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Flugzeugunglück in Südfrankreich
Baum erwartet fairen Umgang mit Angehörigen

Für die Angehörigen der Opfer des Flugzeugunglücks in Frankreich könnten bald Fragen zu einer Entschädigung durch Germanwings und Lufthansa aufkommen. Der frühere Innenminister und Opferanwalt Gerhart Baum glaubt, dass beide Airlines Vertrauen zurückgewinnen wollen. "Dazu gehört auch der Umgang mit den Angehörigen", sagte Baum (FDP) im DLF.

Gerhart Baum im Gespräch mit Dirk Müller | 26.03.2015
    Der frühere Innenminister Gerhart Rudolf Baum (FDP).
    Der frühere Innenminister Gerhart Rudolf Baum (FDP). (Imago / Müller-Stauffenberg)
    Für die Angehörigen der Opfer von Flugzeugunglücken setze sich das Entsetzen immer weiter fort, sagte Baum. Eine der quälenden Fragen sei, wie man die sterblichen Überreste eines Opfers soweit identifizieren könne, dass man wisse: "Im Sarg liegt der Angehörige."
    "Schmerzensgeld in Deutschland gering bemessen"
    Nach dem Unglück stehe die Entschädigung im Raum. "Schmerzensgeld ist in Deutschland sehr gering bemessen", sagte Baum. "Der seelische Schmerz ist in Deutschland rechtlich unterbewertet." Doch finanzielle Fragen würden sich nach der Trauer schnell einstellen, wenn der Ausfall eines Ernährers, die Kosten für das Begräbnis und Umstellungen im Alltag in der Lebenswirklichkeit ankämen.
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    Er rechne damit, dass Lufthansa und Germanwings mit den Angehörigen fair umgingen. "Beide haben ein großes Interesse daran, Vertrauen zurückzugewinnen. Dazu gehört auch der Umgang mit den Angehörigen." Auch wenn die Absturz-Ursache nicht festgestellt werden könne, müsse den Angehörigen geholfen werden.
    Angehörige hätten zudem den Wunsch zu erfahren, was wirklich geschehen ist. Denn das könne auch eine Hilfe sein, damit solche Dinge künftig verhindert werden.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Der zweite Tag nach dem Absturz der Germanwings-Maschine auf dem Weg von Barcelona nach Düsseldorf. Nach mehreren Medienberichten soll ein Pilot während des Fluges vom Cockpit ausgesperrt worden sein. Er hat dann offenbar versucht, die Tür einzutreten. Vor Ort untersuchen die Ermittler die Wrackteile. Weitere Angehörige werden heute in den Süden Frankreichs gebracht.
    Was passiert jetzt mit den Angehörigen? Alle, die es wünschen, werden psychologisch betreut, bekommen mentale Hilfe, das Trauma, den Schock, das Unbegreifliche zu überwinden. Hinzu kommt in den meisten Fällen auch eine rechtliche Seite, die Schuldfrage, die Frage nach der Verantwortung, die Frage, konnte das Unglück verhindert werden, wer hat welche Fehler gemacht. So war das auch nach der Katastrophe bei Birgenair mit 189 Toten, beim Flugzeugabsturz im Luftraum von Überlingen im Jahr 2002 mit 71 Toten und beim Concorde-Unglück im Sommer 2000, wo 109 Passagiere ums Leben gekommen sind. Die Interessen dieser Angehörigen hat unter anderem der FDP-Politiker Gerhart Rudolf Baum als Anwalt vertreten, früher Bundesinnenminister. Guten Morgen.
    Gerhart Rudolf Baum: Guten Morgen.
    Müller: Herr Baum, wie wichtig ist das für die Angehörigen jetzt, den Ort des Unglücks zu sehen?
    Baum: Das ist für viele ganz wichtig, weil das auch für sie auf Dauer ein Ort der Trauer ist. Die Gedanken kreisen um diesen Ort, was ist da passiert. Natürlich ist der Besuch der Absturzstelle auch ein weiterhin traumatisierendes Erlebnis, denn diese verstreuten Stücke, die sich weithin zeigen, wühlen natürlich wieder die Menschen auf und führen zu der Frage, was ist mit meinem Sohn, was ist mit meinen Angehörigen dort passiert. Im Grunde vermeidet man Bilder von den Opfern, von Leichenteilen, und das sollte auch hier geschehen, keine Einzelheiten. Aber der Erinnerungsprozess, der Trauerprozess beginnt jetzt bei schwer traumatisierten Menschen und der wird lange, lange andauern.
    "Sie bilden eine Schicksalsgemeinschaft"
    Müller: Wenn die Angehörigen nun vor Ort sehen - wir haben gestern zumindest ja auch aus der Luft die Fernsehbilder sehen können, die zerstörte Maschine, tausende, zehntausende, hunderttausende von Wrackteilen in kleinste Einzelteile zerlegt. Jetzt sind die Angehörigen vor Ort, sehen das Ganze dann auch entsprechend aus der Luft. Stellen die Angehörigen dann nicht noch mehr Fragen? Bleiben nicht noch mehr Dinge ungeklärt als vorher?
