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Frankreich nach den Anschlägen
Ein Land vor großen Herausforderungen

Frankreich steht eine Woche nach den Attentaten von Paris zusammen: Landesweit wurde in Trauermärschen an die Werte "Freiheit" und "Brüderlichkeit" erinnert. Nun beginnt die Aufarbeitung mit der zentralen Frage: Wie auf den Terror reagieren? Staatspräsident und Regierung wollen ihre Entscheidungen nicht von Angst und Panik beherrschen lassen.

Von Ursula Welter und Birgit Kaspar | 14.01.2015
    Französische Flagge vor einer Frauenstatue vor Nachthimmel
    "Le Triomphe de la République" heißt diese Statue am Place de la Nation in Paris - die Politik beschwört dieser Tage die nationale Einheit und die Autorität der Republik. (JOEL SAGET / AFP)
    DAS hat es seit 1918 nicht mehr gegeben.
    Der Parlamentspräsident hatte zur Schweigeminute aufgerufen, und plötzlich stimmt einer die Hymne an. Premier Valls, der in diesen Tagen häufig zu Tränen gerührt war, lächelt, denn nun singen ALLE politischen Kräfte des Landes gemeinsam die Marseillaise.
    Seit vor einer Woche die Schüsse in den Redaktionsräumen von Charlie Hebdo fielen, seit wenig später auf der Straße ein Polizist, am nächsten Tag eine weitere Polizistin erschossen wurden, seit am Freitag schließlich die Geiselnahme im jüdischen Supermarkt das Land in Panik versetzte, müht sich die Regierung um eine geschlossene, politische Front. Mit Erfolg. Einzig Marine Le Pen scherte aus, die Chefin des extremen Front National wurde zwar vom Staatspräsidenten im Elysée-Palast empfangen, aber das genügte ihr nicht. Sie unterstellte, von dem großen Gedenkmarsch am 11. Januar ausgeschlossen worden zu sein.
    "Diese Demonstration steht für das, was die Franzosen hassen, den Parteienklüngel, den Wählerfang, und den ständigen Streit - WIR gehen nicht gegen jemanden auf die Straße, wir gehen MIT Frankreich auf die Straße, mit GANZ Frankreich auf die Straße und vor allem FÜR Frankreich."
    Marine Le Pen organisierte im Süden Frankreichs eine Gegendemonstration, ihre Rechnung ging nicht auf. Die Beteiligung war schwach, und sah mickrig aus im Angesicht von vier Millionen Franzosen, die am Sonntag andernorts für Meinungsfreiheit und Toleranz auf die Straßen gingen.
    "Wir sind im Krieg gegen den Terrorismus und die Barbarei," sagte der Parlamentspräsident, als die Abgeordneten nach der Tragödie der vergangenen Woche zum ersten Mal im Halbrund der Assemblée Nationale zusammenkamen. Der Premierminister wiederholte die Vokabel vom Land im Krieg. Stellte aber klar:
    "Frankreich ist nicht im Krieg gegen den Islam und gegen die Muslime."
    Wie der Premier, beschwor auch der Parlamentspräsident, Claude Bartolone, die "nationale Einheit und die Autorität der Republik", die jetzt nötig sei.
    Höchste Alarmstufe in und um Paris
    Am Sonntag waren die Franzosen in allen Teilen des Landes auf die Straßen gegangen. Hatten den Werten "Freiheit" und "Brüderlichkeit" applaudiert. Alle Altersgruppen, alle Religionen, alle politisch etablierten Parteien waren vertreten. Stehende Ovationen und Applaus gab es auch für die Polizisten, die die Demonstrationszüge schützten. Applaus, weil auch die Sicherheitskräfte Opfer zu beklagen hatten: bei Charlie Hebdo, bei den Geiselnahmen.
    Staatspräsident Hollande hob diesen Punkt bei der Trauerfeier im Hof der Polizeipräfektur noch einmal hervor, um dann zu sagen, dass Frankreich inzwischen genauso viele Soldaten im Inland im Einsatz habe, wie bei Auslandseinsätzen:
    "Zehntausend Soldaten sind mobilisiert, um die Gendarmen und die Polizisten zu verstärken, und wurden postiert im ganzen Land, um die sensiblen Punkte zu schützen."
