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Frankreich spart sich die pädagogische Ausbildung

Frankreichs Lehrer sind unter Druck. Aus Kostengründen soll es 2011 weniger Stellen geben. Mit den Stellen schwinden auch die Kandidaten. Die Lehrergewerkschaft schiebt das auf die verminderte praktische Ausbildung.

Von Bettina Kaps |
    200 Lehrer veranstalten einen Protestmarsch zum Pariser Bildungsministerium. "Nicht ausgebildete Lehrer, geopferte Schüler", ruft ein Demonstrant ins Megafon. Ein junger Mann hält ein Schild mit der Aufschrift: "Unterrichten ist ein Beruf, den man lernen muss". Pierre-Jean ist erst 23 Jahre alt, hat fünf Jahre Englisch studiert und nach dem Examen das schwierige Auswahlverfahren zum Lehrerberuf bestanden. Jetzt ist er so genannter "Lehrer im Praktikum". Doch Unterrichten hat er nie gelernt.

    "Ich habe drei Stufen: eine sechste, eine siebte und eine achte Klasse. Pro Woche gebe ich 17 Stunden Unterricht. Jetzt habe ich gekündigt, das war sicher voreilig, aber ich war psychisch fix und fertig."

    Auch Julie fühlt sich überfordert. Die 27-Jährige hat einen Master in Geschichte und Geografie. Seit September unterrichtet sie drei elfte Klassen.

    "Es ist meine erste Erfahrung als Lehrerin. Während des Studiums konnte ich kein Praktikum absolvieren, das gehört nicht zum Studiengang. Pädagogik wird nicht einmal als theoretisches Fach angeboten. Es ging nur darum, umfangreiches Wissen in Geschichte und Geografie zu erlangen."

    Gegen ihren Willen ist Julie sogar zur Klassenlehrerin ernannt worden. Zusätzliche Schwierigkeit: Ihr Gymnasium liegt in einer verarmten Banlieue-Siedlung, einer so genannten sensiblen urbanen Zone.

    "Eine Klasse zu leiten, das ist nicht einfach. Autorität als Lehrerin muss ich mir erst aneignen. Natürlich habe ich schon Fehler gemacht und versucht, daraus Schlüsse zu ziehen. Ich probiere herum, wie ich erreichen kann, dass meine Schüler möglichst ruhig bleiben."

    Zusätzlich zum Unterricht hat Julie an einem Tag pro Woche Fortbildung. Da lernt sie dann so nach und nach, was sie eigentlich schon seit September beherrschen sollte: Eine Klasse leiten, den Unterricht gestalten, Klassenarbeiten korrigieren, Schüler benoten.

    Besonders schwer fällt es ihr, abzuschätzen, wie viel Stoff sie in einer Unterrichtsstunde vermitteln kann. Die Junglehrerin fragt sich, ob es ihr überhaupt gelingen wird, das riesige Jahrespensum zu bewältigen.

    "Manchmal bin ich total hilflos. Wie gestern, da waren meine Schüler besonders unruhig. Ich hatte ihnen schon zuvor jede Menge Strafaufgaben gegeben - da konnte ich nicht noch drauf satteln. Nach dem Unterricht bleibt absolut keine Zeit zum Nachdenken. Ich habe so viel Arbeit, dass ich nicht einmal versuchen kann, andere Methoden anzuwenden. Ich fühle mich in die Enge getrieben, das erzeugt große Frustration."

    Eric Charbonnier ist Bildungsreferent der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OECD. In der jüngsten PISA-Studie hat Frankreich genauso bescheidene Ergebnisse erzielt wie Deutschland. Die rein akademische Ausbildung der Lehrer ist seiner Ansicht nach ein Grund dafür. Charbonnier plädiert für eine Reform:

    "Denkbar wäre, dass die Lehramts-Kandidaten während ihres Studiums zwei Jahre lang die Fähigkeit erlernen, Wissen zu vermitteln, damit sie gute Lehrer werden und - das ist ganz wichtig - Freude an ihrem Beruf gewinnen. Heute sind sie kein bisschen auf das vorbereitet, was sie in den Schulen erwartet. Viele lassen sich völlig entmutigen. Das ist auch einer der Gründe dafür, dass das französische Bildungssystem so mittelmäßig abschneidet."

    Die Berufsanfängerin Julie zieht eine DVD aus dem Regal, Titel: "Eine Klasse leiten". Die DVD ist ein Geschenk der Schulakademie an alle Junglehrer. Zu sehen sind kurze Videofilme, in denen erfahrene Lehrer erklären, wie man erfolgreich unterrichtet.

    "Da erklärt uns ein Lehrer, wie er Stille erzeugt: Er geht auf einen Schüler zu und legt zwei Finger auf dessen Tisch. Wenn ich das mache, ernte ich höchstens Gelächter. Zwischen diesen Tipps und der Realität besteht eine solche Diskrepanz, dass sie mir wie ein absurder Scherz vorkommen."

    Viele Junglehrer haben sich jetzt zu einem Protest-Kollektiv zusammengeschlossen. Sie fordern, dass die Reform rückgängig gemacht wird und die Berufsanfänger im ersten Jahr nur ein Drittel ihrer Arbeitszeit unterrichten müssen. In der übrigen Zeit wollen sie ihren Beruf über Fortbildungen und Tutorat erlernen. Doch das Bildungsministerium stellt sich taub.