    Baum: Ja, das wirft neue Fragen auf und macht das ganze Entsetzliche dieses Absturzes deutlich. Es wird in solchen Fällen sehr schnell die Frage gestellt, warum ist das passiert, war das vermeidbar, wie lange haben unsere Angehörigen im Flugzeug gelitten, was ist im Flugzeug dann passiert während des Absturzes? Alle diese Fragen werden gestellt und müssen beantwortet werden. Wenn es so ist, wie jetzt vermutet wird, dass menschliches Versagen eine Ursache ist, dann wird das noch einmal eine Rolle spielen. Also nicht irgendetwas an der Konstruktion des Flugzeugs, sondern ein einfaches menschliches Versagen hat dann zu dieser Katastrophe geführt.
    Die Angehörigen müssen jetzt meines Erachtens aufgefangen werden, das geschieht ja, auch seelisch aufgefangen werden. Sie haben ein großes Interesse an der Identifizierung der Opfer und man muss ihnen auf jede Weise helfen. Sie bilden eine Schicksalsgemeinschaft und es hat sich in vielen Fällen als sehr, sehr nützlich herausgestellt, dass sie sich zusammenfinden und gemeinsam trauern, unter Anleitung von erfahrenen Psychologen.
    "Ein Anwalt hat es hier nicht mit einem normalen Rechtsfall zu tun"
    Müller: Sie sagen, die einzelnen Leichen müssen identifiziert werden, die Leichenteile. DNA-Spuren werden da ausgewertet. Sie müssen ja erst mal gefunden werden, dann müssen sie sortiert werden, das dauert Wochen, in dem Fall ja bestimmt viele Monate. Wie grausam ist das, darauf zu warten, bis dann die Nachricht kommt, wir haben Ihren Angehörigen, wir haben das Opfer gefunden?
    Baum: Ja, was ist da noch übrig von einer Leiche? Wie kann das praktisch so identifiziert werden, dass man bei der Beerdigung wirklich weiß, im Sarg ist der Angehörige? Oder wenn man sich vorstellt, da sind nur Leichenteile, die mit DNA identifiziert worden sind. Das ganze Entsetzen setzt sich fort und es ist wirklich notwendig, dass man sehr schnell mit den vielen Erfahrungen, die man inzwischen hat, arbeitet. Ich habe auch die Erfahrung gemacht bei der Katastrophe in Ramstein oder jetzt bei der Love Parade, dass man sich auf einen kontinuierlichen Prozess der Betreuung mit großer Sensibilität einstellt. Ein Anwalt hat es hier nicht mit einem normalen Rechtsfall zu tun, sondern mit schwer traumatisierten Mandanten.
    Müller: Wir sprechen mit Ihnen, Herr Baum, ja, weil Sie als Anwalt die Interessen der Angehörigen, der Opfer in vielen Fällen vertreten haben. Ich habe das eben noch mal genannt: die Katastrophe von Birgenair, 189 Tote.
    Baum: Das war ein Ferienflieger.
    Müller: Dann Überlingen, die große Katastrophe im Luftraum von Überlingen, 71 Tote, 2002 war das. Dann das große Concorde-Unglück, 109 Passagiere sind da im Sommer 2000 in der Nähe von Paris umgekommen. Sie haben als Rechtsanwalt dann sich engagiert, haben die Interessen der Menschen dort vertreten. Waren Sie da mehr Psychologe als Anwalt?
    Baum: Ja, ganz eindeutig. Man muss sich den Menschen sehr intensiv widmen. Sie haben viel zu sagen, man muss ihnen zuhören. Sie sind wie gesagt in erster Linie gar nicht daran interessiert, jetzt Entschädigungsfragen geklärt zu bekommen, sondern sie wollen einfach, dass jemand ihnen zuhört und ihnen das Gefühl gibt, er hilft ihnen. Und zur Hilfe gehören natürlich dann auch die materiellen Fragen. Es gibt eine Soforthilfe nach dem internationalen Luftverkehrsrecht ohne Klärung der Schuldfrage. Und dann gibt es die Regeln, die Geschäftsbedingungen der Germanwings. Es gibt internationale Luftfahrtsregelungen und es gibt verschiedene Schadensfälle, Schadensgruppe, die rein materiellen Schäden, was ist verloren gegangen. Nehmen wir mal an, ein Ernährer einer Familie fällt weg, das ist ein Schaden für die Familie, der ausgeglichen werden muss. Die Arztkosten: Die Arztkosten können jahrelang zu Buche schlagen. Man spricht von posttraumatischen Belastungssyndromen, die auftreten. Das hat man jetzt sehr viel genauer erforscht. Dann aber auch das eigentliche Schmerzensgeld, das in Deutschland sehr gering bemessen wird. Der Schmerz, der entstanden ist durch den Verlust eines nahen Angehörigen, der seelische Schmerz, das alles muss in Ruhe geklärt werden.
