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"Freiwillige Appelle oder Pakte reichen offensichtlich nicht aus"

Im Zusammenhang mit der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zur neuen gesellschaftlichen Unterschicht hat das SPD-Vorstandsmitglied Engelen-Kefer die Hartz-IV-Regelungen kritisiert. Sie hätten dazu beigetragen, die Armut zu vergrößern. Nun müssten vor allem die Unternehmen stärker in die Verantwortung genommen werden, um benachteiligte Jugendliche wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, sagte die frühere stellvertretende DGB-Vorsitzende.

Moderation: Doris Simon | 16.10.2006
    Doris Simon: Acht Prozent der Bundesbürger, 6,5 Millionen Menschen, gehören zu einer neuen gesellschaftlichen Unterschicht. Bildungsgrad einfach, berufliche Mobilität gering, Aufstiegswillen wenig ausgeprägt. Das ist der Befund einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. In den neuen Bundesländern gehört danach jeder 5. dieser neuen Unterschicht an, in den alten Bundesländern jeder 25. Zwei Drittel dieser Menschen sind arbeitslos, ihr Haushaltseinkommen ist niedrig, kaum Wohneigentum, keine finanziellen Rücklagen, oft Schulden und nur wenig Rückhalt in der Familie und sie fühlen sich als Verlierer und vom Staat allein gelassen. - Am Telefon ist nun Ursula Engelen-Kefer, Mitglied im Vorstand der SPD und im DGB viele Jahre lang stellvertretende Vorsitzende. Guten Morgen!

    Ursula Engelen-Kefer: Guten Morgen Frau Simon!

    Simon: Frau Engelen-Kefer, diese neue Unterschicht in Deutschland, die die Friedrich-Ebert-Stiftung so feststellt, ist das eine unvermeidbare Entwicklung in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten?

    Engelen-Kefer: Nein. Ich glaube da ist eine ganze Menge hausgemacht und deshalb halte ich dies doch für ein Alarmsignal an die Politik und gerade auch an die Politik einer Großen Koalition, die ja die Mehrheiten hätte, um hier wirklich zu ändern.

    Simon: Hausgemacht, was meinen Sie damit?

    Engelen-Kefer: Ich meine damit zum Beispiel diese künstliche Ausweitung der geringfügigen Arbeitsverhältnisse, dieser so genannten 400-Euro-Jobs. Ich meine aber auch damit Hartz IV und die 1-Euro-Jobs, die damit verbunden sind. Da gibt es aber auch noch andere Dinge, zum Beispiel diese doch sehr starke Ausweitung der Ich-AGs, die allerdings jetzt ja gesetzlich zurückgedrängt wurde. Das alles hat dazu beigetragen, die Niedriglohnsektoren und die Armut auszuweiten.

    Simon: Das ist der Aspekt Armut und Wirtschaft, aber liegt das Problem nicht auch, wenn man das, was über die Studie bis jetzt bekannt ist, anschaut, darin, dass diese Schicht vor allem auch sehr weit weg von Bildung zu sein scheint?

    Engelen-Kefer: Das ist ein weiteres Problem. Wir haben ja verschiedene Pisa-Studien gehabt und da gab es erst mal eine große öffentliche Empörung. Leider ist das dann nicht entsprechend umgesetzt worden in Veränderungen. So richtig es ist zu sagen, wir müssen Hochschulen fördern, wir müssen Eliteuniversitäten fördern, so notwendig wäre es, viel mehr zu tun zur Eingliederung der Kinder und Jugendlichen aus den so genannten benachteiligten Elternhäusern. Das können solche mit Migrationshintergrund sein. Das sind aber durchaus auch deutsche Elternhäuser, die sehr bildungsfern sind.

