Also nicht nur mehr Geld?
    Giffey: Nicht nur mehr Geld. Aber die Kommunen müssen eben unterstützt werden, Dinge zu tun, die es möglich machen, besser zu organisieren. Zum Beispiel brauchen wir eben mehr Unterstützung im Bereich der Bildung. Wir haben die Menschen hier, wir müssen sie unterbringen in Willkommensklassen, die Kinder. Wir versuchen, Deutschkurse anzubieten. Dazu braucht es natürlich Ressourcen. Aber es braucht auch Personal, Menschen in der Kommune, die das alles organisieren. Und die müssen auch bezahlt werden.
    Kaess: Bund und Länder sehen oder wollen das als gemeinsame Aufgabe zusammen mit den Kommunen sehen, so ist es gestern gesagt worden. Aber die Kommunen saßen gestern im Kanzleramt gar nicht mit am Tisch. Wie glaubwürdig ist für Sie dieses Bekenntnis, wir sehen das als gemeinsame Aufgabe?
    Giffey: Erst mal ist ja gut, dass es überhaupt so einen Gipfel gab. Aber ich muss schon sagen, es ist enttäuschend, dass die betroffenen Städte in Deutschland, und es sind wirklich viele - ich spreche mit meinen Kollegen im Deutschen Städtetag, das sind überall die gleichen Problemlagen -, dass die Kommunen nicht mal mit einem Vertreter dort mit an den Tisch geholt worden sind, das ist schon ein Signal, das nicht in die richtige Richtung geht. Und ich hoffe, dass sich in der weiteren Arbeit das noch mal verändert.
    Kaess: Zum gestrigen Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt war das Franziska Giffey von der SPD. Sie ist Bezirksbürgermeisterin Berlin-Neukölln. Danke für dieses Interview heute Morgen!
    Giffey: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.