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Freundliche Viren

Viren lösen normalerweise Krankheiten aus und haben für den Wirt keinerlei Nutzen. Doch nach Forschungen des englischen Biologen Frank Ryan ist dies nicht zwangsläufig: Denn manche Viren bauen ihre Erbinformation in das Erbgut des Wirtes ein und helfen so bei der Evolution.

Von Michael Lange | 23.07.2012
    Als 2001 das menschliche Erbgut im Detail bekannt wurde, hielt der Datensatz für die Wissenschaftler viele Überraschungen bereit. Besonders erstaunte sie die kleine Zahl der menschlichen Gene. Sie machten nur 1,5 Prozent der Erbinformation aus. Vieles schien sinnloser Ballast – und etwa zehn Prozent der Erbinformation erinnerte an Viren. Für den englischen Biologen Frank Ryan von der Universität Sheffield war das keine Überraschung.

    "Große Bereiche des menschlichen Genoms scheinen von virusartigen Strukturen besetzt zu sein. Es handelt sich um Retroviren. Sie ähneln dem Aids-Erreger HIV. Viele davon haben sich in unsere Chromosomen eingebaut."

    Wie die virusartigen Informationen in den Menschen gelangten, ist ein ungelöstes Rätsel. Frank Ryan hat dazu eine Theorie entwickelt.

    Wahrscheinlich kam es bei unseren Vorfahren immer wieder zu Epidemien, ausgelöst von Retroviren. Und diese Viren verursachten nicht nur Krankheiten. Sie gelangten in Eizellen oder Samenzellen – und übernahmen Aufgaben, die die ursprünglichen Gene unserer Vorfahren nicht erledigen konnten.

    Lebenswichtig ist die virale Erbinformation zum Beispiel in bestimmten Zellschichten der Plazenta, dem Mutterkuchen. Die Plazenta wird vom Fötus gebildet. Das Immunsystem der Schwangeren und das des Fötus treffen hier aufeinander. Da es sich um zwei verschiedene Individuen handelt, könnte das zu gefährlichen Abstoßungsreaktionen führen. Aber es passiert nichts, denn das Immunsystem der Mutter wird getäuscht und erkennt den Fötus nicht als fremd. Verantwortlich dafür sind virusartige Erbinformationen im Fötus.

    "Viren spielen mit unserem Immunsystem herum. Sie manipulieren es, sie tricksen es aus. Und genau das beobachten wir in unserem eigenen Körper. Hier wirken Viren, die in unseren Chromosomen sitzen."

    Die Viren sind zu einem Teil des Menschen geworden. Aber sie waren nicht immer freundlich. Angefangen hat es aggressiv. Das Virus befällt den Wirt, als Parasit. Aber dann tun sich Virus und Wirt zusammen, sie verschmelzen zu einer neuen Einheit. Mehr Gemeinsamkeit geht nicht. Frank Ryan fand dafür den Begriff "aggressive Symbiose".

    "Das Virus-Genom tut sich mit dem menschlichen Erbgut zusammen. Zwei absolut unterschiedliche Lebensformen bilden eine Einheit, deren Evolution fortan gemeinsam verläuft. Die einzelnen Lebensformen sind nicht mehr der Selektion ausgesetzt, sondern nur noch die gemeinsame Einheit: der Holobiont. In ihm werden zwei Evolutions-Linien zusammen geführt."

    Aber nicht nur der Mensch ist ohne seine inneren Viren nicht lebensfähig. Im Erbgut vieler Tier- und Pflanzenarten finden sich ähnliche Virusstrukturen. Frank Ryan ist überzeugt, dass seine Theorie, die er Virolution nennt, noch ganz am Anfang steht. Vieles muss noch erforscht werden.

    "Was wir beim Menschen entdeckt haben, gilt für viele Säugetiere – und höchst wahrscheinlich für die meisten Lebewesen. Das ist eine wichtige Sache für die ganze Biologie."