    Simon: Ihr Parteivorsitzender Kurt Beck will ja nun einen Bildungsaufbruch initiieren. Das Ziel ist es, Kindern eben aus der Unterschicht den Aufstieg zu ermöglichen. Da meint er zum Beispiel beitragsfreie Kindergärten, aber auch Ganztagsschulen. Fragt man sich nur, wenn man da ansetzt, das heißt doch: die ganze Generation derjenigen, die jetzt über drei Jahre alt sind, in diesem Milieu ist verloren?

    Engelen-Kefer: Man muss beides tun. Man muss natürlich jetzt vorbeugen und es wäre schön, wenn dies endlich umgesetzt würde. Das ist ja leider sehr unterschiedlich von Bundesland zu Bundesland. Das andere ist: Wir müssen uns natürlich auch um diejenigen kümmern, die jetzt draußen sind. Es ist eine Katastrophe, was teilweise passiert mit Hauptschulabgängern, die noch nicht einmal einen Abschluss haben. Das sind doch die Langzeitarbeitslosen von morgen. Also wir müssen hier eine breitere Palette von Maßnahmen anwenden, aber eben auch die Vorbeugung.

    Simon: Sie sprechen die Hauptschulabsolventen ohne Abschluss an. Heute kommt ja auch der Lenkungsausschuss Ausbildungsplätze zusammen. In diesem Jahr ist das Problem so gravierend wie nie. 50.000 Jugendliche sind immer noch nicht vermittelt. Man kann die Betriebe nicht zwingen auszubilden. Frage: Müsste es mehr überbetriebliche Ausbildung geben gerade für solche Jugendliche?

    Engelen-Kefer: Wir tun ja schon was wir können bis zum Übermaß an Fördermaßnahmen. Natürlich ist es besser, einem Jugendlichen eine überbetriebliche Ausbildung anzubieten als gar keine, aber ich glaube man muss hier auch die Wirtschaft stärker in die Verantwortung einbeziehen. Freiwillige Appelle oder Pakte reichen offensichtlich nicht aus. Das scheint ja ziemlich klar zu sein. Hier muss auch eine finanzielle Umfinanzierung her. Es gibt ja einzelne Branchen, die haben das hervorragend vorgemacht, auch über Tarifverträge hier einen finanziellen Ausgleich zu schaffen zwischen Betrieben, die ausbilden und anderen die nicht ausbilden. Das müsste auf breiter Basis eingeführt werden und dann wäre es vielleicht etwas besser, dass die Wirtschaft ihrer Ausbildungsverpflichtung auch nachkommt.

    Simon: Ja, aber die finanziellen Abgaben haben auch zum Beispiel beim Thema Behinderte nie dazu geführt, dass wirklich mehr Leute aus den bestimmten Gruppen eingestellt wurden. Das kann es allein nicht sein.

    Engelen-Kefer: Wenn Sie beispielsweise sehen, dass es einige hervorragende Ausbildungseinrichtungen gibt, die gar nicht ausreichend genutzt werden, weil es sich für die einzelnen Betriebe nicht rechnet, dann wäre es glaube ich hilfreich, wenn man sicherstellen würde, dass auch Jugendliche, die ansonsten keine Ausbildungschance haben, hier eine Möglichkeit hätten, denn das ist ja auch ein Erfahrungstatbestand. Ein Jugendlicher, der eine Ausbildung, eine abgeschlossene, anerkannte Ausbildung hat, kommt eher unter als ein Jugendlicher, der keine hat. Das muss organisiert werden, wenn nötig auch mit finanziellem Druck.

    Simon: Es gibt aber zunehmend auch Jugendliche mit Abschlüssen, Realschulabschluss, Hauptschulabschluss, die auch keine Lehrstelle bekommen. Das kommt auch daher, dass immer mehr Abiturienten und Jugendliche mit Fachhochschulreife in Lehrstellen drängen. Ist das ein Wettbewerb, bei dem die Politik irgendetwas aufhalten kann?

