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Flugzeugabsturz von Chapecoense
Keiner übernimmt Verantwortung

Vor fünf Jahren stürzte ein Flugzeug mit der brasilianischen Fußballmannschaft Chapecoense in Kolumbien ab. 71 Menschen starben, sechs überlebten die Tragödie. Technisch ist die Ursache für den Absturz klar, aber Verantwortung hat noch niemand übernommen.

Von Viktor Coco | 28.11.2021
Soldaten tragen in Brasilien Särge mit den Leichen der Fußballspieler des Vereins Chapecoense Real ins Stadion, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind.
Soldaten tragen in Brasilien Särge mit den Leichen der Fußballspieler des Vereins Chapecoense Real ins Stadion, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sind. (AFP / Nelson Almeida)
"Lima Mike India 2933 mit Totalausfall, Elektronik und Sprit…" Es sind die letzten Sekunden im dramatischen Funkgespräch zwischen dem Piloten der Fluggesellschaft LaMia und einer Fluglotsin. Kurz darauf stürzt die Maschine wenige Kilometer vorm Ziel in ein schwer zugängliches Waldgebiet der Anden in Kolumbien ab.
"Was bleibt, ist die Trauer. Sehnsucht nach den all den Freunden und nach dieser so erfolgreichen Zeit", sagt Hélio Neto, einst Innenverteidiger von Chapecoense und einer der sechs Überlebenden. Der Klub aus der 200.000 Einwohnerstadt Chapecó im Süden Brasiliens erlebte damals die erfolgreichste Zeit der Vereinsgeschichte. "Und dann ist da natürlich Trauer über die Straflosigkeit. Über die Versicherungen, die nicht ausgezahlt werden. Und das von weltweit anerkannten Versicherern. Über die bolivianische Flugaufsicht, die einen Flug ohne ausreichend Sprit starten ließ."

Tödliches Spritsparen

Technisch ist die Ursache geklärt: Der Kapitän und Teilhaber der Maschine hatte auf finanziellen Druck beim Start den Treibstoff zu knapp bemessen, sich dann gegen eine Zwischenlandung entschieden und letztendlich den Notfall zu passiv kommuniziert. Der Pilot selbst hatte in einem Fernseh-Interview auf dem Rollfeld wenige Minuten vor Abflug LaMia als "Offizielle Airline" der Copa Sudamericana bezeichnet.
"Bis heute ist nicht klar, wie die Fluggesellschaft mit Chapecoense in Kontakt gekommen war. Es gab wohl eine Empfehlung…von einem Fußballverband. Aber dafür haben wir keine Beweise."

Profis mussten Geld für Sprit zusammenlegen

Fußballer Neto meint den südamerikanischen Verband CONMEBOL. In den Monaten vor dem Absturz hatte die Airline viele Teams befördert, zum Beispiel auch die argentinische Nationalmannschaft. LaMia schien die Haus-und-Hof-Fluglinie des südamerikanischen Fußballs zu werden, obwohl es bereits zu gefährlicher Treibstoff-Knappheit gekommen war. Einmal mussten gar Profis von Atlético Nacional aus Kolumbien Geld für den Sprit zusammenlegen.
Die Mannschaft von Chapecoense am 23. November 2016 vor dem Halbfinale der Copa Sudamericana gegen CA San Lorenzo de Almagro aus Argentien.
Die Mannschaft von Chapecoense am 23. November 2016 vor dem Halbfinale der Copa Sudamericana gegen CA San Lorenzo de Almagro aus Argentien. (dpa / -picture-alliance / Marcio Cunha)
Der brasilianische Anwalt João Tancredo vertritt Angehörige einiger mit der Mannschaft von Chapecoense verunglückter Journalisten: "Es gab den Verdacht, dass eigentlich die CONMEBOL den Flug gechartert und dann untervermietet habe. Aber das wurde nicht bestätigt, zumindest nicht bis heute."
Aber wurde an den Aufträgen mitverdient? In Paraguay, dem Sitz des Verbandes, ist die Investigativplattform "Sin Falta" den Verbindungen auf der Spur.
"Es gibt die Tonaufnahme einer Anhörung, in der Verbandspräsident Domínguez nach dem Co-Piloten gefragt wird, der zudem Repräsentant der Airline in Paraguay war. Domínguez antwortet vehement, dass er ihn nicht gekannt habe, und dass es eine Frechheit sei, ihn nach dieser Person zu fragen. Aber ein ehemaliger CONMEBOL-Mitarbeiter sagte uns, dass dieser paraguayische Pilot beim Verband ein und aus ging und mehrfach Treffen in der Chefetage hatte."
Für den Betreiber von "Sin Falta" –'ohne Foul' auf Deutsch – steht der Verband in der Schuld: "Es ist klar, dass weder Alejandro Domínguez noch sonst ein CONMEBOL-Funktionär am Steuer saß und die Entscheidung traf, nicht zum Tanken zwischenzulanden. Sie tragen keine direkte Schuld. Aber bei einem Flugzeugunglück gibt es auch indirekte Schuldige. Und die CONMEBOL ist einer davon, sie müssen Verantwortung übernehmen."

Ein Dutzend Rückversicherer und keine Abfindung

Das gelte natürlich vor allem auch für die Versicherer der mittlerweile aufgelösten Fluggesellschaft, so der Anwalt Tancredo: "Wir haben den Prozess gleich nach dem Unglück in die Wege geleitet. Die Verantwortlichkeit steht nicht zur Debatte, es geht rechtlich da eher um die Höhe der Abfindung. Jetzt allerdings befindet wir uns in dieser Verhandlung an einem dramatischen Punkt."
Fans von Atletico Nacional aus Kolumbien feiern die Mannschaft von Chapecoense
Fans von Atletico Nacional aus Kolumbien feiern die Mannschaft von Chapecoense (dpa picture-alliance / Kyodo / MAXPPP)
Denn nach fünf Jahren hat sich kaum etwas getan. Ein Verfahren in Brasilien ist noch nicht abgeschlossen, ein Urteil in den USA über eine Gesamtabfindung von knapp 800 Mio Euro wird vom Hauptrückversicherer Tokio Marine Kiln nicht anerkannt, in England soll nun ein neues Verfahren beginnen. Zudem sind ein Dutzend weitere Rückversicherer involviert.  
"Sie versuchen wirklich auf peinliche Art und Weise, Hürden aufzubauen, um eine Entschädigung zu verzögern. Das Ziel ist natürlich klar: Die Familien zur Erschöpfung zu bringen, damit sie jegliche Zahlung akzeptieren. Denn die wollen das auch beenden, um diese Trauer irgendwie abzuschließen", so der Anwalt João Tancredo.

"Ich danke Gott, am Leben zu sein"

Neben Neto hatten zwei weitere Spieler den Absturz überlebt. Dem Torhüter Jackson Follmann musste ein Bein amputiert werden, nur Alan Ruschel konnte weiterspielen. Hélio Neto arbeitet heute im Trainerstab von Chapecoense und verzichtete dafür sogar auf ausstehende Gehaltszahlungen.
"Ich habe fast drei Jahre lang versucht, wieder Fußball zu spielen. Aber es ging einfach nicht. Ich habe Verletzungen am Knie, am Rücken und meine Lunge wurde zerquetscht. Ich danke Gott, am Leben zu sein. Profisport wurde nebensächlich. Das Leben ist viel wichtiger als der Fußball."