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Francesca Melandri: "Alle, außer mir"
Zeit der Grausamkeit

Eine Familiengeschichte, die aus der italienischen Provinz über Rom bis nach Äthiopien führt, ein Kriegsroman, der von den Giftgasangriffen der faschistischen Armee erzählt, und schließlich Milieustudien der Berlusconi-Epoche. Melandri gelingt ein facettenreiches Italien-Porträt.

Von Maike Albath | 29.07.2018
    Buchcover: Francesca Melandri: "Alle, außer mir"
    Koloniales Erbe trifft auf linksliberales Milieu (Buchcover: Verlag Klaus Wagenbach, Hintergrundfoto: Gerda Bergs)
    Ilaria Profeti ist außer sich. Eine drückende Hitze liegt im August 2010 über Rom, überall gibt es Straßensperrungen, ihr Auto wurde abgeschleppt. Entrüstet stapft die Lehrerin die Stufen zu ihrer Wohnung bis in den sechsten Stock hinauf, mit der Aussicht, am nächsten Tag irgendwo in einem Vorort, der mit öffentlichen Verkehrsmitteln kaum zu erreichen ist, ihren Panda auslösen zu müssen. Wie immer in der komplett dysfunktionalen Metropole hatte man die Einwohner nicht von dem Halteverbot informiert. Der Grund für den Ausnahmezustand: Ein Staatsbesuch. Premierminister Silvio Berlusconi erwartet seinen Busenfreund Gaddafi aus Libyen. Ilaria selbst erwartet eigentlich niemanden.
    "Als sie die letzte Treppe erreicht, sieht sie oben auf der vorletzten Stufe den Besucher sitzen. Noch bevor sie bei ihm ist, beginnt er zu reden. 'Entschuldigung. Hallo. Wohnt hier Attilio Profeti?' Im Halbschatten fällt Ilaria als erstes seine Hautfarbe auf, die von der gleichen Tönung wie die alten Holztüren zu beiden Seiten des Treppenabsatzes ist. Er hat violette Lippen. Lange Beine, so dünn wie Strohhalme. Das Trikot eines berühmten Erstligaspielers. Er sieht aus wie fünfundzwanzig, vielleicht auch jünger. 'Wer bist du?', fragt sie. 'Ich suche Attilio Profeti.' Ilaria zeigte auf die Wohnung des Bruders, ihrer gegenüber. 'Er wohnt dort.' 'Lebt er noch?' 'Natürlich lebt er noch!' 'Dann hat er einen Raben gegessen!' Ilaria runzelt die Stirn. Er erklärt geduldig lächelnd: 'Das heißt, er ist sehr alt.' 'Mein Bruder ist dreißig. Der Attilio Profeti, den du meinst, ist mein Vater und wohnt nicht hier. Und wer bist du?'"
    Bisher war Ilaria Profetis Leben überschaubar und mehr oder weniger typisch für Italien und ihr linksliberales Milieu. Ihren Beruf übt sie mit Leidenschaft aus, eigene Kinder hat die Zweiundvierzigjährige keine, dafür einen Geliebten namens Piero, der allerdings ein hoher Funktionär in Berlusconis Partei ist und politisch das Gegenteil von dem vertritt, wovon sie überzeugt ist. Auch deshalb hält sie diese Liaison lieber geheim. Piero ist ein Kindheitsfreund aus einer traditionsreichen römischen Familie; sein Vater war der Inhaber der Baufirma, bei der Ilarias Vater Attilio Profeti eine rasante Karriere machte. Mittlerweile Mitte neunzig und dement, wird Attilio von seiner zweiten Frau Anita umsorgt. Der afrikanische Besucher allerdings setzt Ilarias bewährte Selbstwahrnehmung außer Kraft.
    "'Ich heiße Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti.' 'Wie?' 'Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti.' Ilarias Kopf neigt sich zur Seite. Auf ihrer Stirn erscheinen vier Querfalten. 'Hör mal, wenn du mich auf den Arm nehmen willst…' 'Nein. Das will ich nicht.' Sein Italienisch ist fast akzentfrei, nur seine Ts klingen tiefsonor wie von einer Trommel. Ilaria versucht die letzten Reste von Geduld zusammenzuraffen, die dieser schreckliche Tag ihr noch gelassen hat. 'Alles klar. Du hast auf den Namen am Klingelschild geguckt. Aber was dich dazu gebracht hat, alle die Stufen hochzukommen, verstehe ich nicht. Los jetzt, verschwinde.' 'Ich heiße Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti', wiederholt er ohne eine Spur von Ungeduld oder Kränkung in der Stimme. 'Wenn Attilio Profeti dein Vater ist, dann bist du meine Tante.'