    Großkundgebung an der Place de la Nation in Paris - gegen Terror und Extremismus
    Großkundgebung an der Place de la Nation in Paris - gegen Terror und Extremismus (AFP / Loic Venance)
    Es gilt die höchste Alarmstufe im Großraum rund um die Hauptstadt Paris, dort ist die "Attentat"-Gefahr offiziell ausgerufen. Überall im Land patrouillieren schwerbewaffnete Einheiten, sichern vor allem öffentliche Plätze, Museen, Medienhäuser und Synagogen.
    "Es gibt einen Antisemitismus in Frankreich," sagte Premierminister Valls vor dem Parlament. Einen historisch verwurzelten Antisemitismus. Aber es gebe vor allem die jüngeren Formen des Antisemitismus:
    "Der in unseren Stadtvierteln und durch das Internet genährt wird. Inakzeptabel!" rief der Premierminister, man müsse dies lauter sagen als bislang.
    "Ohne die Juden Frankreichs wäre Frankreich nicht mehr Frankreich!"
    Viele Menschen jüdischen Glaubens beruhigt weder diese Formel noch das Großaufgebot an bewaffneten Kräften vor den Synagogen und vor den jüdischen Schulen. Mit mehr als 7.000 Auswanderern hatten sich die Zahlen schon im letzten Jahr verdoppelt. Sie werden weiter steigen. Angst haben aber auch die Muslime Frankreichs. Auf 3 bis 5 Millionen wird ihre Zahl geschätzt, gesicherte Statistiken gibt es nicht. Die Attentäter hatten "Allah ist groß" gerufen, die gläubigen Muslime zahlen dafür nun den Preis. Fast 50 Anschläge auf Moscheen und Gebetsräume wurden in den vergangenen Tagen gemeldet. Dabei waren die Muslime, neben Juden, Journalisten und Polizisten, gleichermaßen Opfer der Attentate. Auch auf Muslime wurde in den dramatischen Stunden der vergangenen Woche geschossen: in der Redaktion von Charlie Hebdo, auf der Straße, im Supermarkt. Zu den getöteten Polizisten gehörte Ahmed Mehrabet, als er in einem Vorort von Paris beerdigt wurde, trauerten die Muslime - und zur Beerdigung kamen auch Juden!
    "Wir teilen das Unglück, das die Familie, die Kollegen getroffen hat. Die jüdische Gemeinde hat mich sehr berührt, weil sie unser Leid teilt und wir wünschten uns, dass wir nicht nur im Schmerz zusammenstehen, sondern auch entspannte, ruhige Momente und Gemeinschaft miteinander erleben, im selben Rechtsrahmen und mit derselben Brüderlichkeit," sagte Dhalil Boubakeur, der Rektor der Großen Moschee von Paris. Der Wunsch nach mehr gegenseitiger Toleranz ist überall mit Händen zu greifen, solange die Trauer anhält. Aber die Debatte darüber, wie politisch und juristisch auf die Terrorgefahr reagiert werden kann, läuft auf Hochtouren. Staatspräsident und Regierung wollen ihre Entscheidungen nicht von Angst und Panik beherrschen lassen.
    "Auf eine außergewöhnliche Situation müssen wir mit außergewöhnlichen Maßnahmen reagieren. Aber ich sage mit der gleichen Entschiedenheit: Niemals Ausnahme-Gesetze, die gegen die Prinzipien des Rechtsstaates und gegen unsere Werte verstoßen."
    Debatte um Antiterrorgesetze
    Das war die Antwort des Premiers auf die immer lauter werdenden Forderungen nach einem "Patriot Act" nach Art der amerikanischen Antworten auf den 11. September. Stattdessen will die Regierung die Inlands-Geheimdienste besser ausstatten.
    Die Antiterrorgesetze sollen angepasst werden.
    Verurteilte, die durch Dschihadisten radikalisiert wurden, sollen in speziellen Gefängnis-Trakten isoliert werden. Und spätestens hier werden erste Risse in der nationalen Einheit sichtbar, um die sich Frankreich in den vergangenen Tagen erfolgreich bemüht hat.
    "Ich denke, die Idee, die radikalisierten Kräfte in den Gefängnissen zu isolieren, ist keine gute Idee. Sicher bereitet es Probleme, wenn zerbrechliche Personen in Kontakt mit Leuten kommen, die schon in die Ideologie abgerutscht sind, dennoch: Die Isolierung würde andere Probleme aufwerfen," sagte die Grünen-Politikerin Cecile Duflot, die das äußere, linke Spektrum der französischen Politik vertritt und die einem Kabinett Valls nicht angehören wollte. Immerhin, auch Cecile Duflot ist, wie viele in Frankreich, der Meinung, Premier und Präsident hätten die schweren Tage und Stunden gut gemeistert:
    "Manuel Valls war, wie der Präsident und die Regierung auf der Höhe der Ereignisse, das sage ich ohne Vorbehalte."
