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Francis Nenik: "E. oder die Insel"
Literarische Täter-Perspektive

Länger schon beschäftigt sich der Schriftsteller Francis Nenik damit, wie sich das gewaltsame 20. Jahrhundert literarisch greifen und begreifen lässt. Mit „E. oder die Insel“ widmet er sich nun der Rhetorik der Täterschaft im Umfeld der nazistischen Eugenik.

Von Samuel Hamen | 17.05.2021
Buchcover: Francis Nenik: „E. oder die Insel“
Francis Nenik plädiert mit "E. oder die Insel" für die Unabschließbarkeit historischen Denkens. (Buchcover: Voland & Quist, Hintergrund: Gerda Bergs)
Die Insel, Ort der Rettung, der Isolation, des Vergessens. Im April 1945 hat sich ein Mann auf einem kleinen Eiland im Gebüsch versteckt und blickt auf das Dorf, in dem er seit einigen Monaten mit seiner Familie lebt. In Leipzig arbeitet er als Arzt. Als sein Haus durch Luftangriffe zerstört wurde, bekam er eine Notwohnung zugeteilt. Jetzt hockt er auf der Insel, beobachtet mal die Dorfbewohner, mal die Natur, und führt Tagebuch:
"Im Koffer liegt ein großer Stapel Papier. Es sind die Akten, auf deren Rückseite ich diese Zeilen notiere. In meinem Kopf aber liege ich mit dir unterhalb der Mühle im Gras und spüre, wie uns die Verse verbinden."
Es könnte so schön sein, so ruhig und friedlich. Aber von der drohenden Gefahr künden nicht nur Truppenbewegungen im Dorf, sondern auch die Einträge des Mannes. Anfangs handeln sie noch von Vögeln und Bäumen, von seiner Frau Marie und den drei Kindern; erst allmählich dringen sie zum Kern vor:
"Ich muss nüchtern bleiben, ganz nüchtern und ruhig. Muss mich an das halten, was ist. Was ich weiß. Was ich sehe. Und woran ich mich erinnere. Retschky hat Marie und die Kinder entführt, daran kann kein Zweifel bestehen."
So wie sich der Nebel am Flussbett verflüchtigt, so gewinnen auch die Szenen in Francis Neniks Roman allmählich an Kontur. Retschky ist der Schulmeister und Hilfsarzt im Dorf und körperlich beeinträchtigt. Die namenlose Hauptfigur glaubt an ein Komplott gegen sich, angeleitet von diesem "Mitleid heischenden Krüppel", wie er ihn nennt.
Buchcover: Francis Nenik: "Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert. Das irrwitzige Leben des Hasso Grabner"
Francis Nenik: "Reise durch ein tragikomisches Jahrhundert"
Akribisch recherchiert und mit jeder Menge sprachlichem Übermut erzählt Francis Nenik in seinem Roman das irrwitzige Leben des lange vergessenen Antifaschisten, DDR-Wirtschaftsfunktionärs und Schriftstellers Hasso Grabner. Eine Groteske der Geschichte.

Täter-Opfer-Umkehr

Wenige Monate zuvor hatte er einer Mutter zugesagt, deren Tochter Luise, die Epilepsie hat, mit in seine Leipziger Klinik zu nehmen. Zu dem Zeitpunkt hatte Retschky sich bereits um das Mädchen gekümmert. Um sich dafür zu rächen, dass er ihm Luise entzogen hat, hat dieser nun seine Familie entführt – das jedenfalls konstruiert sich der Erzähler herbei, während er das Dorf beobachtet und allmählich verdreckt:
"Gleich werde ich mich waschen gehen, und dann mache ich mich bereit für die Nacht. Ein wenig Luminal. Nur eine halbe Tablette. Wie leicht das geht. Und wie schwer es war, als wir die Kinder damit abgespritzt haben."
Die insulare Ruhe, auch der erste Lese-Eindruck, hier einem Opfer einer Nazi-Dorfintrige beizustehen, haben sich zu dem Zeitpunkt längst aufgelöst. Denn der Mann forscht als Eugeniker und ist an der Deportation und Tötung von geistig und körperlich beeinträchtigten Kindern beteiligt:
"In dieser Woche haben wir noch drei weitere Kinder aufgenommen. Einen kleinen Jungen mit Huntingtonscher Chorea, eine Schwachsinnige von acht oder neun Jahren, und einen Fünfjährigen, der bereits klare Anzeichen einer postenzephalitischen Verblödung aufwies. Es waren kaum mehr als Standardfälle, und ich war froh, sie am Samstag alle zu Catel in die Außenstelle bringen und dort abgeben zu können."
Froh, weil er die anderen Ärzte, die am Massenmord beteiligt sind und deren Namen historisch verbürgt sind, nicht mag. Froh auch, weil er seine Forschungen voranbringen kann, allen voran durch Untersuchungen an Luise, mit der er alleine in seiner zerbombten Klinik sitzt und zu der er ein bizarres emotionales Verhältnis aufbaut.