    Ein afrikanischer Neffe
    Ein Paukenschlag – und eine glänzende Eröffnung für einen Roman, der die letzten 120 Jahre italienischer Geschichte in den Blick nimmt, ein Familienpanorama über drei Generationen auffächert und bis nach Addis Abeba führt. Die Verwicklungen zwischen Libyen und Italien unter Berlusconi kommen ebenso vor wie Mussolinis martialischer äthiopischer Eroberungskrieg mit Giftgas von 1935. Ausgeleuchtet werden dabei vor allem die Grauzonen, die Bezirke, in denen die Machtverhältnisse verschwimmen. Alle, außer mir heißt das dickleibige Buch der römischen Schriftstellerin Francesca Melandri, die 1964 geboren wurde, sich als Drehbuchautorin und Dokumentarfilmerin einen Namen machte, 2010 ihr literarisches Debüt vorlegte und mit ihrer Heldin Alter und Herkunft teilt.
    Diese Ilaria soll also nun einen afrikanischen Neffen haben? Der junge Äthiopier konfrontiert die Lehrerin mit der Vergangenheit ihres Vaters, die sehr viel enger mit den politischen Brüchen und Abgründen Italiens verknüpft ist, als sie es je geahnt hätte. Und es ist das zweite Mal, dass Ilaria eine Häutung des geliebten Vaters verkraften muss: Als Heranwachsende hatte Attilio ihr die Existenz einer zweiten Frau samt Sohn eröffnet und sie in einen tiefen Loyalitätskonflikt gestürzt. Immerhin entwickelte Ilaria zu ihrem Halbbruder, der denselben Namen wie sein Vater trägt und mit Segeltouren sein Geld verdient, eine engere Beziehung als zu ihren älteren Geschwistern. Attilio Junior hält auch jetzt zu ihr. Denn nun kommt wieder ein ganz anderer Vater zum Vorschein: Attilio Profeti Senior hatte sich freiwillig zu den Schwarzhemden gemeldet, als Rassenforscher gearbeitet und an Feldzügen und Vergeltungsmaßnahmen teilgenommen. In einer Schachtel, die ihre Mutter Marella nie geöffnet hatte, stößt Ilaria auf alte Luftpostbriefe. Während Attilio in Rom den großmütigen Patriarchen mimte, berichtete sein äthiopischer Sohn dem "Signor Vater" von seinem Schulbesuch und vermeldete seinen Studienabschluss.
    Sittengemälde und Reise in die dunkelsten Regionen der Geschichte
    Melandris Roman, der zunächst wie eine Mischung aus bewegter Familiensaga im Berlusconi-Zeitalter und Sittengemälde mit soziologisch treffenden Genrebildern daherkommt, wandelt sich immer stärker in eine Reise in die dunkelsten Regionen der italienischen und äthiopischen Geschichte. Die Blutspur des Kolonialismus zieht sich bis in die Gegenwart. Um ihren Stoff in den Griff zu bekommen, arbeitet die Autorin mit verschiedenen Zeitebenen, Handlungssträngen und Schauplätzen und verteilt die Geschehnisse auf mehrere Hauptfiguren, flankiert von einer Fülle von Nebenfiguren.
    Sie wechselt beständig den Blickwinkel, durchbricht die Chronologie und kontrastiert das selbstgefällige Rom des Wirtschaftswunders der 50er Jahre mit dem verheerten Addis Abeba während der Besatzung, die Kleinstadt Lugo in der Romagna während des Faschismus mit dem verwüsteten Äthiopien unter General Mengistu Mitte der 80er Jahre. Über viele Kapitel wird Attilio Senior zum zentralen Protagonisten. Er ist nicht nur charmant und gewinnend, sondern weiß auch genau, wie er aus seinem Wissen um die Geschehnisse in der Kolonie Profit schlagen kann. Als die enorm erfolgreiche Baufirma Casati, bei der er beschäftigt ist, wegen einer verkaufsunwilligen Großgrundbesitzerin dringend die Unterstützung eines Richters benötigt, sucht er den Mann am Sonntag Zuhause auf. Ihm öffnet die Tochter des Hauses, und Attilio erkennt in ihrer strahlenden Schönheit sofort eine sorgsam camouflierte äthiopische Herkunft. Die junge Frau führt den Besucher zu ihrem Vater auf die Terrasse.
