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Frankreich
Terroristen aus den eigenen Reihen

Die französische Journalistin Anna Erelle veröffentlichte im vergangenen Jahr in Frankreich ein Buch über ihre Recherchen zum Alltag der Dschihadisten an der syrisch-irakischen Front. Seither muss sie um ihr Leben fürchten – und beobachten, wie sich Jugendliche in ihrem Land radikalisieren.

Von Suzanne Krause | 29.04.2015
    Abu Bakr al-Baghdadi, geistiger Führer des Islamischen Staats, mit erhobenem Zeigefinger auf einem Propagandavideo
    Abu Bakr al-Baghdadi, geistiger Führer des Islamischen Staats in einem Propaganda-Video (afp / Screenshot Propagandavideo)
    Anna Erelle hat ein Propaganda-Video der Terror-Organisation Islamischer Staat angeklickt: eine Predigt von IS-Anführer Abu Bakr Al-Baghdadi. Mit dessen rechter Hand, einem Franzosen namens Abu Bilel, stand die junge Reporterin einen Monat lang tagtäglich via Internet in Kontakt. Sie gab sich als 20-Jährige Konvertitin aus, der Terrorist wollte sie als Dschihad-Braut nach Syrien locken. Anna Erelle, so ihr Deckname, nutzte jede Gelegenheit, den immer verliebteren Bilel über den Alltag an der Front auszuhorchen. Da schwärmt ihr Bilel beispielsweise von dem netten Kreis von Freundinnen vor, den sie in Syrien finden werde. Um anzufügen, dass dort alle Mädchen nun als modisches Accessoire einen Sprengstoffgürtel umschnallen. Um sich nötigenfalls selbst in die Luft zu sprengen, erfährt Anna Erelle.
    "Ich berichte seit Langem über die fortschreitende islamistische Radikalisierung. Und angesichts dessen, dass immer mehr junge Franzosen nach Syrien gehen, wollte ich wissen, was da eigentlich los ist. Manche von ihnen kannte ich von meinen Reportagen in der Banlieue."
    Die Journalistin kennt auch Eltern, die sich verzweifelt bei der vor einem Jahr eingerichteten kostenlosen telefonischen Hotline melden. Eine Anlaufstelle speziell für Eltern Minderjähriger, die fürchten, dass sich ihre Kinder der Terror-Organisation Islamischer Staat anschließen. Innerhalb eines Jahres gingen bei der Hotline über 1.500 Notrufe ein. Stetig steigt derzeit auch die Zahl der Franzosen, denen die Ausreise Richtung syrisch-irakischer Front gelang. Der Verfassungsschutz kennt 1.432 Fälle. Ein Viertel mehr als noch vor fünf Monaten. Und die Behörden wissen von 3.000 jungen Menschen, die sich im Land radikalisieren. Bei jedem Zweiten nähme dies gefährliche Formen an. Um potentielle Nachwuchs-Attentäter zu überwachen, bräuchte es 30.000 Ordnungshüter.
    Mit der derzeitigen Rechtslage ist der Pariser Oberstaatsanwalt François Morins zufrieden. Dank eines Gesetzes von letztem November könnten terroristische Einzelkämpfer belangt werden.
    "Unsere materielle Ausstattung hingegen ist unzureichend. Im November 2013 noch belief sich die Zahl der Ermittlungsverfahren auf 26. Heute sind es 127 Verfahren. Zwar wurden unsere Mittel seit vergangenem Februar aufgestockt, aber wir hoffen auf zusätzliche Mittel, die die Regierung im angekündigten Anti-Terrorplan versprochen hat."
    Frankreichs Muslime unter Generalverdacht
    Pierre Conesa reicht all dies nicht aus. 20 Jahre war Conesa als hoher Beamter beim Verteidigungsministerium, er gilt als der französische Terrorismus-Experte.
    "Heute verfügt Frankreich keineswegs über eine Politik gegen die Radikalisierung, sondern lediglich über eine Polizeipolitik. Man bittet Eltern, mitzuteilen, wenn ihre Kinder sich radikalisieren. Um diesen dann den Pass abzunehmen, sie Sozialarbeitern und Psychologen zu übergeben. Aber insgesamt mangelt es an klaren politischen Aussagen."
    Conesa moniert, dass es im laizistischen Frankreich kein Politiker wage, die hier aktiven Dschihadisten klar zu benennen, der Begriff "Salafist" sei im Land bislang tabu. Ohne diese Klarstellung aber blieben die einheimischen Muslime weiterhin unter Generalverdacht. Auch Anna Erelle, die den Terroristen Bilel ausspionierte, ist unzufrieden mit den aktuellen Maßnahmen gegen die zunehmende Radikalisierung von Jugendlichen.
    "Vor einem Jahr, genau als ich im Undercover-Einsatz war, verkündete Innenminister Bernard Cazeneuve seinen Anti-Radikalisierungsplan. Ein Jahr später reisen mehr Jugendliche denn je nach Syrien. Es liegt mir fern, die Regierung zu kritisieren. Ich weiß, dass der Geheimdienst alles tut, die Dschihadisten-Netzwerke zu enttarnen. Doch angesichts eines Phänomens von bislang unbekanntem Ausmaß muss man mit bislang unbekanntem Aufwand agieren."