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Frank Witzel: "Uneigentliche Verzweiflung. Metaphysisches Tagebuch I"
Das Denken auf dem Prüfstand

Es gibt keine Rettung, aber es gibt das Denken: Der Schriftsteller Frank Witzel geht in seinem philosophischen Tagebuch schonungslos den eigenen Ängsten nach und erkennt das Scheitern als eine stete Notwendigkeit. Entstanden ist ein Werk des radikalen Selbstzweifels - zum Glück nicht ohne eine Spur Humor.

Von Tobias Lehmkuhl | 07.08.2019
Buchcover: Frank Witzel: „Uneigentliche Verzweiflung. Metaphysisches Tagebuch I.“
Frank Witzels Tagebuch: Wie erzählen über Schreib- und Beziehungskrisen? (Foto: Getty Images/Thomas Lohnes, Buchcover: Matthes & Seitz Verlag)
Man könnte meinen, Schriftsteller seien es gewohnt, Tagebuch zu schreiben: Franz Kafkas Tagebuch steht seinem übrigen Werk im Rang in nichts nach, Thomas Manns dem seinen zumindest an Umfang nicht. So unterschiedliche Autoren wie Anne Frank, Max Frisch oder Rainald Goetz haben Tagebuch geführt, zudem hat das Tagebuch als Form auch in der fiktionalen Literatur seine Spuren hinterlassen, man denke etwa an Uwe Johnsons "Jahrestage". Frank Witzel hat bis Herbst 2018 nie Tagebuch geschrieben, und vielleicht auch deswegen unterscheidet sich seines von den üblichen und allermeisten auch privaten Tagebüchern. Es handelt sich um ein, wie es im Untertitel heißt, "Metaphysisches Tagebuch", um eines, dass sich eben nicht mit physischen Dingen, sondern geradezu ausschließlich mit philosophischen Fragen beschäftigt.
"Es ist kein Tagebuch weil man gar nicht weiß, wo ich mich eigentlich befinde. Man hat vielleicht den Eindruck, dass ich nur zu Hause sitze, tatsächlich war ich in München, Stuttgart, Berlin. Das ist kein Tagebuch, in dem gesagt wird, ich bin in Berlin, weil ich dort das zu tun habe, das hat mich wenig interessiert. Trotzdem kommen ja sehr private Dinge vor. Deswegen bin ich immer wieder schweißgebadet aufgewacht, und habe gedacht, hätte ich das nicht vielleicht nicht doch nicht veröffentlichen sollen?"
Ein philosophisches Denktagebuch
Der Anlass, überhaupt zum ersten Mal ein Tagebuch zu führen ist in der Tat von sehr privater, und wenn man so will äußerer Art: Eine Liebes- und Beziehungskrise. Und nicht nur das: Die Beziehungskrise zu einer gewissen O geht mit einer Schreibkrise einher, die zwar keine Schreibblockade mit sich bringt, jedoch die Frage aufwirft: Wie kann ich biographisch erzählen? Wenn Witzels manisch-depressiver Teenager aus dem Jahr 1969 auch einige Überschneidungen mit dem jungen Witzel aufwies, so stellte sich die Frage im Herbst 2018, kurz nach dem Tod der eigenen Eltern, erneut.
So kann man dieses Metaphysische Tagebuch auch als einen Versuch verstehen, wieder zum Erzählen, mithin zum Physischen zurückzufinden. Entstanden ist dadurch ein Denktagebuch, dass das Denken selbst auf den Prüfstand stellt.
"Ich versuche ja hier irgendwie auf das Denken zu kommen, und was ist denn Denken? Und was ist Meinen? Und was habe ich für Vorstellungen und kann ich zu so etwas Authentischem kommen, dass ich im Schreiben denken kann. Was ein ganz anderer Vorgang ist als bei den Texten, wo ich etwas schreibe und dann versuche ich mit dem Text umzugehen und das zu verändern. Und hier versuche ich tatsächlich, den nächsten Gedanken hinzuschreiben und das Prozessuale zu betonen."
