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Forschungsmethoden
Wie die IT die Geisteswissenschaften verändert

Ob nahezu alle Entstehungsmanuskripte von Goethes "Faust" in digitaler Form oder eine interaktive Karte, die Wanderbewegungen historischer Musiker nachzeichnet: Auch die Geisteswissenschaften entdecken die Vorteile computergestützter Methoden immer mehr für sich. Das führt zum Teil zu einer ganz neuen Sicht auf altbekannte Forschungsinhalte.

Von Eva-Maria Götz | 17.07.2014
    Zwei Laptops stehen sich gegenüber. Hände tippen darauf.
    Forscher Fotis Jannidis: "Es kommt eine neue Möglichkeit des Fragen Generierens dazu." (picture alliance / dpa - Aliisa Piirla)
    "Die digitale Faust-Edition wird ein digitales Archiv aller "Faust"-Editionen zur Verfügung stellen, In Wirklichkeit sind die Manuskripte zum "Faust" über die ganze Welt verstreut, 80 Prozent sind in Weimar, und so weiter. Wir werden jetzt dem Forscher die Möglichkeit geben, alles an einem Ort zu haben",
    erzählt der Würzburger Literaturwissenschaftler Prof. Fotis Jannidis. Die "Faust"-Edition im Internet ist ein Projekt der Goethe Forschungsstelle Freies Deutsches Hochstift in Frankfurt, des Goethe und Schiller Archivs in Weimar und der Universität Würzburg, in der erstmals alle bekannten Handschriften des Dramas mit Transkriptionen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
    "Und nicht nur der Forscher, sondern auch der interessierte Laie kann die Manuskripte auf seinen Bildschirm rufen, und dann daneben die Transkription sehen, kann nachverfolgen, wie Goethe den Text geschrieben hat, dann gelöscht, kann nachvollziehen, wie sich einzelne Verse dann verändert haben. Und wir hoffen, dass das Interesse an diesem Werk, dass ja eines der wichtigsten der deutschen Literatur ist, das Interesse an der Genese dieses Werkes, das ja über 50 Jahre entstanden ist, auch in neuen Forschungsergebnissen dann münden wird."
    Computer weist auf neue literaturwissenschaftliche Zusammenhänge
    Seit 2009 lehrt Fotis Jannidis nicht nur Neuere Deutsche Literaturgeschichte, sondern hat an der Universität Würzburg auch einen Lehrstuhl für Computerphilologie inne und gilt als einer der bedeutendsten Vorreiter der Digital Humanities in den Geisteswissenschaften. Die Vorteile der computergestützten Forschung liegen für ihn klar auf der Hand:
    "Ich entdecke plötzlich Texte ganz neu, vor allem andere Texte, die ich noch nie im Blick hatte, weil mir die Software sagt, du, da gibt es eine Ähnlichkeit zwischen dem Text und einem, der mir sehr vertraut ist, weil ich den schon kenne. Es lenkt einfach den Blick auf Lücken. Wir müssen uns klar sein, dass wir durch die starke Kanonisierung in den Geisteswissenschaften, also dem Fokussiertsein auf eine kleine Gruppe von wichtigen Texten, wir ganz vieles nicht gesehen haben.
    Und das wird jetzt vielleicht sichtbarer werden."
    Die Möglichkeit, mithilfe speziell entwickelter Software über den engen Tellerrand der eigenen Bibliothek oder der veröffentlichten Print- Ausgaben hinauszusehen, sondern auch Zugriff auf bisher unerreichbares Archivmaterial in aller Welt zu haben, verändert jedoch nicht nur die Arbeitsweise, sondern eröffnet auch neue Forschungsinhalte. Fotis Jannidis:
    "Wir können die ganze Bandbreite beobachten, dass Menschen innerhalb der Digital Humanities Fragestellungen, die es bereits in den Geisteswissenschaften gab, aufgreifen und weiter verfolgen. Aber wir sehen zunehmend, dass die Datenanalyse von sich aus Strukturen sichtbar macht, die wir vorher nicht gesehen haben, und die jetzt wiederum interpretationsbedürftig sind. Dass wir unterscheiden können zwischen einem datengetriebenen Vorangehen und eher von einem fragestellung-getriebenen Vorangehen. Das datengetriebene Vorangehen zeigt mir: Ich habe zuerst eine Struktur, dann stelle ich Hypothesen auf, die wiederum kann ich dann prüfen. Das sind sozusagen Dinge, die sich ergänzen, aber es kommt eine neue Möglichkeit des Fragen Generierens dazu. Vielleicht Barock aus Früher Neuzeit (habe ich im Archiv)."
    Interaktive Karte soll Wanderbewegungen früherer Musiker aufzeigen
    Ein Beispiel für diese neue Möglichkeit des Fragens und Forschens ist das internationale Projekt "Music Migration", das die Wanderbewegungen der Musiker im Europa der Frühen Neuzeit in räumlicher und zeitlicher Hinsicht untersucht.
    "Die Musiker, die wanderten, haben ja bestimmte Fähigkeiten mitgebracht, haben ein bestimmtes Repertoire transportiert. Dadurch wurden dann bestimmte Fähigkeiten, bestimmt Stile verbreitet, was einerseits für die musikalische Entwicklung von Interesse ist, aber andererseits auch zeigt, wie global die kulturelle Verbreitung von Stilen gewesen ist. Wir denken, dass man dadurch nachvollziehen kann, wie sich eine europäische Identität entwickelt hat",
    meint Prof. Bertold Over, der von der Universität Mainz aus als Musikwissenschaftler an dem Forschungsverbund "Music Migration" beteiligt ist, dem von deutscher Seite aus noch die Berlin Brandenburgische Akademie der Wissenschaft angehört. Ziel ist die Erstellung einer Datenbank mit interaktiver Karte, auf der nicht nur Reiserouten und Ziele, sondern auch die politisch-gesellschaftliche Anziehungskraft der jeweiligen Städte und Höfe sowie die musikalischen Stile und ihre Einflüsse und Verbreitung dargestellt werden.