    Frankreichs Innenminister will in den nächsten Tagen, nach und nach, konkrete Vorschläge zur besseren Kontrolle des Internets vorlegen. Der Chef von Google Frankreich, Nick Leeder, erklärte bereits, das Unternehmen bereite sich darauf vor, einschlägige Seiten zu sperren, sollte sich die Gesetzeslage ändern. Schon jetzt seien verschiedene Angebote auf "YouTube" gestoppt worden. Während sich die Betreiber der Suchmaschinen fragen lassen mussten, warum sie das Bekennervideo von Ahmedy Coulibaly online gestellt hatten, beginnt auch in den französischen Medien die Aufarbeitung einer dramatischen Woche. Die Medienaufsicht CSA hatte auf dem Höhepunkt der Geiselnahmen am vergangenen Freitag angeordnet, keine Details über die Ermittlungen mehr zu veröffentlichen. Am Tag nach dem Anschlag auf die Redaktionsräume von Charlie Hebdo hatte die CSA beklagt, dass die Identität der Täter und die Berichte über Fahndungsdetails über die Bildschirme flimmerten.
    "Der Rat für die Audiovisuelle Überwachung wird seine Rolle spielen, das heißt: Kontrollieren und eventuell auch sanktionieren!" sagte der Chef der CSA, Olivier Schrameck, im Sender France Info.
    Bewaffnete Polizisten an der abgesperrten Metrostation Porte de Vincennes in Paris.
    Die Geiselnahmen am vergangenen Freitag versetzen das Land in Panik. (AFP/ Martin Bureau)
    Die Erstürmung der Druckerei in Dammartin-en-Goëlle durch französische Spezialeinheiten vergangenen Donnerstag wurde landesweit als Erfolg gefeiert. Obwohl die beiden Attentäter von Charlie Hebdo, Chérif und Said Kouachi, die sich hier verschanzt hatten, dabei getötet wurden. Das hätten sich die Ermittler anders gewünscht. Denn dann hätten sie es vermutlich leichter gehabt zu verstehen, wie es zu den Anschlägen kommen konnte. Haben die Kouachi-Brüder oder Amédy Coulibaly den Auftrag einer Terrororganisation ausgeführt? Haben sie weitere Komplizen? Oder haben die drei auf eigene Faust gehandelt? Wer hat die Operation finanziert? All diese Fragen bleiben noch offen. Auch wenn Al Kaida auf der arabischen Halbinsel heute in einem Video die Verantwortung für das Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo übernommen hat. Die Echtheit der Erklärung ist bisher noch nicht bestätigt. Gesichert ist hingegen, dass Amédy Coulibaly mit den Kouachi-Brüdern zusammengearbeitet hat. Der 32-jährige Coulibaly war verantwortlich für die Erschießung einer Polizistin in Montrouge sowie für die Geiselnahme in dem jüdischen Supermarkt an der Pariser Porte de Vincennes, bei der er vier weitere Menschen tötete. In einem offenbar nach seinem Tod montierten Bekennervideo, das am Sonntag im Internet auftauchte, sprach Coulibaly von - so wörtlich - unserer Mannschaft:
    "Wir haben die Dinge ein bisschen zusammen und ein bisschen getrennt gemacht, um den Effekt zu verstärken. Ich habe einem der Brüder bei seinem Projekt geholfen, indem ich ihm ein paar tausend Euro gegeben habe, damit er seine Einkäufe abschließen konnte."
