Griechenland habe viele europäische Partner, so Bastian. Aber in dem Land konzentrierten sich eben auch die zwei wichtigsten Krisen Europas: die Flüchtlings- und Migrationskrise und die Finanz- und Staatsschuldenkrise. Dafür brauche Griechenland Unterstützung. Aber auch Berlin sei in der Flüchtlingsfrage auf Athen angewiesen.
Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: Die Differenzen werden immer größer zwischen Brüssel, Berlin, Paris, London und der Türkei. Auch zwischen Washington und Ankara läuft es nicht mehr so gut, denn der türkische Präsident droht jetzt den Amerikanern: Liefert Fethullah Gülen aus oder wir werden Konsequenzen ziehen. Wieder mal eine Drohung. Härter, konsequenter gegen die Türkei vorgehen, für viele im Westen wäre das wünschenswert, aber die Türkei ist wichtiger NATO-Partner und Flüchtlingspartner und EU-Aufnahmeaspirant. Nichts da, hören wir jetzt aus Wien. Ralf Borchard berichtet.
Beitrag von Ralf Borchard: Kern fordert Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei
Aus Wien Informationen von Ralf Borchard. Der Konflikt mit der Türkei, die Flüchtlinge und die Rolle der Europäer. Eine härtere Gangart gegenüber Ankara fordern immer mehr Stimmen. Welche Folgen hätte das beispielsweise für das geschundene Nachbarland der Türkei, für Griechenland? Am Telefon ist jetzt der Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler und Griechenland-Experte Jens Bastian, der seit vielen Jahren in Athen arbeitet und lebt. Guten Tag!
Jens Bastian: Guten Tag, Herr Müller!
Müller: Herr Bastian, mehr Härte gegen Ankara, wäre das der Mega-GAU?
Bastian: Das wäre zumindest in der Konsequenz, im Alltag für Griechenland sehr schwer, denn Griechenland hat eigentlich überhaupt nicht die Mittel, weder die politische Kraft noch in der Außenpolitik die Ressourcen, um mehr Härte gegenüber der Türkei zu zeigen. Diese klare Kante, die Sie eben angesprochen haben mit Blick auf den österreichischen Bundeskanzler oder Verteidigungsminister, dafür fehlen Athen schlichtweg die Mittel. Eher ist Athen in einer Situation, es braucht die Türkei, vor allen Dingen in Fragen der Flüchtlings- und Migrationspolitik.
Müller: Ist das der wunde Punkt vor allem, die Flüchtlingspolitik, das heißt, ein Einstellen des Abkommens, ein Abbruch des Abkommens mit der Türkei hätte zur Folge, dass Griechenland in dieser Flüchtlingsfrage wieder kurz vor dem Kollaps stehen würde?
Bastian: Griechenland steht ohnehin auch mit Blick auf die Flüchtlingsfrage kurz vor dem Kollaps. Wir haben über 50.000 Flüchtlinge, die Registrierung des Asylverfahrens dauert. Es fehlt an Personal, es fehlt an Geld, an Unterbringungsmöglichkeiten. Es gibt keine mögliche Integrationsstrategie mit Blick auf Flüchtlinge und Migranten. Deswegen ist Athen in einer Situation, wo der Abbruch dieses Abkommens im Grunde genommen Griechenland wieder zu einem Transitland machen würde. Und darüber hinaus dürfen wir nicht ganz vergessen, die meisten Flüchtlinge kommen mittlerweile nicht mehr in Griechenland an, sondern wieder über Libyen in Italien.
"Die ganze Architektur dieses Flüchtlingsabkommens müsste überdacht werden"
Müller: Sie haben gerade gesagt, es fehlt an Geld, es fehlt auch an Juristen, an anderem Verwaltungspersonal, es fehlt an der Logistik, an der Organisation. Die Europäer hatten doch versprochen zu helfen. Brüssel hatte versprochen, Athen zu helfen. Hat das nicht funktioniert?