    Engelen-Kefer: Ja nun, das ganze hängt eben davon ab oder hängt damit zusammen, dass wir insgesamt zu wenig Arbeits- und Ausbildungsplätze haben. Bei der Ausbildung könnte sicherlich noch etwas mehr getan werden, bei den Arbeitsplätzen ebenfalls. Hier muss aber auch eine politische Initiative her. Ich halte zum Beispiel einen wichtigen Schlüssel für mehr Beschäftigung in einer gerechteren Steuerpolitik. Hier ist in den vergangenen Jahren viel versäumt worden. Gerade diejenigen Unternehmen mit den großen Gewinnen und großen Erträgen sind ja am ehesten in der Lage, sich der Besteuerung in Deutschland zu entziehen, zum Teil völlig legal. Da sind Gesetzeslöcher. Die müssen endlich geschlossen werden. Dann haben die Kommunen auch mehr finanzielle Mittel, um die Zukunftsinvestitionen in Kinderbetreuung, in Bildung, in Altenbetreuung anzubieten, und das würde Arbeitsplätze schaffen und gleichzeitig gesellschaftliche Probleme reduzieren.

    Simon: Frau Engelen-Kefer, wenn wir uns noch mal die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zu dieser so genannten neuen Unterschicht anschauen. Das ist ja eigentlich klassisches Wählerklientel der SPD. Hat die SPD da nicht nur in den vergangenen Jahren, vielleicht auch vergangenen Jahrzehnten auch versäumt, sich um diese Klientel zu kümmern, die Gewerkschaften auch?

    Engelen-Kefer: Ja. Es hat ja mal einen Aufbruch gegeben in den 70er Jahren. Da waren es echte Reformen, die eben auch basierten auf einer verbesserten Bildung gerade derjenigen aus den benachteiligteren Schichten. Das ist dann im weiteren Verlaufe immer mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Wir haben mal wieder alles perfekt gemacht, wie wir das leider ja so häufig tun. So wie wir damals den Sozialstaat wirklich gut aufgebaut haben sind wir jetzt dabei, den Kräften hinterherzulaufen, die ihn zerstören wollen aus ganz vordergründigen Interessen.

    Simon: Auch Ihre eigene Partei?

    Engelen-Kefer: Das gilt für alle Parteien. Das gilt für alle gesellschaftlichen Gruppen, dass sie nicht genügend dafür gesorgt haben. Ich brauche mir da wohl kaum Vorwürfe zu machen, denn in den Gewerkschaften haben wir ja nun sehr davor gewarnt, dass gerade Hartz IV zu mehr Verarmung führen würde, und haben Vorschläge gemacht, wie man es besser machen kann. Das muss jetzt endlich umgesetzt werden.

    Simon: Wenn man auf die Menschen schaut. Der Parteivorsitzende der SPD Kurt Beck hat ja noch vor Erscheinen dieser Studie kritisiert, es fehle vielen Menschen wohl auch in dieser Unterschicht am Aufstiegswillen. Sie würden sich zu einfach fügen in ihr Leben. Hat er da nicht einen Punkt getroffen?

    Engelen-Kefer: Er hat einen Punkt getroffen, der durchaus berechtigt ist, der auch Anlass sein muss zum politischen Handeln. Aber man muss ja immer fragen, woran das liegt. Natürlich brauchen wir eine Wertedebatte, die bis in die Familien hinein geht, die in die Unternehmen hinein geht. Es ist doch empörend, was sich auf den Spitzenetagen einiger großer Konzerne abspielt wie Siemens, BenQ, Airbus, AEG in Nürnberg. Ich könnte die Latte weiter fortführen. Auf der anderen Seite wird praktisch nichts getan, um hier die Kinder mit benachteiligten Hintergründen stärker heranzubringen oder eben eine Ganztagsbetreuung für alle Kinder auch unter drei Jahren anzubieten. Da haben wir uns doch alle auch die Hacken abgelaufen, dass das nötig ist. Es muss nur endlich umgesetzt werden und eine Große Koalition hätte ja dazu die Mehrheiten.