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Flugzeugabsturz in der Ukraine
Ein Wendepunkt in dem Konflikt

Der Abschuss des malaysischen Verkehrsflugzeugs sei nicht ein Kollateralschaden eines regionalen Konflikts, sondern ein terroristischer Akt, sagte der Osteuropahistoriker Wilfried Jilge im Deutschlandfunk. Darauf müsse auch der Kreml reagieren. Das aber falle Putin schwer, da er sich seiner politischen Alternativen beraubt habe.

Wilfried Jilge im Gespräch mit Reinhard Bieck | 19.07.2014
    Reinhard Bieck: Angela Merkel hält einen Abschuss für wahrscheinlich und so sieht es auch Barack Obama. Der Präsident geht aber noch weiter. Auch wenn der letzte Beweis noch fehlt: Obama vermutet, dass die ukrainischen Separatisten den Jet vom Himmel geholt haben und für den Tod von fast 300 Menschen verantwortlich sind.
    Wilfried Jilge, Osteuropahistoriker an der Uni Leipzig, da wird jetzt von einem Weckruf gesprochen. Aber kann der überhaupt bis zu den Verantwortlichen in Kiew, Donezk und Moskau durchdringen?
    Wilfried Jilge: Was wir mit dem Abschuss der malaysischen Maschine erlebt haben, ist kein Kollateralschaden irgendeines regionalen Konflikts, den es gar nicht geben würde, wenn er von Russland nicht angefacht oder die Unterstützung der Separatisten von Russland nicht gebilligt oder sogar gefördert worden wäre, sondern es handelt sich hier um einen terroristischen Akt, der scharf von der internationalen Gemeinschaft geahndet werden muss. Man kann jetzt hier nicht in diesem Konflikt zur Tagesordnung übergehen.
    Eine internationale Untersuchungskommission muss her
    Bieck: Aber was heißt denn scharfe Ahndung von der internationalen Gemeinschaft?
    Jilge: Na ja, es muss eine internationale Untersuchungskommission, die ja der ukrainische Präsident Poroschenko unmittelbar nach dem Vorfall auch sofort vorgeschlagen hatte, her, in der alle beteiligten Seiten ihre Bedingungen erfüllen, das heißt bedingungslos alle Dokumente und alle Dinge zur Verfügung stellen, die eine kriminalistische Untersuchung ermöglichen. Ich will übrigens da hinzufügen, die ukrainische Seite bemüht sich bereits massiv um internationale Unterstützung bei der Untersuchung.
    Bieck: Aber kommen wir doch noch mal auf Putin zu sprechen. Die Meinung der Welt, die ist ja eigentlich klar: Wenn Putin gewollt hätte, wäre die Ukraine-Krise längst beendet. Insofern ist er, unterstellt, das Flugzeug wurde tatsächlich von wem auch immer abgeschossen, für den Tod von fast 300 Menschen verantwortlich. Zwingt das den Kreml-Chef zum Handeln?
    Jilge: Ich denke, dass der Kreml-Chef schon auch geschockt ist über diese Situation, denn sie könnte einen Wendepunkt in der ganzen Geschichte bedeuten, weil es eine neuere Eskalation ist, wenn unbeteiligte Zivilisten abgeschossen werden. Putin hat dennoch meines Erachtens noch nicht genug dazu beigetragen. Jetzt müsste er eine scharfe Wendung herbeiführen, und das fällt dem Kreml schwer. Der Kreml hat sich seiner diplomatischen und politischen Alternativstrategien beraubt, indem er es vorgezogen hat, die Ukraine zu destabilisieren, um seinen Zielen der Wiederherstellung einer russischen Welt, eines nahen Auslands, das von Russland beherrscht wird, zu dienen, und hier liegt ein großes Problem.
    Den Terroristen endgültig das Handwerk legen
    Bieck: Wir sprechen ja immer pauschal von den Separatisten. Sie haben eben schon so ein klein bisschen differenziert. Sagen Sie uns doch mal: Was sind das eigentlich für Leute? Handeln sie aus Überzeugung, oder sind es zum Beispiel Hasardeure, die einfach nur eine Chance wittern, an Macht und Geld zu kommen?