Bastian: Doch, diese Hilfe ist zum Teil auch angekommen, aber sie beruht natürlich auf Gegenseitigkeit. Sie beruht darauf, dass dann auch in Griechenland entsprechend schnell nicht nur Geld ankommt, sondern dann auch Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen werden. Und angesichts des Sommers und der Hitze muss man vor allen Dingen dann wetterfeste Zelte haben. Daran fehlt es in Griechenland. Das Militär ist mittlerweile wieder engagiert, was ein Hinweis darauf ist, dass neben der Zivilgesellschaft eigentlich nur Militär und griechische Bürgerinnen und Bürger wirklich handlungsfähig sind. Die griechische Regierung, der Flüchtlingsminister Mouzalas hat erst dieser Tage sich immer wieder in neue Widersprüche verwickelt, ob Griechenland einen Plan B brauche mit Blick auf die Türkei und die Flüchtlingsfrage. Es zeigt sich da auch, dass Griechenland politisch und auch administrativ überfordert ist. Und die ganze Architektur dieses Flüchtlingsabkommens müsste überdacht werden, und da ist Griechenland dann Frontland.
"An der Flüchtlings- und Migrationsfrage zeigt sich, wie tief die Strukturprobleme Griechenlands reichen"
Müller: Ich muss Sie das jetzt mal fragen: Ist Griechenland immer überfordert, oder liegt das an dieser Regierung?
Bastian: Nein. Im Grunde genommen zeigt sich an der Flüchtlings- und Migrationsfrage wiederum, wie tief die Strukturprobleme Griechenlands reichen, und dass sie in den vergangenen Jahren auch durch die Wirtschafts- und Finanzkrise natürlich keineswegs besser geworden sind. Es fehlt an Personal an allen Ecken und Enden. Denken Sie nur daran, zum Beispiel wenn jetzt die Flüchtlingskinder im September eingeschult werden sollen, Sprachkurse brauchen – da fehlt es an Personal. Und wenn dieses Personal vorhanden wäre, muss es ja auch bezahlt werden. Aber das hätte dann auch Folgen für das griechische Budget. Da haben die internationalen Kreditgeber ein Wort mitzureden.
Müller: Sie haben eben auf die Frage geantwortet, lässt Europa Griechenland im Stich, haben Sie gesagt: Nein, ein bisschen Hilfe ist schon angekommen. Jetzt haben wir aber griechische Politiker in den vergangenen Wochen immer wieder so verstanden, als käme zu wenig aus Brüssel. Ist da zu wenig Kooperation da, beziehungsweise sind die Zusagen tatsächlich eingehalten worden?
Bastian: Es fehlt eigentlich nicht an Kooperationsbereitschaft, aber in der Praxis zeigt sich zum Beispiel, was das Rückführungsabkommen angeht, dass Griechenland eben nur sehr zögerlich und aus meiner Sicht auch verständlich seit dem Militärputsch und dem zivilen Putsch des Diktators Erdogan natürlich sich zweimal überlegt, ob Flüchtlinge, Migranten, Asylbewerber, die abgelehnt worden sind, tatsächlich in die Türkei zurückgeschickt werden sollen. Ist die Türkei tatsächlich ein sicheres Aufnahmeland? Da gibt es ja in Europa eine enorme Debatte. Und das Land, das diese Antwort am Unmittelbarsten zu geben hätte, ist eben Griechenland.
Müller: Das Abkommen steht ja.
Bastian: Es steht weiterhin. Aber in der Praxis ist die Rückführung im Grunde genommen ins Stocken gekommen, und erst recht seit dem Militärputsch.
"Griechenland hat seit Jahrzehnten entsprechende außenpolitische Probleme mit der Türkei"
Müller: Also das heißt, die griechischen Verantwortlichen, die griechische Regierung fragt sich ernsthaft, inwieweit es legitim ist, unter humanitären Gesichtspunkten, unter Sicherheitsgesichtspunkten Flüchtlinge zurückzuführen, Flüchtlinge zurückzugeben in die Türkei?
Bastian: Da haben Sie recht, Herr Müller. Griechenland hat seit Jahrzehnten entsprechende außenpolitische Probleme mit der Türkei. Der Flugraum wird im Grunde genommen jeden Tag von der Türkei über Griechenland verletzt. Und jetzt soll Griechenland auch noch die Last dieser Rückführungspolitik tragen und fragt sich, in welches Land entsenden wir dann diese Flüchtlinge zurück, und da gibt es viele in Griechenland, die sagen, das können wir politisch und humanitär nicht verantworten.