    "'Woher, sagten Sie, kennen wir uns? Addis Abeba?' 'Ja, vom Gericht. Ich war einer ihrer Angeklagten.' Der Richter unterbrach die Düngung seiner Blumen und sah Attilio an. Einen Augenblick ließ er seinen Blick auf ihm ruhen, bis ein winziges Augenzucken verriet, dass er ihn erkannt hatte. 'Clara, geh hinein. Und schließe die Tür hinter dir.' Attilio drehte den Kopf zu dem Mädchen hin und warf ihr ein entschuldigendes Lächeln zu. 'Richtig, ich würde meiner Mischlingstochter auch nicht alle Sachen erzählen.' Carnaroli verlegte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, als suchte er festen Boden. 'Warum sind Sie gekommen? Was wollen Sie?' 'Eigentlich bin ich gekommen, um zu fragen, was Sie wollen, Richter. Oder was nicht. Wollen Sie zum Beispiel, dass nach einer ehrenwerten Karriere als Jurist, nur wenige Schritte vor dem verdienten Ruhestand, die Journalisten plötzlich aufdecken, dass sie jahrelang ohne mit der Wimper zu zucken Rassengesetzte angewandt haben?'"
    Dabei zählte Carnaroli zu den gemäßigteren Vertretern der Kolonialmacht. Seine eigene Tochter konnte er retten, und zahlreiche Soldaten, darunter auch Attilio, sprach er vom Vorwurf der "Rassenschande", wie der Straftatbestand damals lautete, frei. Dennoch war Carnaroli Teil eines Unrechtssystems und litt darunter. Francesca Melandri entlässt ihre Figuren nicht aus der historischen Verantwortung, aber sie zeichnet ein vielgestaltiges Bild jener Phase und bricht immer wieder Deutungsmuster und Lesarten auf. Darin liegt die große Qualität ihres Unterfangens.
    Psychogramm eines Opportunisten
    Fesselnd ist auch, wie sie in der Szene mit Richter Carnaroli Attilios Charakter Schicht für Schicht bloßlegt. Der gewandte junge Mann mit dem einnehmenden Äußeren wird immer deutlicher als das erkennbar, was er eigentlich ist: Ein gefühlloser Stratege, der sich auf Erpressung versteht und im Zweifelsfall seinen einstigen Retter über die Klinge springen lässt. Ein Opportunist, einer von denen, die in jedem System reüssieren. Damit charakterisiert Melandri ein zentrales Element der italienischen Politik: den Trasformismo, die fortwährende Verwandlung, Anpassung von Interessen und Auflösung von Oppositionen, die keine klaren Frontlinien und Positionen zulässt, sondern alles mit allem vermischt. Ein grundlegender Wandel wird dabei fortwährend unterlaufen.
    Die Kraft von Melandris Held liegt in seiner Ambivalenz – auch Attilio zeigt moralische Größe, wenn er 1985 ein einziges Mal nach Äthiopien zurückkehrt und seinen Sohn aus den Foltergefängnissen des Diktators Mengistu rettet. Attilio Profeti, schon als Kind der Augenstern der Mutter, fühlt sich als Auserwählter, dem niemand etwas anhaben kann. "Alle, außer mir" lautet die Formel seiner Selbstsuggestion, die der deutschen Ausgabe den Titel gibt. Im italienischen Original heißt der Roman Sangue giusto, "Richtiges Blut", was auf den faschistischen Rassenwahn und die Fragwürdigkeit des Ius sanguis verweist. Im Umgang mit ihren Hauptfiguren stellt Melandri ihr psychologisches Geschick unter Beweis. Ähnlich überzeugend sind ihre Fähigkeiten als Historikerin.