    Unklarheit über Zugehörigkeit der Attentäter
    In dem Video gibt er außerdem Aufschluss über seine Motivation: Wenn der Westen den Islamischen Staat attackiere, dann werde er eben auch angegriffen, so Coulibaly. Zuvor hatte er seine Gefolgschaft zu Abou Bakr al-Baghdadi, dem selbst ernannten Kalifen des Islamischen Staates im Irak und Syrien, bekannt. Die französischen Ermittler verdächtigen unter anderem die Lebensgefährtin Coulibalys, Hayat Boumedienne, das posthume Video montiert zu haben. Die 26-Jährige befindet sich noch auf freiem Fuß. Nach Angaben des türkischen Außenministers ist sie bereits am 2. Januar in die Türkei eingereist. Inzwischen sei Boumedienne in Syrien, heißt es aus Ankara. Begleitet wurde sie dabei vermutlich von Mehdi Belhoucine, einem 23-jährigen Franzosen, der den Behörden ebenfalls bekannt ist. Er soll Al Kaida nahestehen und an der Entsendung von Dschihadisten nach Afghanistan beteiligt gewesen sein. Der Staatsanwalt von Paris, François Molins, erläuterte, dass den Ermittlern schnell klar war, wie eng der Kontakt zwischen den Brüdern Kouachi und Coulibaly in der Planungsphase der Anschläge war:
    "Bei der Auswertung der Telefonverbindungen zeigte sich, dass die Ehefrau von Chérif Kouachi im Jahr 2014 mehr als 500 Gespräche mit der Gefährtin von Coulibaly geführt hat. Das zeugt von einer engen und konstanten Verbindung zwischen den beiden Paaren."
    Es wird vermutet, dass die Attentäter zu ihrem Schutz für Absprachen nicht ihre eigenen Handys, sondern die ihrer Frauen benutzt haben. Während Coulibaly seine Zugehörigkeit zum ideologischen Dunstkreis des Islamischen Staates betont, so führt die Spur der Brüder Kouachi ziemlich eindeutig in Richtung der Terrorgruppe Al Kaida, konkret Al Kaida auf der arabischen Halbinsel. Al Kaida steht in erklärter Rivalität mit dem IS. Die Staatsanwaltschaft in Paris bestätigt diesen Zusammenhang. François Molins:
    "Wir wissen, dass Chérif 2011 im Jemen war und dass er in seinem Umfeld Dschihadisten hatte, die im Jemen ausgebildet wurden und die sich derzeit im Jemen oder in Syrien aufhalten."
    Chérif Kouachi ging im Gespräch mit einem französischen Fernsehsender noch einen Schritt weiter:
    "Wir sagen, dass wir den Propheten Mohammed verteidigen und ich persönlich wurde von Al Kaida im Jemen entsandt. Ich war dort und es war Sheikh Anwar al-Awlaki, der mich finanziert hat."
    Anwar al-Awlaki wurde 2011 durch einen amerikanischen Drohnenangriff im Jemen getötet. Der charismatische Al-Kaida-Führer widmete sich bis dahin insbesondere der Rekrutierung westlicher Dschihadisten, die er zu Angriffen auf europäische und amerikanische Ziele ermunterte. Unter diesen erklärten Zielen Al Kaidas befand sich auch der Karikaturist von Charlie Hebdo, Charb. Dass al-Awlaki oder ein anderer Al-Kaida-Führer den Kouachi-Brüdern dezidiert den Auftrag für das Attentat auf die Karikaturisten von Charly Hebdo erteilte ist zwar möglich, bleibt aber fraglich. Terrorexperten halten es für wenig plausibel, dass die Kouachi-Brüder so lange nach ihrem Aufenthalt im Jemen erst zur Tat geschritten seien.
    Politologe: "Eine Art kultureller 11. September à la Française"
    Dass sie dort waren, ist unbestritten und jemenitische Sicherheitsbeamte bestätigten es. Said hätte sich bereits 2009 in der "Sanaa Language School" der jemenitischen Hauptstadt zum Arabisch-Studium eingeschrieben. In Sanaa habe er mit dem Ende 2009 als Unterhosenbomber bekannt gewordenen Nigerianer Abdulmutallab eine Wohnung geteilt, berichtet ein jemenitischer Journalist. Gemeinsam hätten die beiden mehrmals für längere Zeit die jemenitische Hauptstadt verlassen. Chérif Kouachi, der jüngere Bruder, sei erst 2011 für ungefähr einen Monat dazu gestoßen. Es wird vermutet, dass die beiden im Jemen militärisches Training durchlaufen haben. Im August 2011 hätten die Brüder den Jemen verlassen, heißt es aus jemenitischen Quellen. Die beiden Verbindungen zu internationalen Terrororganisationen - Al Kaida für die Kouachi-Brüder einerseits, der Islamische Staat für Coulibaly andererseits - zeichnen sich deutlich ab. Das ist bemerkenswert, denn diese beide Organisation sind entschiedene Rivalen, obwohl sie im Grunde ähnliche Ziele verfolgen. Nicht zuletzt, wenn es um den Dschihad in Europa geht.
