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Frankreich
Am Rande des Abgrunds

Vor 80 Jahren protestierten in Paris Anhänger rechtsextremer Gruppen gegen die Regierung Edouard Daladier. 19 Tote und Hunderte Verletzte – das war die Bilanz der Demonstrationen vom 6. Februar 1934. Wie im Jahr zuvor in Deutschland, schien nun auch in Frankreich die Demokratie durch totalitäre Kräfte bedroht.

Von Jochen Stöckmann | 06.02.2014
    Die historische Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigt Auseinandersetzungen auf einem Platz in Paris.
    In Paris kommt es zu blutigen Protesten gegen die Regierung Edouard Daladier. (picture alliance / AFP)
    "Der Eiffelturm leuchtet, die Brückenlaternen werfen goldene Streifen in die Seine. Wie friedlich atmet Paris! Aber am Pont de la Concorde beherrscht Mars die Stunde. Von den verschiedensten Punkten der Stadt marschieren die royalistischen und kommunistischen Verbände, die faszistischen, halbfaszistischen, kryptofaszistischen Organisationen heran, alles, was der Regierung Daladier den Untergang geschworen hat, und das Kabinett muss sich nicht nur in der Kammer, sondern auch auf der Straße verteidigen."
    In Paris sieht sich am Abend des 6. Februar 1934 der vor den Nazis aus Berlin geflohene Journalist Hermann Wendel von der Geschichte eingeholt: Stimmungsmache gegen das parlamentarische "System", Todesdrohungen gegen Abgeordnete, aggressive Aufmärsche. Wie im Strudel der darauf folgenden Straßenschlachten die Weimarer Republik unterging, das steht dem Sozialdemokraten noch vor Augen.
    Nun ziehen über die Champs Elysees im disziplinierten Marschtritt Monarchisten, Action française, die rechtsextreme Liga Jeunesses Patriotes und Weltkriegsveteranen. Die Kommunistische Partei reagiert mit Streiks und Gegendemonstrationen. Um die Stimmung anzuheizen, bedienen sich die Monarchisten beim Refrain des Revolutionsliedes von 1789:
    "ça ira, ça ira, ça ira – die Abgeordneten an die Laterne.
    ça ira – die Abgeordneten wird man hängen."
    Ende 1933 war die Affäre des Hochstaplers Alexandre Stavisky publik geworden. Sein Betrug mit gefälschten Staatsanleihen wurde von hochrangigen Politikern gedeckt. Der Finanzjongleur hatte beste Verbindungen zur linksliberalen Parlamentsmehrheit, sogar zu einem Minister. Regierungschef Camille Chautemps trat zurück. Aber die rechtsextremen Gruppen versuchten, den Kriminalfall weiterhin politisch auszuschlachten:
    "Mit dem Schlachtruf 'Nieder mit dem Diebsgesindel' versammeln sich heute Abend vor der Abgeordnetenkammer alle Franzosen, die den Ministern und ihren Gefolgsleuten im Parlament zeigen, dass sie von diesem schändlichen Regime die Nase voll haben."
    Der neue Premierminister Edouard Daladier, durch die Affäre Stavisky in keiner Weise kompromittiert, zeigt sich entschlossen, der Gewalt der Straße nicht zu weichen.
    Doch am 6. Februar werfen die Demonstranten Pflastersteine, stecken Autobusse in Brand. Schließlich fallen Schüsse. Die Bilanz: 19 Tote, viele Hundert Verletzte. Daladier tritt zurück, sein Innenminister Eugène Frot erinnert sich 1970:
    "Ich hatte nie Befehl gegeben zu schießen. Aber in der Atmosphäre des Aufruhrs, hat die Polizei eine Grenze überschritten, hat schließlich geschossen, auch aus einem Reflex der Selbstverteidigung heraus. Denn es war zuvor geschossen worden, auf Seiten der Kommunisten! Ich behaupte nicht, dass es die Kommunisten selbst waren, aber die Schüsse kamen aus ihrer Richtung."
    Bis heute wird darüber debattiert, ob tatsächlich das Erstürmen der Abgeordnetenkammer geplant war oder gar ein faschistischer Staatsstreich. Denn die "Führer" der verschiedenen rechtsextremen Organisationen waren uneins. Und als die zahlenmäßig stärkste Gruppierung Croix-du-feu unter Colonel de la Rocque mit etwa 2000 Mann an der Place de la Concorde nur 50 Polizisten gegenüberstand, kam es zu einer unerwarteten Wende. Der Faschismusexperte Pierre Milza:
    "Der Befehl ihres Chefs ist: nichts unternehmen! De la Rocque wollte nicht den Umsturz der Republik, er wollte sie nur ändern. Also gibt er den Befehl nicht, auf das Palais Bourbon zu marschieren. Am nächsten Tag dann sprechen die Antifaschisten von einem faschistischen Putsch. Und die rechten Demonstranten von irgendwas, das erfolgreich gewesen wäre, hätte nicht der 'Verräter' de la Rocque im entscheidenden Moment versagt."
    Bevor aber rechtsextreme Splittergruppen die fatale Schlagkraft von Hitlers NSDAP entwickeln können, werden sie 1936 aufgelöst. Das Verbot kann Léon Blum als Premierminister einer Volksfrontregierung durchsetzen. Mit dem Linksbündnis unter Einschluss der Kommunisten hat der Sozialist seine Lehre aus den blutigen Ereignissen vom 6. Februar 1934 gezogen.