    Umfangreiche Archivarbeiten
    Die Autorin hat nicht nur umfangreiche Archivarbeiten und Recherchen geleistet, sondern ist nach Äthiopien gereist und hat mit Zeitzeugen gesprochen. Die Passagen über den Versuch der italienischen Besatzer, den Widerstand der Äthiopier zu brechen, gehören erzählerisch zu den Höhepunkten von Alle, außer mir. Unterstützt von eritreischen Soldaten, den Askaris, wollen die Schwarzhemden die Kapitulation erzwingen und räuchern die Höhlen aus, in denen sie sich die Guerillakämpfer versteckt halten.
    "Die Wachen der Rebellen sahen die Kanister mit dem Senfgas erst, als sie direkt vor ihren Nasen im Höhleneingang hingen. Sie konnten keinen Alarm mehr schlagen, das Gas explodierte direkt in ihrem Gesicht. Die Hornhaut lief ihnen über die Wangen wie Eidotter. Inzwischen schossen kleine, auf der gegenüberliegenden Seite des Steilhangs postierte Kanonen mit Arsenwasserstoff-Projektilen. In wenigen Minuten hatte sich die Luft in der Höhle in gelben, klebrigen Eiter verwandelt.
    Die Aksaris warteten mit angelegten Maschinengewehren, dass das Gas die ersten Rebellen heraustrieb. Doch zunächst gab die Höhle nur kleine schwarze Auswürfe von sich, und es dauerte, bis sie darin Fledermäuse erkannten. Sie flatterten wild im Kreis, unter spitzem Gekreische, und zerschellten am Felshang. Dann tauchte im Höhleneingang eine abgemagerte Kuh auf. Sie bewegte den Kopf ruckartig hin und her, als wolle sie die Hörner abschütteln, stampfte mit den Hufen auf die Steine, rollte die Augen, die nass und rund waren wie Flusskiesel. Als sie in die Schlucht stürzte, hallte das Echo der in die Tiefe gerissenen Steine noch lange nach, lauter als ihr Muhen. Endlich erschien das erste menschliche Wesen: eine Frau. Sie rannte nach draußen, die zu Haken verkrampften Finger in die Kleiderlumpen gekrallt."
    Attilio beherrscht das Handwerk des Krieges. Die Rebellen werden mit einem Waffenstillstandsangebot in einen Hinterhalt gelockt und allesamt hingerichtet, Frauen und Kinder inbegriffen. Melandri glücken Passagen, die ohne jeden Voyeurismus die Gewalttaten vermitteln; auch die Schilderungen der wahnhaften Rassenkunde, für die Attilio Profeti Messungen vornehmen und Tabellen ausfüllen muss, sind gespenstisch. Dass sich die römische Autorin überhaupt diesem Sujet zuwendet, ist sehr verdienstvoll und angesichts der aktuellen revisionistischen Tendenzen und Verharmlosungen Mussolinis von gesellschaftspolitischer Relevanz.
    Es war der Schriftsteller Ennio Flaiano, selbst ein Veteran des Äthiopienfeldzuges, der 1947 mit Alles hat seine Zeit als erster über die Grausamkeiten des Kolonialismus schrieb. Sein herausragender Roman wurde zwar mit dem wichtigsten Literaturpreis ausgezeichnet, stieß aber auf keine Resonanz – nach dem gerade überstandenen Zweiten Weltkrieg und dem Selbstverständnis, eine aus dem Widerstand gegen den Faschismus gegründete Republik zu sein, wollte man von den Gräueltaten italienischer Soldaten nichts wissen. Zumindest einige Vertreter der Enkelgeneration erkennen in diesem Vermächtnis auch einen Auftrag.