    Jilge: Wir haben es, wenn wir von den Donbasser Volksrepubliken sprechen - da sprechen wir meistens ja in den Medien von der Lugansker und von der Donezker Volksrepublik -, tatsächlich mit mehreren Republikprojekten zu tun, die von unterschiedlichen Gruppen, die sich mal miteinander koordinieren, mal miteinander um Posten ringen, bestimmt sind. Das eine sind sogenannte russische Gruppen, wie zum Beispiel der selbsternannte Premierminister der sogenannten Donezker Volksrepublik, Alexander Borodai, der bereits als Polit-Technologe bei der Krim-Annexion im Spiel war. Das ist zum Beispiel einer, wie auch etwa Igor Girkin, der in Slawjansk einer der Wortführer war. Das sind Polit-Technologen, die in antidemokratischen, neoimperialen Ideenzentralen der russischen Publizistik der letzten Jahre gearbeitet haben, kreml-nahe Polit-Technologen, die sozusagen im Vorfeld des Kremls Propaganda betreiben und eine neoimperiale Politik propagandistisch unterfeuern. Und diese Leute, die man sozusagen ursprünglich mal für marginale Randfiguren gehalten hat, das sind fanatisierte Leute, die auch als Söldner gekämpft haben und die jetzt da hingehen, um diese komplizierten Republikprojekte miteinander zu koordinieren.
    Andererseits haben wir es auch mit kriminellen örtlichen Elementen zu tun, die sich schlicht um diese Volksrepublik-Regierungen scharen und die mitverantwortlich dafür sind, dass in den einzelnen, von den Separatisten beherrschten Städten der Umgang zum Beispiel mit einer pro-ukrainischen Opposition, oder mit Leuten, die einem nicht passen, von einem extremen Sadismus und von extremer Brutalität geprägt ist. Das ist eine Mischung aus Ideologen aus Russland und die pro-russischen Ideologen in der Ukraine, kriminellen Elementen und Separatisten aus Donezk und Lugansk, die sich mittlerweile radikalisiert haben.
    !Bieck:!! Nach allem, was Sie sagen, Herr Jilge, da ist mit einer schnellen Lösung nicht zu rechnen, auch wenn Sie schildern, wie im Grunde genommen sich Moskau in ein Dilemma reinmanövriert hat. Welche Gefahr geht von dieser Ukraine-Krise für uns in Mitteleuropa aus?
    Jilge: Mit dem gestrigen Abschuss hat sich endgültig gezeigt, was osteuropainformierte Sicherheitsexperten schon lange warnend gesagt haben, dass diese Pseudorepubliken im ukrainischen Osten ein massives Sicherheitsproblem für Europa und die internationale Gemeinschaft bedeuten: Einerseits, wie wir jetzt gesehen haben, weil Leib und Leben bedroht ist, wenn Terroristen hochtechnologische Waffen in die Hände bekommen, und andererseits, was sich schon länger andeutet, weil es hier zu einem Territorium kommen, oder sich ein Gebilde entwickeln könnte, also Donbass, das zu einem Loch von Korruption und organisierter Kriminalität wird, denn auch das haben die Separatisten dort eingeführt. Und insofern muss es jetzt auch darauf ankommen, Lösungen zu suchen, die diesen Konflikt nicht einfrieren, sondern endgültig diesen Terroristen das Handwerk legen, und zweitens die Souveränität des ukrainischen Staates auf diesem Territorium wiederherstellen. Denn eins ist klar: Ein Einfrieren des Konfliktes, was Putin anstrebt, würde genau eine "Lösung" bedeuten, die auf ein zweites Transnistrien hinauslaufen würde.
    Sanktionen gegen Sektoren der russischen Wirtschaft
    Bieck: Wie soll man, noch mal die Frage, diesen Terroristen, wie Sie sagen, das Handwerk legen? Die NATO schicken, oder was?
    Jilge: Was doch schon mal sehr wichtig ist: Der Sicherheitsrat muss jetzt für eine Untersuchung sorgen. Und wenn bei dieser Untersuchung herauskommt, dass eine Seite die Bedingungen nicht erfüllt, eine objektive Untersuchung zu ermöglichen, dann spricht vieles dafür, dass diese Seite für diesen Abschuss mitverantwortlich ist, und das würde, wenn es Russland betreffen sollte, Putin in eine noch tiefere Isolierung stürzen. Denken Sie daran: Putins Freunde in der Eurasischen Union, Kasachstan und Weißrussland, waren bisher ja schon extrem distanziert. Selbst China war wackelig bei den letzten Beschlüssen des Sicherheitsrates. Russland würde immer weiter in eine Isolierung getrieben. Und denken Sie auch daran: Die Sanktionen, wie wohl sie oft als zu weich bezeichnet werden, insbesondere die, die von Europa ausgehen, zeigen bereits Wirkung und zeigen, dass die russische Wirtschaft sich auf dünnem Eis bewegt. Und hier gilt natürlich weiter: Wenn es sich irgendwie andeutet, dass Putin keine konstruktive Rolle spielt, dann muss sofort mit weiteren Sanktionen gehandelt werden, und zwar diejenigen, die sich gegen die Sektoren der russischen Wirtschaft wenden.
    Bieck: Putin in der Defensive, erst recht nach dem Abschuss von MH17 – das sagt Wilfried Jilge, Osteuropahistoriker an der Uni Leipzig. Danke für das Gespräch.
    Jilge: Danke schön auch! Auf Wiedersehen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.