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Frankreich
Eine Jugend in der Banlieue

Armut, Kriminalität und Gewalt prägen das Leben in vielen Sozialbauvierteln Frankreichs. Hervé Lequeux und Sébastien Deslandes spüren in ihrem eindrucksvollen Foto-Buch "Une jeunesse française" dieser Welt nach. Und sind auf junge Menschen gestoßen, die von Perspektivlosigkeit genauso geprägt sind wie von Aufbruchstimmung.

Von Suzanne Krause |
    Hochhaussiedlung in Drancy, aufgenommen am 19.11.2015.
    Hochhaussiedlung in Drancy. Der Ort in der Pariser Banlieue gilt als sozialer Brennpunkt (picture alliance / dpa / Peter Zschunke)
    Das Coverfoto des Buches zeigt einen jungen Mann, schwarze Lederjacke, die Haare bis zum Oberkopf ausrasiert, der sich über die Flachdachbrüstung einer hohen Mietskaserne lehnt. Über ihm ein weiter blauer Himmel. Darunter, bis in die Ferne, zusammengewürfelt betongraue Plattenbauten, dazwischen staubig wirkende Grünflächen. Willkommen in einem typischen 'Quartier' im Pariser Großraum. In Villetaneuse, im Norden der Hauptstadt, haben die beiden Reporter, Hervé Lequeux und Sébastien Deslandes, sich 2009 erstmals einer herumhängenden Clique genähert. Zu der gehört Abdoulay.
    "Ich bin 24 Jahre alt und seit 24 Jahren lebe ich hier. Und in diesen 24 Jahren hat sich hier nichts verändert. Ich stecke in einem Tunnel fest, dessen Ende nicht abzusehen ist. Alles, was ich sehe, ist Bluff. Lügen. Sie lassen uns voll ins offene Messer laufen. Hier ist eigentlich jeder arbeitslos. Heute sagt niemand mehr 'Ach, ich werde doch nicht putzen gehen.' Als ich jung war, hieß es, Straßenkehrer sei doch kein Job. Heute renne ich einer solchen Stelle hinterher."
    Die Banlieues wurden sich selbst überlassen
    Dabei standen solche Trabantensiedlungen mal für den Traum von einem besseren Leben. Ab den 1960er Jahren legte die französische Regierung landauf, landab ein gigantisches Sozialbauprogramm auf, schuf helle Wohnungen mit Warmwasser, Toiletten - damals Luxus. Angesiedelt vor den Toren der Städte. Banlieue werden diese Gebiete heute genannt: Bannmeile. Anfangs lebten hier Arbeiter aus Frankreich und den ehemaligen Kolonien Tür an Tür mit Vertretern der Mittelschicht. Doch die zogen fort, als die Viertel sich selbst überlassen blieben und verfielen. Zwar wurde 1990 ein Ministerium für Stadtpolitik gegründet, mittlerweile flossen Milliarden in die Renovierung der Vororte. Gebracht habe das aber wenig, sagt Sébastien Deslandes, der die Texte in dem Buch geschrieben hat.
    "Mir scheint, diesbezüglich will man nun auch die Dinge ein bisschen unter den Teppich kehren. Denn trotz all der politischen und sonstigen Initiativen hat sich nichts grundlegend an der Situation geändert: die Jugendlichen in den Vororten sind weiterhin mit viel Gewalt konfrontiert."
    "Jung zu sein und in einem Trabantenviertel zu leben, bedeutet vor allem, sehr jung mit Ereignissen konfrontiert zu sein, vor denen die Jugendlichen in den Zentren der Städte beschützt bleiben. Für die Jugend aus den Sozialbauvierteln ist es keineswegs ungewöhnlich, dass ein Kumpel, ein Bekannter aus der Nachbarschaft einen gewalttätigen Tod starb. Ein Auto- oder Motorradunfall, eine Abrechnung zwischen Banden. Die Liste ist oft lang."
    Not macht erfinderisch
    Von Amiens im Norden bis nach Marseille im Süden, in den sonst so verschrieenen No-Go-Zonen, haben Hervé Lequeux und Sébastien Deslandes dieser französischen Jugend nachgespürt. Sie haben Dylal, Hamda, Alexandre und viele andere über Jahre hinweg porträtiert. Jungen Franzosen das Wort erteilt, die in den Medien sonst nur auftauchen, wenn in einem 'Quartier' Autos brennen. Fast immer, weil ein Jugendlicher bei einem Polizeieinsatz ums Leben gekommen ist.
    'Une Jeunesse française' zeigt andere Fotos. Darunter immer wieder Szenen mit Jugendlichen, wie sie von früh bis spät die Zeit totschlagen. Doch zum Alltag gehört auch Mut. Denn Not macht erfinderisch, wie das Beispiel von Ahmadou Saitouli belegt: der 34-Jährige ist achtfacher Unternehmer.
    "Als wir mit einem älteren Nachbarn diskutierten, der in der Industrie arbeitet, haben wir begriffen, dass es möglich ist, ein Auskommen als Unternehmer zu finden. Unternehmer sind wir hier ein bisschen vom Wesen her. Wir sind kampferprobt. Zudem kannst du immer auf die Jungs bauen, mit denen du aufgewachsen bist. Das ist unser Netzwerk. Wenn du dich umschaust und es nirgendwo Arbeit gibt, dann bleibt dir gar nichts anders übrig."
    Von der Gesellschaft ausgegrenzt
    Von der Politik erhoffe sich diese 'Jeunesse française' nichts mehr, sagen beide Autoren. Wählen gehen würde kaum noch einer. Wie dieser junge Schulabbrecher, den Hervé Lequeux fotografiert hat, vor einer Mauer voll bunter Graffiti und dem Slogan: 'The Bridge is over'. Die Brücke zum Rest der Gesellschaft ist geschlossen.
    "Diese jungen Franzosen wollen nur eines: sich voll einbringen. Sie sind bereit, drei Jobs nebeneinander auszuüben. Und sie wollen zu einem gesellschaftlichen Bewusstseinswandel beitragen. Dahingehend, dass Menschen mit ausländischen Wurzeln nicht nur auf dem Papier Franzosen sind. Ich bin mit der Antirassismus-Bewegung SOS Racisme und deren Slogan 'Mach meinen Kumpel nicht an' großgeworden. Und heute muss man feststellen: auf Jugendliche mit Migrationshintergrund geht niemand mehr zu. Nun ist in den Medien und bei den Intellektuellen nur noch die Rede davon, dass sich die ethnischen Gruppen abschotten."
    In 'Une jeunesse française' verweben sich Fotos und Texte mosaikartig zu einem Gesamtbild, das herkömmliche Klischees sprengt. Dem Leser spannende Innenansichten, ein Gefühl vermittelt: Für die engen Grenzen, die dem Leben in den 'Quartiers' gesteckt sind. Und für das kreative Potential, das vielen Bewohnern zu eigen ist. 'Une jeunesse française' sei ein Beitrag zur Gegenwartsgeschichte, sagen Lequeux und Deslandes. Zu Recht. Ihr Foto- und Textband ist ein aufklärendes, politisches Werk.
    Hervé Lequeux, Sébastien Deslandes: "Une jeunesse française"
    André Frère Éditions, 208 Seiten, 35 Euro.