    Die Möglichkeit der Vernetzung ist eine der attraktiven Merkmale digitaler Arbeit, meint auch Professor Ulrich Breuer, Literaturwissenschaftler an der Universität Mainz.
    "Digitale Editionen können Netzwerk-Charakter annehmen, das hat ganz wichtige Folgen für das Medium Brief, das ja immer eine private, persönliche Mitteilung ist, eines Schreibers an einen Adressaten. Und man kann jetzt die anderen Adressaten, die dieser Schreiber auch alle noch bedient hat, miteditieren und könnte das vernetzen mit den Kontakten, die einer dieser Schreiber seinerseits an Kontakten gehabt hat."
    Das wäre zum Beispiel für die Romantik von außergewöhnlicher Aussagekraft, weil die Romantik durch Briefe wesentlich gekennzeichnet ist, ihre Kommunikation durch Briefe geregelt hat.
    Auch die Schlegel-Gesamtausgabe, deren Herausgeber Ulrich-Breuer ist, profitiert: Ungenauigkeiten, die Professor Breuer von seinen Vorgängern in den ersten Bänden übernommen hatte und wegen denen die Edition in Fachkreisen in die Kritik geriet, können in der elektronischen Version korrigiert werden. Ein neue Printausgabe würde heute wohl kein Verlag mehr finanzieren. Und auch die Bände, die noch erscheinen werden, wird es als E-Book geben. Editionen, so Ulrich Breuer, werden auf diese Weise zu einer Art Work-in-Progress werden, immer offen für neue Anregungen, Frage- und Richtigstellungen.
    "Insbesondere diese Forderung, dass es darum geht, Wissen zu kategorisieren und dann Hypothesen auch im Rechner abbilden zu müssen, setzt einen Diskurs in den Geisteswissen - oder in dem Fall in der Archäologie in Gang, der sehr, sehr hilfreich ist, das ist meine Erfahrung. Umgekehrt ist das ein sehr komplexes Feld, was auch die Informationstechnik nicht aus dem Ärmel schüttelt, sondern wo auch dort sehr intensiv Entwicklungsarbeit gemacht werden muss."
    Von Haus aus ist Kai-Christian Bruhn Archäologe, doch seit Jahren hat er sich auf Geoinformatik und Vermessung spezialisiert. Er sieht durch die Möglichkeiten der 3D- Bildanalyse neue Chancen, geisteswissenschaftliche Forschungen auf mehreren Ebenen zu verknüpfen. Beispielsweise im Projekt HiGeoMes, das, gefördert von der französischen und der deutschen Forschungsgemeinschaft, Bezüge zwischen Orten, die in den altbabylonischen Texten erwähnt sind und der Erdoberfläche, wie sie sich heute zeigt, herzustellen will.
    "Wir versuchen, das Wissen, das die Texte beinhalten, am Computer so aufzubereiten, dass wir das Wissen, das wir von der Erdoberfläche über archäologische Prospektionen haben, in einer Karte darstellen und eine politisch-gesellschaftliche Geografie Obermesopotaniens im 2. Jahrtausend vor Christus nachzeichnen zu können."
    Die dafür notwendige Informationstechnik und die Software sind bereits vorhanden, anders als andere geisteswissenschaftliche Bereiche arbeitet die Archäologie schon länger mit Methoden der Messtechnik. Woran es noch mangelt und was zur Zeit auch vom Bundesforschungsministerium mit Hochdruck gefördert wird, ist die Ausbildung der Wissenschaftler im Umgang mit den neuen Methoden und Studieninhalten. 16 Universitäten, darunter Würzburg, bieten mittlerweile einen Studiengang Digital Humanities an, der den von Haus aus der Mathematik und Informationstechnik vielleicht nicht unbedingt zugeneigten Geisteswissenschaftler in Spe die Chancen digitalen Arbeitens vermitteln soll. Fotis Jannidis:
    "Der Inhalt betrifft Textcodierung, Datenmodellierung, es geht also um die Frage: Wie kann ich eine digitale Edition erstellen, wie kann ich eine Textsammlung aufbauen, mit der ich in der Literaturwissenschaft oder in der Geschichtswissenschaft eine Forschungsfrage beantworten kann? Wie muss ich die aufbereiten und welche Methoden gibt es, die aufzubereiten?"
    Der neue Umgang mit Texten wird künftig auch die Ausgestaltung und die Funktion der Bibliotheken und deren Rolle bei der Forschung nachhaltig verändern.
    Doch bei aller Euphorie über den Einzug der Technik in die Geisteswissenschaften warnt Fotis Jannidis davor, neue und alte Arbeitsmethoden gegeneinander auszuspielen. Im Gegenteil:
    "Die Ergebnisse von digitalen Methoden ergeben wiederum Strukturen. Ich sehe Bilder, ich sehe Cluster. Um das interpretieren zu können, muss ich historisches Wissen haben. Historisches Wissen, das ich nur auf traditionelle Art und Weise erworben haben kann. Das bedeutet, das schließt sich nicht aus, sondern ergänzt sich, digitale Methoden sind eine Ergänzung. Ein Wechselspiel zweier Kompetenzen. Ob diese Kompetenzen bei einer Person sein müssen, oder ob es sich um Forschungsverbünde handeln kann, ist etwas anderes."