Nächtliche Aufspaltung
Das Denken ist bei Witzel keine abstrakte Tätigkeit, im Gegenteil, sie ist eng an das eigene Empfinden, an die eigenen radikalen Zweifel und vor allem auch an die eigenen, ganz konkreten und das heißt körperlich erfahrenen Empfindungen und Ängste gebunden: Nahezu jeder Morgen, so berichtet der Autor, beginnt für ihn mit einer Panikattacke. Wo andere sich mühsam aus dem Bett quälen und erstmal einen Kaffee brauchen, benötigt Witzel die erste Stunde des Tages, um der Angst Herr zu werden und sich so weit zu beruhigen, dass so etwas wie ein normales Leben überhaupt möglich ist. Und wacht er einmal in völliger Ruhe auf, ohne Angst und Panik, beschleicht ihn alsbald der Verdacht, dass dieser Zustand im Grunde noch bedrohlicher ist. Das Gegenteil einer Sache, lässt sich daraus schließen, kann niemals die Rettung sein.
"Ich stell mir dann irgendeinen paradiesischen Zustand vor, in dem ich morgens aufwache, und eben nicht den Druck auf der Brust habe, aber das ist einfach immer nur das Andere gedacht, aber hier versuche ich ja zu sehen, dass dieses andere Denken oder einfach das Gegenteil anzustreben, dass das so nicht funktioniert, sondern dass im Denken immer sehr viele Fallstricke schon selbst sind, die einen etwas anstreben lassen - und das muss ich ändern und das muss ich wegmachen und das ist der Ursprung meines Übels - und am Ende stehe ich auf der Straße und sage 'Merkel muss weg', weil ich morgens Panikattacken habe."
Radikalität der Selbstbetrachtung
Inwiefern Politik funktional mit Angst zu tun hat, auch darauf kommt Witzel in seinem Tagebuch zu sprechen. Im Vordergrund steht aber der Versuch, noch einmal das eigene Denken neu zu denken, sich selbst noch einmal radikal in Frage zu stellen, sich überhaupt zu fragen, was das Ich ist, jenes Ich, das sich jede Nacht im Traum doch in so viele Ichs aufspaltet und darum auch in seinem Gewand als Tages-Ich fragwürdig bleibt. Zu diesem Versuch gehört ein Immer-wieder-neu-Ansetzen, auch der Vorwurf an sich selbst, nichts weiter auf die Reihe zu kriegen als "verzagtes Rumgedenke" oder die momentane Abneigung gegen die eigene intellektuelle Selbstzerfleischung.
"Es gibt, glaube ich, Tagebücher, die sind offener mit dem Umgang mit wer da alles drin vorkommt, aber es geht ja auch thematisch darum, dass ich so eine Hemmschwelle habe, über mich zu schreiben, aber natürlich auch über Menschen, die mir irgendwie nah sind, und das ist in diesem Fall zentriert auf O, wo ich denke, wie kann ich das darstellen, wie kann ich eine Intimität darstellen, wie kann ich darüber reden, es geht ja auch darüber, wie kann ich in einer therapeutischen Situation darüber reden, ohne mich selbst oder auch O, die ich nicht zum Objekt machen will - es sind sehr viele Gedanken, die sich an das thematisieren des Themas binden, so dass ich zum Thema gar nicht mehr selbst richtig komme."
So schonungslos Frank Witzel in diesem Tagebuch sich selbst gegenüber ist, so offen er über Allerprivatestes spricht, so entsteht beim Lesen doch nie das Gefühl des Fremdschämens. Im Gegenteil: Witzel beeindruckt auf jeder Seite durch die Radikalität, mit der er die eigene Person, das eigene Denken, Fühlen und Schreiben ausleuchtet, mit der er das eigene Scheitern stets als Notwendigkeit begreift. Wer auf Sensationen des Privaten aus ist, wird hier nicht fündig. Es geht nicht um weltliche Details, sondern um die Details des In-der-Welt-Seins. Dabei blitzt immer wieder auch der Witzel’sche Humor auf, vor allem in den zahlreichen Aphorismen. Dieser eine wird auf jeden Fall nicht für sein Schaffen gelten: "Titel für eine Werkausgabe: Nachlassende Schriften".
Frank Witzel: "Uneigentliche Verzweiflung. Metaphysisches Tagebuch I."
Matthes und Seitz, Berlin. 294 Seiten, 22.- Euro.