Freitag, 17. Mai 2024

Archiv

Frank Schulz: "Anmut und Feigheit"
Der Mut der Verzweiflung

Mit seinem neuen Erzählband "Anmut und Feigheit" setzt der Autor Frank Schulz seinen Eltern ein Denkmal. Er lässt uns darin hinter die Fassade der Fiktion blicken und die Zeit rückwärts laufen. Tod und Trauer enthüllen eine neue Facette im Schreiben von Frank Schulz.

Von Maik Brüggemeyer | 29.08.2018
    Buchcover: Frank Schulz: "Anmut und Feigheit"
    Frank Schulz schreibt in "Anmut und Feigheit" unter anderem über den Tod seiner Mutter (Buchcover: Galiani Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
    "Es ist ein großer Unterschied, ob ich etwas weiß oder ob ich es liebe; ob ich es verstehe, oder ob ich nach ihm strebe." Dieses Zitat des italienischen Dichters Petrarca stellt Schulz seinen Erzählungen voran. Und noch ein zweites, es stammt vom dänischen Philosophen Sören Kierkegaard: "Man kann das Leben nur rückwärts verstehen; leben muss man es aber vorwärts."
    Damit ist "Anmut und Feigheit" sehr präzise umrissen, denn im ersten Spruch steckt das Wesen der Kunst des großen Empathikers und Erinnerungsvirtuosen Frank Schulz, im zweiten das Prinzip dieses Bandes: Die Erzählzeit läuft rückwärts. Der erste Text spielt im Jahr 2018, der letzte zwischen 1950 und 1955. Das führt unter anderem dazu, dass wir Zeuge werden, wie Schulz' literarisches alter Ego aus der Hagener Trilogie, Bodo Morten, dieser "Alkoholiker, Schädel-Hirn-Traumatiker, Migräniker", im Jahr 2014 das Zeitliche segnet. Nur um dann im folgenden Text auf quasi magische Weise von den Toten aufzuerstehen und eine Elegie auf eine Rosskastanie anzustimmen, die Mittelpunkt seines Heimatdorfes Beeckdörp und somit seiner Jugend gewesen war – bis sie 2013 von einer Infektion dahingerafft wurde.
    "Was für ein Baum! Ein Traumbaum, ein Stammbaum. Ein Totem. Denkmal. Tröstliches, immerwährendes Wahrzeichen. Und doch lebendiges Wesen; ein Weib von Baum, die Matrone der Dorflandschaft, hart und fest und sturmerprobt, hochwürdig und gütig und grad ihres biblischen Alters wegen von atemberaubender Schönheit. Stürbe sie dereinst – undenkbar, doch wenn –, dann könnte Rübezahl daraus eine martialische Zwille schnitzen: Dem massiven Wurzelblock entwuchsen zwei stämmige Beine, die sich alsbald in kühnen, armleuchterartigen Schwüngen verästelten und wiederum verzweigten, bis sie eine wundersam ausbalancierte Krone ausbildeten.
    Die mächtige Wächterin meiner Kindheit. Ohne dessen jederzeit innezusein, liebte ich ihre grobrissige Borke, ja sogar die warzenhaften Knorren, aus denen Zweiglein sprossen. Als ich groß genug geworden war, daß ich den untersten Ast erreichte, indem ich mit gereckten Armen nach ihm haschte, wuchs ich noch über mich hinaus: Ich machte einen Klimmzug und trippelte gleichzeitig halsüberkopf den Stamm aufwärts, hakte mich mittels Kniekehle an den Ast und turnte hinauf – ich wusste kaum wie –, bis ich zu sitzen kam."
    Anschreiben gegen Vergänglichkeit und Vergessen
    Wie Bodo Morten schreibt auch Frank Schulz gegen die Vergänglichkeit und das Vergessen an, indem er das Rad der Zeit zurückdreht. Sein Motiv wird bereits in der zweiten und längsten Erzählung des Bandes deutlich: In "Rotkehlchen. Ein Fragment" erzählt er vollkommen ungeschützt von der Fiktion vom Tod seiner Mutter, die an ihrem 76. Geburtstag kollabierte und drei Tage später im Krankenhaus starb. Schon zwei Wochen nach dem tragischen Ereignis habe er sich unter Weinkrämpfen hingesetzt und mit "der blindwütigen Energie eines vollgekoksten Jazzpianisten" die Tage des Sterbens protokolliert, so Schulz. Er musste die Erinnerung fixieren, bevor sie verblasste.
    "Ich war von meinem eigenen Tun unangenehm berührt – ein Sohn, der seiner sowieso sehr zweifelhaften Arbeit wegen über die Leiche seiner zweifellos sehr geliebten Mutter geht (und der unausbleibliche Koketterie-Verdacht macht's natürlich nicht besser). Doch später, beim Wiederlesen von Philip Roths 'Patrimony', verspürte ich einen (wiewohl wiederum vielfältig anrüchigen) kleinen Trost, als der große Schriftsteller von diesem seinem Buch sprach, an dem er, während sein Vater starb, die ganze Zeit über geschrieben hatte, und zwar 'in keeping with the unseemliness of my profession'. Die Ungehörigkeit, Unschicklichkeit meines Berufes."
    Trost durch Schreiben
    Die Zweifel an dem, was er tut, bleiben. Eine Erklärung, warum er die Tragödie auf dem Papier noch einmal durchleben muss, findet er nicht – und doch ist es am Ende der Glaube an das eigene Handwerk der Schriftstellerei, der ihm Trost spendet.
    Das Gegenstück zu diesem berührenden und brillanten Bericht steht ganz am Ende von "Anmut und Feigheit": In "Mamapapamamapapa", einem – wie es im Untertitel heißt – "ausgemalten Memoir", begegnen wir dem Vater des Autors, Gerhard Schulz, zu Beginn seiner Lehre als Klempner – und damit Jahre bevor er seine spätere Frau kennenlernt, die er überleben wird. Man kann diese Geschichte nur mit Tränen der Rührung in den Augen lesen und dankbar sein für die sprachliche Feinheit, ja, man möchte sagen "Anmut", und die Offenheit und den Mut, mit denen Frank Schulz seinen Eltern hier ein literarisches Denkmal setzt. Die Feigheit, die dieser große Erzählband ebenfalls im Titel trägt, erkennt man in den Zügen mancher Figuren der weiteren hier versammelten Texte – tragikomischen Schnurren, Farcen und Prosaminiaturen über Sehnsucht und Liebe, Leid und Leidenschaft. Frank Schulz scheint diese Feigheit gut zu kennen. Doch er hat ihr ins Auge gesehen und sie in den größten Momenten dieses Bandes überwunden.
    Frank Schulz: "Anmut und Feigheit"
    Galiani Verlag, Berlin. 336 Seiten, 22 Euro.