
Innerhalb von zwei Wochen wurde aus der renommierten Jura-Professorin Frauke Brosius-Gersdorf eine linke Aktivistin. Die SPD wollte sie als Verfassungsrichterin. Doch schließlich erschien Brosius-Gersdorf für Teile der Unionsfraktion im Bundestag unwählbar. Die für den 11. Juli 2025 im Bundestag angesetzte Richterwahl für das Bundesverfassungsgericht wurde kurzfristig abgesetzt.
Angestoßen wurde die massive Kritik an der Juristin von rechten Online-Plattformen, verbreitete sich über soziale Netzwerke und wurde dann von einigen großen konservativen Tageszeitungen aufgegriffen. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Matthias Miersch wirft der Union deshalb vor, einer „Schmutzkampagne“ nachgegeben zu haben – und auch ein politischer Thinktank kommt zu dem Schluss, dass es sich um eine Kampagne gegen Brosius-Gersdorf gehandelt habe.
Wie verbreitete sich die Kritik an Frauke Brosius-Gersdorf?
Der Thinktank Polisphere hat in einer Social-Media-Analyse Zehntausende Posts auf der Plattform X ausgewertet. Geschäftsführer Philipp Sälhoff spricht auf Linkedin von einer Kampagne gegen die Juristin. „Es war ein schmerzhafter Sieg der rechten Netzwerke aus "Alternativmedien", Influencern und ihren politischen Verbündeten, der AfD“, schreibt er. „Innerhalb weniger Tage wurde eine Kampagne durchgeführt, die ihren erfolgreichen Abschluss im Plenarsaal des Bundestags fand.“
Der Polisphere-Analyse zufolge begann die Kampagne gegen die Rechtsprofessorin am 1. Juli mit einem Artikel beim rechtslibertären Alternativmedium Apollo News, der lauter Kulturkampf-Themen anbot: etwa dass Brosius-Gersdorf während der Pandemie eine Impfpflicht befürwortete, dass sie eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen unterstützt – und dass sie, sollte sie Verfassungsrichterin werden, in dieser Position die AfD verbieten werde.
Rechtspopulistische Medien griffen das Thema auf und verstärkten so die Aufmerksamkeit: Allein NIUS veröffentlichte der Analyse zufolge 20 Artikel innerhalb von zehn Tagen. Der Fokus, der zunächst auf einem möglichen AfD-Verbot lag, verschob sich später zum Thema Schwangerschaftsabbruch. In den letzten 24 Stunden kamen auch noch Plagiatsvorwürfe hinzu, von denen sich der „Plagiatsjäger“ Stefan Weber allerdings schnell distanzierte und schrieb, die Sichtweise, er habe Plagiatsvorwürfe erhoben, sei falsch.
Auf Social Media verbreiteten sich neben den Artikeln der Alternativmedien laut der Polisphere-Auswertung außerdem KI-generierte Inhalte, die Brosius-Gersdorf als linke Aktivistin darstellten. AfD-Politiker riefen dazu auf, an CDU-Bundestagsabgeordnete zu schreiben, dass die Juristin unwählbar sei. Schließlich gab es eine Petition gegen Brosius-Gersdorf. Und am Ende griffen auch seriöse Medien die Vorwürfe gegen Frauke Brosius-Gersdorf auf.
Selbst Unwahrheiten schafften es in den Bundestag: Die AfD-Politikerin Beatrix von Storch behauptete in einer Frage an den Bundeskanzler, Brosius-Gersdorf habe gesagt, dass einem neun Monate alten Fötus zwei Minuten vor der Geburt keine Menschenwürde zukomme – und legte so nahe, die Juristin wolle Abtreibungen zu diesem Zeitpunkt freigeben.
Die Rechtsprofessorin Brosius-Gersdorf selbst nennt es diffamierend und realitätsfern, wenn sie als „ultralinks“ oder „linksradikal“ eingeordnet werde. Vor allem die Behauptung, sie habe sich für eine Freigabe des Schwangerschaftsabbruch bis kurz vor Geburt eingesetzt, weist sie scharf zurück und bezeichnet dies als verunglimpfend.
Hat die Verbreitung der Vorwürfe die Richterwahl platzen lassen?