    Haben sie oder hat einer von beiden die Attentate von Paris in Auftrag gegeben? Gilles Kepel, französischer Politologe und Islamexperte, hält das für unwahrscheinlich:
    "Wir haben eine Art kulturellen 11. September à la Française erlebt, einen 11. September in der Ära des Islamischen Staates nicht in der Ära von Al Kaida. Wir befinden uns nicht mehr in dem pyramidenförmig strukturierten System, in dem Befehle gegeben werden, wo einem die Flugtickets oder Pilotenkurse bezahlt werden. Wir haben heute ein System, in dem die Leute inspiriert werden, entweder im Internet oder anderweitig, zum Beispiel durch Nachahmung. Wir wissen es nicht genau."
    Französische Soldaten patrouillieren am 8.1.15 am Eiffelturm in Paris nach dem Attentat auf "Charlie Hebdo".
    Erhöhte Sicherheitsmaßnahmen: In Frankreich läuft die Debatte um neue Antiterrorgesetze auf Hochtouren. (AFP / Bertrand Guay)
    Es könnte sogar sein, dass die pragmatische Zusammenarbeit von Coulibaly und den Kouachi-Brüdern zeigt, dass es europäischen dschihadistischen Eiferern letztlich egal ist, welch Mentors Schüler sie sind, wenn man nur ein gemeinsames Ziel verfolgt. Mit anderen Worten, dass Al Kaida und der Islamische Staat sich auf dem Schlachtfeld in Syrien bekämpfen, das spielt beim Dschihad auf europäischem Boden keine Rolle mehr. Dies könnte das Schubladendenken unserer Geheimdienste ins Wanken bringen. Möglicherweise war ihre Kollaboration begünstigt weil sich Chérif Kouachi und Coulibaly lange persönlich kannten. Sie hatten sich im Gefängnis von Fleury-Mérogis getroffen und wurden beide von dem dort einsitzenden Dschihadisten Djamal Beghal entscheidend radikalisiert. Als alle drei wieder auf freiem Fuß waren, blieben sie weiterhin in Kontakt. Für den Kleinkriminellen Coulibaly war dieser der Beginn seiner dschihadistischen Laufbahn. Chérif Kouachi hingegen verbindet eine längere Geschichte mit der kriegerischen Ideologie.
    Dschihadismus: Vielschichtige und geopolitisch weit reichende Problematik
    Er fand nach eigenen Angaben 2003 seinen ersten islamistischen Mentor im 19. Arrondissement von Paris. Im Umfeld der Adda'wa-Moschee traf er auf den selbst ernannten Imam Farid Benyettou und stieß so zu einer Gruppe junger Radikal-Islamisten, die sich als "Netzwerk von Buttes-Chaumont" einen Namen machten. Dieser Ring schleuste nach der US-angeführten Invasion 2003 willige Franzosen in den Dschihad im Irak. Chérif selbst wurde auf seinem Weg nach Bagdad aber von französischen Ermittlern aufgegriffen und zu drei Jahren Haft verurteilt. Den "Buttes-Chaumont"-Ring zerschlugen die Behörden offiziell 2005. Doch die terroristischen Aktivitäten einzelner Mitglieder waren damit offensichtlich nicht beendet. Der französische Premierminister Valls räumte nach den Attentaten von Paris Pannen bei der Überwachung und bei der Zusammenarbeit der Geheimdienste ein. Die Erfahrung zeigt, dass es solche Pannen immer gibt. In Paris wird nun über eine Verbesserung der Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz aller Bürger diskutiert. Eine Patentlösung dürfte das nicht bringen. Der Islamexperte Kepel warnt im französischen Fernsehen deshalb vor einer Kriegserklärung à la George Bush:
    "Erinnern wir uns daran, dass die Amerikaner nach dem 11. September im Innern eine Art sicherheitspolitische Wiederbewaffnung begonnen haben. Ich glaube, wir Franzosen erleben eine Art republikanische Aufrüstung und man darf hoffen, dass sie nicht durch parteipolitische Ränkespiele verdreht wird. Dafür hätten meine Landsleute und ich nämlich kaum Verständnis, glaube ich."
    Nicht nur Frankreich, sondern Europa müsse sich der dschihadistischen Herausforderung stellen, fordert Kepel. Eine Herausforderung, die angesichts der vielschichtigen und geopolitisch weit reichenden Problematik noch lange Zeit bestehen wird.