Kommentar zur Verfassungsrichterwahl
Falschbehauptungen und Gerüchte

Mit Falschbehauptungen wurde die Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf zur linken Aktivistin stilisiert. Die Kampagne zeigt, dass die Union Kompromisse diesseits der Brandmauer suchen muss, statt auf eine angebliche rechte Mehrheit zu setzen.

Ein Kommentar von Patrick Bahners |
Die Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf von der Universität Potsdam spricht in der Bundespressekonferenz zum Abschlussbericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin.
Eine klassische Linke? Die Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf will Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisieren, befürwortet aber auch die Rente mit 70. (picture alliance / Metodi Popow / M. Popow)
Wenn die AfD nicht im Bundestag säße, hätte es vielleicht in der SPD-Fraktion einen Aufstand gegen Frauke Brosius-Gersdorf gegeben. Die von der SPD als Richterin des Bundesverfassungsgerichts nominierte Rechtsprofessorin hat nämlich schon einmal die Rente mit 70 befürwortet und ist eine Freundin der Privatschulen. Klassische linke Positionen sind das nicht.
Von diesen Positionen war allerdings nicht die Rede, als die Öffentlichkeit jetzt zwei Wochen lang über die Eignung der Professorin aus Potsdam für Karlsruhe diskutiert hat. Das Ergebnis der Diskussion ist, dass ihre Wahl und gleichzeitig auch die der anderen beiden Vorgeschlagenen geplatzt ist.

Nicht so links wie behauptet

Das Bundesverfassungsgericht hat sechzehn Richterinnen und Richter. Eine freie Stelle kommt hier selten allein. Dass bei mehreren Neubesetzungen ein Kompromiss gefunden wird, ist guter Brauch und außerdem eine Notwendigkeit, weil eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Jetzt ist es plötzlich ungewiss geworden, ob die schwarz-rote Regierung zu einem solchen Kompromiss fähig ist.
Eine linke Richterin ist verhindert worden – die zu wesentlichen Teilen eine rechte Erfindung war. Zur woken Aktivistin, die Gendergleichheit erzwingen wolle, konnte Brosius-Gersdorf nur stilisiert werden, weil man die Sachfragen unterschlagen hat, in denen sie entschieden für Wahlfreiheit und individuelle Vorsorge eintritt.

Die Union und die angebliche rechte Mehrheit

Seit die AfD im Bundestag sitzt, kann die Union nur regieren, wenn sie mit der SPD und/oder den Grünen koaliert. Ein erheblicher Teil der Funktionäre und Anhänger der Unionsparteien ist darüber unglücklich. Sie sind empfänglich für die Parole, es gebe in der Politik und Gesellschaft eine rechte Mehrheit, die nur leider zur Untätigkeit verurteilt sei, wegen des Ausschlusses der AfD.
In der publizistischen Werbung für diese angebliche latente rechte Mehrheit wird sie gewöhnlich als bürgerlich bezeichnet. Die Brandmauer dient in dieser Sicht der Zementierung einer unnatürlichen linken Hegemonie.
Was man über die Ansichten von Brosius-Gersdorf lesen konnte, musste den Verdacht nähren, die Sozialdemokraten wollten ihre Niederlage in der Bundestagswahl nicht akzeptieren, sie seien offenbar verrückt geworden, linke Spinner eben, vor denen Friedrich Merz doch noch im Wahlkampf gewarnt hatte.
Gleichzeitig ist es für Unionspolitiker viel leichter, das Wertefundament des Grundgesetzes durch Festhalten an einer formelhaften Auslegung der Menschenwürde zu verteidigen, als ein Gesetz zum besseren Schutz von ungeborenem Leben vorzuschlagen, das Aussicht auf eine Mehrheit hätte.

Kampagne mit Falschbehauptungen

Gleichwohl hatte die Kampagne nur deshalb Erfolg, weil auch mit Falschbehauptungen gearbeitet wurde. Es ist unwahr, dass Brosius-Gersdorf Abtreibungen bis zwei Minuten vor der Geburt freigeben möchte. Aber der Bundeskanzler ließ im Bundestag diese Insinuation der AfD-Abgeordneten Beatrix von Storch ohne Widerspruch stehen. Und auch die SPD-Führung ließ die Kandidatin im Stich, die sie ins Rennen und ins Feuer geschickt hatte. Lars Klingbeil und die SPD-Rechtspolitiker erklärten der Öffentlichkeit nicht, was sie sich vom juristischen Scharfsinn in der besonders unbequemen Spielart von Frauke Brosius-Gersdorf in den Karlsruher Beratungen versprechen.
So beherrschte das Gerücht die Diskussion, und es war geradezu folgerichtig, dass die Mitteilung eines sogenannten Plagiatsjägers, der in Österreich kürzlich wegen übler Nachrede verurteilt wurde, das vorläufige böse Ende der Angelegenheit herbeiführte.
Ein Parlament mit fast einem Drittel AfD bedeutet: Die Verfassungsparteien müssen zusammenstehen und sich zusammenfinden. Die Vorstellung, eine rechte Mehrheit von Union und AfD würde zumindest wieder klare Verhältnisse schaffen, ist so unrealistisch wie gefährlich. Menschen und komplexe Sachverhalte - das zeigt diese gescheiterte Wahl - lassen sich nicht einfach in Links und Rechts sortieren.