    Die Kolonialzeit in der italienischen Literatur
    Wie es in Somalia unter den Italienern zuging, war in den vergangenen Jahren in den Büchern der somalisch-italienischen Autorin Igiaba Scego ein Thema und stand auch im Mittelpunkt des 2012 erschienenen, eindrucksvollen Romans Timira von Wu Ming 2 und Antar Mohamed. Francesca Melandri schließt mit ihrem breit angelegten Unterfangen an diese Versuche an. Manchmal hätte die Schriftstellerin vielleicht mehr auf die Wucht ihres Stoffes vertrauen können. Dass sie die Vorgeschichte von Mussolinis Marsch auf Rom aufarbeiten will und bis in die Verästelungen von Attilios Herkunftsfamilie zurückgeht, ist ehrenwert, lenkt aber von der Brisanz ihrer Grundidee ab. Die detailreich geschilderten Biographien des Vaters Ernani und der Mutter Viola sind ermüdend und verwässern die Schärfe der vorangegangenen Kapitel. Auch die Geschicke des Bruders Otello führen eher auf Nebenpfade. Manchmal kleistert Melandri ihre Figuren mit allgemeinen Psychologisierungen zu: Viola, vom Tod ihres ersten Verlobten gezeichnet, behandelt Mann und Erstgeborenen schnöde und projiziert ihren Narzissmus auf den Zweitgeborenen. Oder Marella, Attilios erste Ehefrau, mutterlos aufgewachsen, entwickelt aus übermäßiger Bedürftigkeit eine Beziehungsstörung. Das ist dann von allem zu viel: Der Spannungsbogen fällt ab, die Konstruktion gerät ins Wanken, die Handlung wird zäh und die auktoriale Erzählerstimme behäbig. Hier hätte man sich eine größere erzählerische Ökonomie gewünscht und ein reduzierteres Personal. Einzelne Figuren sind aber äußerst prägnant. Dazu zählt neben Attilio, der äthiopischen Abeba, ihrem Enkel und dem Kriegskameraden Carbone natürlich Ilaria, die nicht nur ihr Selbstbild, sondern auch das ihres Vaters korrigieren muss. Es gibt stilistische Entgleisungen, wenn Achselschweiß als "brodelndes Feuchtbiotop" bezeichnet wird oder wenn es im Bett zur Sache geht.
    "Als Ilaria mit ihrem Finger Piero erforscht, als er ihre Klitoris wie ein Bonbon in den Mund nimmt, als die Grenzen ihrer Körper nicht mehr die Haut, sondern Schleim und Säfte sind, endet jegliche Kategorisierung. Sie sind nicht länger der rechte Abgeordnete und die progressive Nervensäge, Abkömmling von Päpsten und Enkelin eines Bahnhofsvorstehers. Sie haben keine Namen mehr, nichts ist unwichtiger als ihr Geburtsort, und auch das Einkommen, der große Spalter, kann ihre Verschmelzung nicht mehr verhindern. Sie sind nicht einmal mehr Mann und Frau, nur zwei Körper, die so kompatibel sind, dass sie in der Bewegung eins werden."
    Und so geht es noch eine ganze Weile weiter. Die Mischung aus Pathos, gesellschaftspolitischer Aufladung – Sex als Bindeglied zwischen den Klassen und revolutionäres Element – und präziser Beschreibung anatomischer Gegebenheiten wirkt unfreiwillig komisch. So schön Ilarias sexuelle Eskapaden mit Piero sein mögen, man hätte lieber nicht an ihnen teilgehabt. Auch eilige Zusammenfassungen zur Abrundung von Szenen oder Allgemeinplätze wären verzichtbar gewesen.
    "Denn mit der Leidenschaft ist es auf die Dauer wie mit dem Tannin: Wenn man sie leicht verdünnt – mit Liebe, Partnerschaft, einem geteilten Leben -, macht sie die Haut schön weich. Aber im Reinzustand kann sie sehr bitter sein."
    Schade, denn an diesen Stellen gerät der Roman in eine Schieflage. Hier hätte es eines sorgfältigen, einfühlsamen Lektorats bedurft, das in Italien, zumal in den großen Häusern wie Rizzoli, wo Melandri im Original erscheint, häufig nicht mehr stattfindet. Es gibt aber auch viele packende Szenen, die lange nachklingen: Wie Attilio die Grammatik der Macht im Äthiopien der 80er Jahre durchschaut und den mächtigen Minister Mengistus beim Pokerspiel über den Tisch zieht, um so die Freilassung seines Sohnes zu erwirken. Oder wie er den Richter Carnaroli in die Enge treibt und anschließend dessen äthiopische Tochter Clara verführt. Oder wie Abebas Großmutter ein Ritual zelebriert und ihre Enkelin mit dem fremden Soldaten verheiratet. Mit ihrer Aufarbeitung des Kolonialkrieges leistet Francesca Melandri der italienischen Literatur einen großen Dienst, und Alle, außer mir ist ein wichtiger Roman. Ein Roman, der unseren Blick auf Italien verändert.
    Francesca Melandri: "Alle, außer mir"
    Aus dem Italienischen von Esther Hansen
    Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. 604 Seiten, 26 Euro.