Es handele sich „um einen medialen und politischen Erfolg für die Neue Rechte“, sagt die Deutschlandfunk-Journalistin Christiane Florin, die seit Längerem deren Strategie beobachtet. Diese bestehe darin, „demokratische Institutionen zu sabotieren, einen permanenten Ausnahmezustand herbeizureden und den Eindruck zu erzeugen, nur eine rechte Partei könne das Volk aus diesem Chaos retten“.
Der Erfolg für die Neue Rechte besteht demnach darin, dass Falschbehauptungen, Halbwahrheiten und Gerüchte die Sphäre der sogenannten alternativen Medien verlassen und Bundestagsabgeordnete der CDU beeinflusst haben, sodass die Abstimmung über die Verfassungsrichter nicht stattfinden konnte. Die Neue Rechte arbeitet seit vielen Jahren an der Entgrenzung, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und den USA.
Eines der Hauptthemen in diesem Entgrenzungskampf ist der Widerstand gegen feministische Politik und vor allem gegen die Liberalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Mit der kurzfristig verschobenen Richterwahl zeigt sich, dass der Kampf gegen Abtreibungen nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland Mobilisierungspotenzial aufweist.
Auch für die AfD ist die Verschiebung der Richterwahl nach Einschätzung von Christiane Florin ein großer Erfolg: Mit Bundestag, Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht seien gleich drei Institutionen beschädigt worden.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat eine andere Perspektive. Er wurde im ARD-Sommerinterview auf den Einfluss rechter Netzwerke auf die gescheiterte Richterabstimmung angesprochen, wies das jedoch als Verschwörungserzählung zurück: „Ich habe gehört, dass auf Social Media alle möglichen Theorien bis hin zu Verschwörungstheorien verbreitet worden sind“, sagte Merz. „Das ist hier keine rechte Verschwörung. Jedenfalls sind wir nicht Teil davon, wenn sie überhaupt stattgefunden hat.“
Tatsächlich existiert eine weltweite Allianz zwischen Rechtspopulisten, Rechtsextremen und der religiösen Rechten: Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass es diese Netzwerke gibt, im Sinne einer weltweiten Bewegung mit Geld und einer politischen Mission gegen die liberale Demokratie. „Es geht nicht allein darum, ob Jens Spahn und der Kanzler die Fraktion im Griff haben, sondern es geht um eine politische Tiefenbewegung“, betont Christiane Florin.
Wofür steht die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf tatsächlich?
Frauke Brosius-Gersdorf ist Professorin an der Universität Potsdam. Dort hat die 54-jährige Hamburgerin einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Verfassungsrecht und Sozialrecht, inne. Sie wurde zwar von der SPD für die Verfassungsrichterwahl nominiert, „aber wer sich eine linientreue SPD-Juristin vorstellt, liegt ganz falsch“, sagt der Jurist und Journalist Ronen Steinke. „Sie ist ein unabhängiger Geist.“
Die Rechtswissenschaftlerin sei liberal in dem Sinne, dass sie sich für eine Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ausspricht. Als Mitglied einer Expertenkommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin verfasste Brosius-Gersdorf 2024 eine juristische Einschätzung zur Neuregelung von Schwangerschaftsabbrüchen. In ihrem Gutachten ging es darum, wie die Rechte des ungeborenen Lebens und die Rechte der Mutter miteinander abzuwägen sind.
Auch sonst ist Brosius-Gersdorf gesellschaftspolitisch progressiv: So ist sie etwa für Frauenquoten in Parlamenten offen, die andere Verfassungsrechtler für zu weitgehend halten. In wirtschaftspolitischen Fragen wiederum ist sie keine klassische Linke, steht den Gewerkschaften eher nüchtern gegenüber, schreibt das Grundrecht auf Privateigentum groß, und hat sich auch schon für die Rente mit 70 ausgesprochen. Auch für die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung hat sie bereits wissenschaftliche Gutachten geschrieben. Vom Plan der ehemaligen SPD-Innenministerin Nancy Faeser, das rechte Monatsmagazin „Compact“ zu verbieten, hielt Brosius-Gersdorf wenig, so Ronen Steinke.
jfr