    "Bei uns ist der seelische Schmerz in der Rechtsprechung deutlich unterbewertet"
    Müller: Ganz kurz dazu, um ganz sachlich zu werden. Sie sagen, das ist in Deutschland kein besonders großer Wert. Können Sie uns da eine Orientierungsmarke geben, eine Zahl?
    Baum: Nein, das ist sehr schwer möglich. Das ist eine Frage der Rechtsprechung im einzelnen Fall. Jedenfalls eine Orientierung kann ich dahin geben, dass diese horrenden Summen, die die Amerikaner in solchen Fällen den Opfern zusprechen, in Deutschland keine Rolle spielen. Bei uns ist der seelische Schmerz in der Rechtsprechung deutlich unterbewertet.
    Müller: Herr Baum, wir haben über Ihre Rolle gesprochen als Anwalt und haben gesagt, Sie müssen sehr stark Psychologe sein. Kommt dann irgendwann, wann auch immer definiert, der Tag X, wo Sie sagen, jetzt müssen wir Tacheles reden, jetzt müssen wir ganz sachlich bleiben, jetzt müssen wir genau taxieren, ausrechnen und fordern, was den Angehörigen zusteht?
    Baum: Ja, das kommt, und die Lebenswirklichkeit kommt natürlich auf die Angehörigen zurück. Sie müssen weiterleben, sie müssen mit veränderten Lebenssituationen fertig werden, und das beginnt schon mit den Begräbniskosten und mit Umstellungen im täglichen Leben. Das kommt dann sehr schnell und dann muss wirklich schnell geholfen werden.
    Nehmen wir mal an, die Unfallursache kann nicht genau festgestellt werden, dann muss trotzdem geholfen werden, und die Versicherer, die ja alle irgendwo miteinander verknüpft werden, müssen das später unter sich ausmachen. Im Vordergrund steht, dass man alles, was jetzt möglich ist, so schnell wie möglich auch tut und berücksichtigt, in welcher schlimmen Situation die Menschen sind, weil ja dieses Unglück ihnen Tag für Tag vor Augen ist.
    "Das alles muss man in Ruhe aufklären"
    Müller: Ich bin bei Ihrer zweiten Antwort nicht genau darauf eingegangen, als Sie gesagt haben, wie es im Moment aussieht, möglicherweise menschliches Versagen, mit Fragezeichen. Wir haben die Zahl gefunden, 70 Prozent aller Unfälle im Luftraum gehen auf Pilotenfehler zurück. Sie sagen jetzt, möglicherweise menschliches Versagen, beziehen sich dabei jetzt auf die Meldungen, die wir heute Morgen auch in den Medien und auch bei uns finden, wonach der zweite Pilot nicht anwesend war im Cockpit, vielleicht in der entscheidenden Situation?
    Baum: Ja, darauf beziehe ich mich. Aber ich bin sehr vorsichtig. Man sollte sich nicht festlegen. Möglicherweise ist es eine Verkettung von Umständen. Warum ist dann der Pilot, der im Cockpit geblieben ist, handlungsunfähig gewesen? Das alles muss man in Ruhe aufklären. Aber ich kann mir vorstellen, eine komplizierte Situation im Luftraum etwa, die schwer zu beherrschen gewesen wäre, wäre etwas anderes als ein solcher Fall, wo möglicherweise der Pilot auf die Toilette gegangen ist und dann nicht mehr ins Cockpit gekommen ist. Das ist unglaublich schwer vermittelbar.
    Müller: Gehen Sie davon aus, wenn beide Flugschreiber gefunden werden - einer ist ja da, der zweite fehlt noch mit den technischen Aufzeichnungen -, dass das zu einer ganz klaren Klärung führen kann?
    Baum: Ja, ich glaube schon. Die Untersuchungsmethoden haben sich inzwischen so verfeinert. Man hat Erfahrungen und der ganze Ablauf des Fluges ist ja dokumentiert, dass die Maschine fast mit Reisegeschwindigkeit da zerschellt ist. All diese Einzelheiten kennt man. Ich gehe schon davon aus, dass man das rekonstruieren kann, und ich möchte wünschen, dass das geschieht, weil das ist ein dringender Wunsch nach meiner Erfahrung der Hinterbliebenen zu erfahren, was ist wirklich geschehen, und auch der Wunsch, es soll das alles nicht umsonst gewesen sein, wir möchten, dass solche Dinge künftig verhindert werden.
    Müller: Herr Baum, ich habe noch viele Fragen, wir haben nur noch eine halbe Minute. Das möchte ich ganz kurz fragen: Gehen Sie davon aus, in einer solchen Situation, Germanwings und Lufthansa als Airline, als verantwortliche Airline, dass beide fair umgehen auch in einem Verfahren?
    Baum: Ich glaube schon. Nach meinen Erfahrungen ist das auch in früheren Fällen geschehen, auch mit anderen Luftverkehrsgesellschaften. Die haben ein großes Interesse daran, wieder Vertrauen zu gewinnen, und dazu gehört der Umgang mit den Hinterbliebenen.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der FDP-Politiker und Rechtsanwalt Gerhart Rudolf Baum. Danke für das Gespräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.