Täterperspektive erforschen

Er ist gegen den Krieg, aber nicht aus pazifistischen, sondern aus biopolitischen Gründen:
"Wer die Gesunden und Starken nicht davon abhalten kann, in den Tod zu ziehen, muss sich den Kranken und Schwachen zuwenden, denn nur dort hat er noch die Chance, etwas zu tun, und das heißt: zu selektieren."
Als Leser ist man dazu verdammt, mit ihm auf seiner Insel, in seiner Bubble zu sitzen und seinen Manövern zu folgen. Er habe "im Sinne der Sache" gehandelt; es sei Luises "Schicksal" gewesen, von ihm behandelt, sprich: ermordet zu werden; ihre Urne sei "ein kleines Andenken", das er bei sich trage.
Die immense Kunstfertigkeit, auch der Wagemut von diesem Roman liegt darin, nicht einfach ein Monster zu portraitieren, das sich leichthin verdammen und abtun lässt. Wer die Täterperspektive erforscht, läuft Risiko, dass die kritische Neugierde sich sprachlich als Affirmation gegen das eigene Projekt wendet. Es geht hier aber keinesfalls darum, die sogenannte Rassenhygiene mit der Lust an der Grauzone zu beschreiben oder sogar hinterrücks ein faschistisches Konzept von Gesundheit zu bejahen.

Geschichte greifbar machen

"E. oder die Insel" plädiert für die Unabschließbarkeit historischen Denkens. Bertolt Brecht schreibt 1942 in sein Arbeitsjournal: "Sich mit Geschehenem aussöhnen – wozu sollte das gut sein? Da sind viele Enden an diesem Strick, an die noch angeknüpft werden muß." Die Geschichte ist kein Dossier, das sich abstempeln und versiegeln lässt, schon gar nicht ist sie eine Story über Eugenik, an deren Ende die Gräuel ästhetisch und moralisch klassiert sind, bereit für den Staub der Aktenordner und das Vergessen. Geschichte wirkt in die Gegenwart hinein und trifft dort auf uns, auf eine Leserschaft, die es sich zu oft zu einfach macht, wenn sie sich der Vergangenheit zuwendet. Dieser große Roman aber verunmöglicht Trivialität, Unbefangenheit und Ignoranz, indem er die Lektüre als notwendige letzte Etappe einer Sinn- und Urteilsbildung einfordert.
"Endlose, schlammbraune Fluten. Darin eine immer kleiner werdende Insel. Darauf ein paar Büsche. Und darin ich."
Und in diesem Ich eine Ideologie, die damals wie heute über wirksamste Verdrängungs- und Rechtfertigungstricks verfügt, über Selbstlügen und Mythologien, um das Böse als das Richtige, Hehre oder Notwendige zu camouflieren. 1995 erschien Marcel Beyers Roman "Flughunde", 2006 Jonathan Littells "Die Wohlgesinnten" – mit "E. oder die Insel" reiht sich Francis Nenik eindrücklich ein in diese Literatur, die Schuld und Täterschaft samt ihrer Rhetorik nicht bloß als historische Tatsachen erachtet, sondern sie als ambivalentes Phänomen in die Gegenwart hievt, als Problem, Aufgabe und Mahnung.
Francis Nenik: "E. oder die Insel"
Voland & Quist, Leipzig, 290 Seiten, 24 Euro.