Müller: Und welche Alternative gibt es jetzt? Denkt Griechenland, wieder in die Offensive gehen zu können, in Anführungszeichen, mehr europäische Länder überzeugen zu können, dass diese Kontingente bereit sind, aufzunehmen?
Bastian: Darum geht es im Grunde genommen seit Monaten. Das ist nicht nur das griechische Problem, sondern auch in Italien, in Ungarn, in Polen, in der Tschechischen Republik. Die Kontingentierung, die Aufnahme von entsprechenden Flüchtlingen, die ja vereinbart worden sind auf europäischer Ebene, die klappt ja nicht in der Europäischen Union. Und hier ist Griechenland wiederum in einer Situation, dass es dann die Hauptlast zu tragen hat, weil diese über 50.000 Flüchtlinge ja mittlerweile nicht mehr aus Griechenland ausreisen können in andere Zielländer, die sie eigentlich bevorzugen.
Müller: Können Sie die Zahlen – es kursieren ja unterschiedliche Zahlen – da bestätigen aus der griechischen Perspektive jedenfalls, dass es nur mehrere Hundert Flüchtlinge sind, die es bisher geschafft haben, innerhalb dieser Kontingentlösung tatsächlich in andere Länder zu kommen?
Bastian: In der Tat. Aus Griechenland sind es nach meinen Informationen nicht mehr als 400 Flüchtlinge bisher gewesen. Und diese Kontingentierung ist ja schon seit über sechs Monaten in Kraft.
Müller: Und da reden wir von 130.000, was die Brüsseler Perspektive anbetrifft.
Bastian: In der Tat, und es gibt ja dann auch Länder, wo Vorschläge kursieren, dass man denen das eventuell auch abkaufen kann. Dass sie nicht Flüchtlinge aufnehmen, aber dass sie dafür dann entsprechend eine Strafe zu zahlen haben. Aber auch das ist ja politisch bisher noch nicht durchsetzbar. Und in Ungarn haben wir demnächst ein Referendum darüber.
"In Griechenland sind geografisch gesehen die zwei wichtigsten Krisen Europas konzentriert"
Müller: Herr Bastian, wir haben mit Ihnen schon häufiger Interviews geführt, auch um uns über die wirtschaftliche, die finanzielle Situation zu informieren in Griechenland. Sie sind als Berater auch tätig gewesen, haben enge Einblicke. Wenn wir die politische Situation jetzt sehen, die Flüchtlingssituation – wir sehen nach wie vor den großen Druck der Europäer auf die Haushaltspolitik, auf die Finanzpolitik, auf die Rentenpolitik, auf die Sozialpolitik, in allen Bereichen. Gibt es für Griechenland in Europa noch einen Partner?
Bastian: Griechenland hat viele Partner in Europa, aber in Griechenland sind auch geografisch gesehen die zwei wichtigsten Krisen Europas konzentriert, nämlich die Flüchtlings- und Migrationskrise und die Finanz- und Staatsschuldenkrise. Dafür braucht Griechenland Unterstützung. Berlin ist ein solcher Partner, denn Berlin braucht Athen in der Flüchtlingsfrage. Und zum Beispiel Athen braucht Berlin in der Frage, kann man möglicherweise zu einem Schuldenschnitt in Zukunft kommen. Aus meiner Sicht gehören diese Themen zusammen, so wie Sie es in Ihrer Frage auch angedeutet haben.
Müller: Wenn Sie sagen "brauchen" – wenn ich Sie da unterbreche –, ist es auch so, dass es so ist? Sieht sich Berlin als Partner von Athen?
Bastian: In der Tat. Aus meiner Sicht ist das Verhältnis zwischen Premierminister Tsipras und Bundeskanzlerin Merkel ein inhaltlich gutes Verhältnis. Die würden eigentlich gerne mehr tun wollen. Das Problem Griechenlands liegt nicht so sehr auf der politischen Ebene jetzt gerade einzelner Persönlichkeiten, sondern schlichtweg in der administrativen Handlungsfähigkeit dieses Staates. Da sind die Ministerien, da sind die Verwaltungsbehörden schlichtweg ausgedünnt worden im Rahmen der Sparpolitik der vergangenen Jahre. Und nun muss Griechenland noch zusätzliche Herausforderungen schultern. Das ist eine Herkulesaufgabe, das es allein nicht leisten kann.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.